Schwarz-weißer Regen in einer schwarz-weißen Stadt

Bewohner von Leydik (Bild: Roland R. Maxwell)

Der Regen prasselte gegen das Fenster des Zuges, ich lehnte meinen Kopf gegen die kühle Scheibe. Es war ein beruhigendes Geräusch, welches mich, in Kombination mit dem Rattern und Schaukeln des Zuges, völlig entspannte. Ich musste nur aufpassen, dass ich nicht eindöste und meine Haltestelle verpasste.
Ich schaute auf mein weniges Handgepäck: Eine Tageszeitung von vor drei Jahren, auf der Titelseite sprang mir die fettgeschriebene Überschrift gleich ins Auge (Stadt aus dem Nichts!). Das Foto zeigte einen älteren Herrn mit Bart und Gehrock, auf dem Kopf trug er ein Barret, sein linkes Auge wurde durch ein sechseckiges Monokel verziert. Des Weiteren hatte ich einen kleinen, brauen Lederkoffer bei mir. Darin enthalten waren: ein einfacher Revolver mit sechs Kugeln, von denen ich höchstwahrscheinlich nur eine brauchen würde und eine Postkarte, die mein Ziel abbildete.
Ich öffnete den Koffer und schaute mir das Bild noch einmal genauer an, nur um auf Nummer sicherzugehen. Auf der Karte war eine schwarz-weiße Stadt abgebildet, die sich zeitlich nicht wirklich einordnen ließ. Sie besaß sowohl einen modernen Anstrich als auch Elemente aus der Zeit der Industrialisierung. Mir fiel kein anderes Wort als ›zeitlos‹ ein. Als hätten zwei Epochen in einem wilden Liebesspiel ein Mischmaschkind gezeugt. Ich sah eine Brücke, einen Park mit Bäumen und mehrere Häuser, wahrscheinlich Regierungsgebäude oder Kirchen oder Wohnblöcke. Menschen hingegen waren keine zu sehen. Über der Stadt hing das seltsamste Element des Gemäldes: gelb-schwarze Betonblöcke, aufgereiht in Reih und Glied, aus denen schwarz-weißer Regen strömte.
Ich drehte die Karte um, dort stand mit einem schwarzen Filzstift geschrieben: ›Leydik – schwarz-weißer Regen in einer schwarz-weißen Stadt‹, gemalt von Jakob Theodor von Nigreosalbum. Mir war bekannt, dass das nicht sein richtiger Name war, doch seinen bürgerlichen kannte niemand. Vielleicht nicht mal er selbst.
Ich steckte die Karte ebenso wie die Zeitung zurück in den Koffer. Es gab keine Durchsage für die nächste Haltestelle, sie wurde nicht angekündigt. Der Ort stand schon lange nicht mehr auf dem Fahrplan, trotzdem wird der Zug anhalten.
Ich erhob mich aus meinem Sitz, verließ die 1. Klasse und begab mich zu den Türen. Als ich an einem Spiegel vorbeikam, begutachtete ich mich. Ich trug einen schwarzen Hut wie auch einen schwarzen Mantel, ein weißes Hemd, eine rote Krawatte und eine schwarze Anzugshose. Meine Augen waren blass und müde, die Falten im Gesicht wurden von Tag zu Tag mehr. Ein stoppeliger Bart rundete das ungepflegte Aussehen noch ab. Wie ich so dastand, hätte ich auch aus einem Noir-Film entflohen sein können.
Der Zug hielt an und ich stieg als Einziger aus. Es regnete. Die Türen schlossen sich wieder und der Zug raste davon. Nun war ich allein, auf dem Bahnhof befand sich keine Menschenseele. Die einzigen Geräusche waren mein Atem und der Regen, der auf den Boden prasselte.
Willkommen in Leydik, der Stadt aus dem Nichts, wo die Farben verbannt wurden und der Regen nie aufhörte.
Mit schnellen Schritten verließ ich den Bahnhof und gelangte zu einer Brücke, darunter befand sich ein Fluss, der wie aus Tinte zu bestehen schien. An dem steinernen Geländer stand eine einsame Gestalt, was ich sehr seltsam fand. Laut den Dokumenten, die man mir überreicht hatte, sollte dieser Ort eine Geisterstadt sein. Keine Bewohner, mit Ausnahme von einer einzigen Person.
Ich näherte mich der Gestalt, der Regen ließ sie verschwommen erscheinen. Ich stellte mich neben ihr und fragte: »Entschuldigung?«
Sie drehte ihren Kopf zu mir und sofort machte ich einen Satz nach hinten. Leicht wackelnde schwarze Löcher wie von Bleistiften gezeichnet, starrten mich an. Das Gesicht war, als hätten es Kinderhände gemalt, ohne irgendwelche Details wie Nase, Ohren und Haare. Als die Gestalt zu sprechen begann, erschien einfach nur aus dem Nichts ein flacher, schwarzer Kreis, der aufploppte und wieder verschwand. Aus dem zweidimensionalen Loch drangen nur unverständliche Laute, wie die Geräusche von verstimmten Geigen, Klavieren und Trompeten. Die Kleidung der Gestalt war wie von Wasserfarben gemalt, ein schwarzer Strich ohne Gliedmaßen.
»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht stören«, murmelte ich und ging die Straße mit zügigen Schritten hoch. Niemand hatte mir was davon erzählt.
Ich kam in eine Art Marktviertel an, ich sah Stände und Restaurants, Kleidungsgeschäfte und Schneider, Fleischer und Gemüsehändler. Alles sah so echt aus, doch sobald man näher kam, zerbrach die Illusion. Die Fassaden waren wirklich nur Fassaden. Die Stände waren nur Bleistiftskizzen, das angebotene Gemüse, der Fisch und das Fleisch hatten keine Tiefe.
Der Regen hatte mich völlig durchnässt. Ich betrachtete mich selbst in einer Pfütze. Meine Krawatte hatte ihr kräftiges Rot verloren, der Koffer war auch nur noch schwarz-weiß.
Ich atmete tief ein und holte mir wieder mein Ziel vor Augen. Jakob Theodor von Nigreosalbum. Er musste sterben. So lautete mein Auftrag.
Das Dossier offenbarte nicht viel über ihn. Sein Alter wurde auf über sechzig Jahre geschätzt, jüdischer Herkunft, geboren in einem namenlosen Ghetto. Kam wahrscheinlich aus ärmlichen Verhältnissen, verdiente sich als Auftragsmaler und Straßenkünstler, schrieb sich in die Kunstakademie unter falschen Namen ein. Wechselte danach seinen Wohnort genauso häufig wie seine Identität. Wurde später unter dem Namen ›Jakob Theodor von Nigreosalbum‹ weltberühmt. Seine Gemälde waren von surrealistischer, absurder, nihilistischer und bedrückender Natur. Erschuf vor drei Jahren die Stadt Leydik, ein Ort, der jeglichen Regeln und Gesetzen widersprach. Das war es auch schon mit den verfügbaren Informationen.
Ich wandte meinen Blick gen Norden, dort erhob sich der Regierungspalast in den Himmel, ein schlossartiges Gebäude im neoklassizistischen Stil. Große Säulen zierten den Eingang, auf dem Dach versammelten sich Statuen von Kriegern und antiken Göttern. Doch ihnen fehlten Details. Bei näherer Betrachtung wirkte das Schloss verwaschen, unfertig, so als wäre es nie als Mittelpunkt der Stadt gedacht gewesen, sondern nur als Hintergrunddekoration auf die niemand wirklich achten würde.
Ich begab mich schnellen Schrittes dorthin, der Regen peitschte mir ins Gesicht. Auf dem großen Platz vor dem Palast tummelten sich einige der wasserfarbenen Kreaturen, sie achteten nicht auf mich, standen bewegungslos herum, starrten Löcher in die Luft. Der Regen schien sie nicht zu kümmern. Sie bereiteten mir Unbehagen, doch ich versuchte sie, soweit es mir möglich war, zu ignorieren, obwohl in mir die Frage brannte, was die wahre Natur dieser Wesen war. Woher kamen sie? Was war ihr Zweck? Hatte der Künstler sie erschaffen oder manifestierten sie sich einfach von selbst? Hatten sie Gefühle? Eine Persönlichkeit? Dachten sie? Oder waren sie nur Statisten, kleine unwichtige Details in einem großen Gesamtwerk? Es waren jedenfalls keine Informationen über sie vorhanden, keine Berichte, keine Zeugen.
Ich erklomm die breiten Stufen des Palastes und öffnete die großen Türen, die kaum Gewicht besaßen und sich anfühlten wie Papier. Vor mir offenbarte sich eine Halle, gewaltig und imperial aber ohne die Spur einer Identität. Hier gab es keine Möbel, keine Fliesen, keine Teppiche, keine Gemälde an den Wänden. Nur eine einsame Treppe, die in die oberen Stockwerke führte.
Die Treppe begann sich bald zu winden und die Form eines Kreisels anzunehmen, der sich höher und höher in die Luft schraubte. Nach fünfzehn Minuten musste ich mich auf die Stufen setzen und Luft holen. Mein Kopf dröhnte, meine Lungen pumpten und brannten, und ich hatte noch immer nicht das Ende erreicht. Ich schaute nach oben und sah nur helles Licht. Welch eine unmögliche Konstruktion. Eine Treppe, die größer war als das Gebäude selbst. Was für eine Teufelei steckte nur dahinter?
Irgendwann erreichte ich endlich die Spitze dieses Berges aus Pappe. Mich erwartete eine schlichte Tür, ich öffnete sie und betrat ein kleines Büro. Es war das erste Zimmer, das relativ normal eingerichtet war, sogar ausgestattet mit Details. An den Wänden zur linken und rechten Seite standen jeweils zwei große Bücherregale, gefüllt mit allerhand dicken Wälzern, Fotos und Büsten von berühmten Künstlern, Revolutionären und Philosophen. Ich sah Abbilder von Salvador Dali, André Breton, Alfred Kubin, Gabriele D`Annunzio, Wladimir Lenin, Albert Speer und Karl Friedrich Schinkel.
Die Buchrücken zierten unzählige Namen: Lautrémont, Marx, Engels, Kafka, Kropotkin, Trotzki, Sorel, Evola, Schiller, Goethe, Kleist, Poe, Jünger, Bakunin, Nietzsche.
Die mir gegenüberliegende Wand bestand zum großen Teil aus einem altmodischen Sprossenfenster, das einem einen weiten Blick auf die Stadt und die Brücke gewährte. Es schien unmöglich, dass sich jemand unbemerkt in die Stadt schleichen konnte, nicht wenn dieses gläserne Auge alles überwachte.
Davor befand sich ein massiger Schreibtisch, antik und wahrscheinlich überaus wertvoll. Der Herr dieser trostlosen Geisterstadt saß auf einem bequemen Sessel, dessen Rücken zu mir gewandt war.
»Was stehst du da, wie bestellt und nicht abgeholt? Tritt hinein, Sensenmann«, sprach plötzlich eine schwache Stimme, die kaum noch Kraft zu haben schien, die ausgesprochenen Worte zu formulieren.
Ich trat hinein, verschloss die Tür hinter mir, legte meinen Koffer auf den Boden ab und holte meinen Revolver heraus.
»Wie ich sehe, haben Sie mich bereits erwartet«, entgegnete ich.
»Natürlich. Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand kam. Doch sage mir, Sensenmann«, der Sessel drehte sich langsam zu mir und offenbarte den Sitzenden; ein alter, gebrochener Mann, er sah so aus wie auf dem Foto, nur wesentlich älter, ein längerer Bart, mehr Falten im Gesicht, das linke Auge wurde noch immer durch ein sechseckiges, wenn auch zersplittertes, Monokel verziert, seine Haut war schwarz-weiß, seine Kleidung verwaschen, undeutlich zu erkennen, »sage mir, wer schickt dich? Wer ist dein Auftraggeber?«
»Spielt das eine Rolle? Was nützt Ihnen diese Information?«
Seine müden Augen betrachteten mich. Er erhob sich langsam aus seinem Stuhl. Seine Bewegungen wirkten unvollständig, abgehakt, falsch. Wie ein Daumenkino mit zu wenigen Zwischenzeichnungen.
»Sensenmann, deine Kugeln tragen meinen Namen und ich wüsste sehr gerne, wer sie mir schickt. Das Warum kann ich mir von selbst denken.«
Ich schwieg.
Der Künstler seufzte und schloss seine Augen. »Wie du möchtest, dann diene doch deinem namenlosen Regime. Ich bin zu erschöpft, um mit dir zu diskutieren, Sensenmann.«
Meine Finger zuckten. »Wieso nennen Sie mich so?«
Er fixierte mich mit seinen schwarzen Augen. Sein Aussehen mochte gebrechlich wirken, doch sein Blick war eisern. »Du kleidest dich in Schwarz und statt einer Sense führst du einen Revolver, doch dein Auftrag ist derselbe. Der Tod kommt in vielen Formen.«
»Sie scheinen ja bereits mit ihrem Leben abgeschlossen zu haben. Ich sehe in ihren Augen keinerlei Furcht, keine Angst. Andere würden in diesem Moment um Gnade betteln.«
»Ich fürchte den Tod nicht, dafür habe ich ihn zu oft gesehen.« Er wandte sich ab und schaute auf die Stadt hinunter. »Wenn ich könnte, würde ich die Zeit zurückdrehen. Ich wollte nicht, dass das alles so endet. Ich wollte eine Utopie erschaffen, einen Himmel auf Erden. Eine Stadt, frei von kleingeistiger Zensur, von Unterdrückung und Verfolgung. Eine Stadt der lebenden Künste. Ein Ort, für Leute wie mich. Heimatlos. Vertrieben. Entfremdet. Zerdrückt unter den Zahnrädern der modernen Welt. Aber erfüllt mit Inspiration und gesegnet mit Kreativität.«
»Hat ja prima geklappt«, knurrte ich. »Die Selbstmorde, die Massaker; die Blutbäder, die bald zur täglichen Routine wurden!«
Er drehte sich augenblicklich um. »Das war nicht so geplant!«, zischte er scharf. »Ich wollte das nicht, ich wollte nicht, dass es so ausartet. Versteh doch, Sensenmann. Es lag nicht mehr in meiner Hand. Diese Stadt … mein Werk … es verschlingt die Menschen. Es frisst sie und scheidet sie wieder aus, verändert sie. Was ich erschaffen habe, lebt, es hat ein schlagendes Herz und es hungert.«
»Sie haben ein Monster erschaffen und können es nun nicht mehr kontrollieren.«
»Da liegst du goldrichtig. Ich habe Unheil über diese Welt gebracht.«
»Was hat es mit diesen seltsamen Kreaturen auf sich? Dieser Ort sollte nach dem letzten, großen Exodus eine Geisterstadt sein.«
»Hörst du mir nicht zu oder bist du taub? Ich habe dir gesagt, dass diese Stadt die Menschen bei lebendigem Leibe verschlingt und verändert. Sieh mich doch an. Oder schau dich an. Verweile noch länger an diesem Ort und auch du wirst Teil des Gemäldes.« Er ging auf mich zu. »Ich höre die Stadt flüstern. Ich spüre, wie sie an mir zerrt. Sensenmann, du denkst, dass ich Herr dieses Ortes bin, doch ich bin ein Gefangener in einem Elfenbeinturm, den ich selbst erschaffen habe.«
Ich zielte mit meinem Revolver auf seinen Kopf, er trat an mich heran und drückte den Lauf gegen seine Stirn. Er atmete ruhig und schloss die Augen.
»Tu es, bitte. Erlöse mich. Befreie meine arme Seele aus diesem alptraumhaften Käfig. Erfülle deinen Auftrag und mach deine gesichtslosen Herren glücklich.«
Meine Hand zitterte, ich zögerte. Ich war nicht bereit, den Abzug zu drücken.
»Worauf wartest du?«
»Ich habe … ehrlich gesagt, mit mehr Widerstand gerechnet.«
»Sensenmann, ich bin fünfundsechzig Jahre alt. Ich habe drei Jahre hier verbracht und diese drei Jahre haben sich wie eine Ewigkeit angefühlt. Ich habe genug, ich bin müde, erschöpft. Sieh mich doch an! Auch mich wird die Stadt verschlingen und wenn du nicht tust, weswegen du gekommen bist, so wirst auch du gefressen werden. Und dann wird niemand mehr dieses Monster aufhalten … Sensenmann, ich bin bereit für den Ruhestand. Tu es einfach.«
Ich atmete tief ein, schloss meine Augen, zählte bis drei und betätigte den Abzug. Ich hörte einen lauten Knall und als ich die Augen wieder öffnete, stand ich auf einem leeren Feld, weit und breit nichts zu sehen, außer der Schienen, die mich hierher brachten. Der Regen hatte aufgehört.
Die Stadt war verschwunden. Sie kam aus dem Nichts und ging auch wieder dorthin.

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