Eine Schatzsuche zur Rettung der Welt vor geleeartigen Riesenbären Oder Die Abenteuer von Adolphus Magnus

Die majestätische Festung Corvusstein erhob sich aus dem flachen Wiesenmeer, geschützt von einer, so sagte man zumindest, undurchdringlichen Mauer, erbaut von Riesen aus Utgard vor tausenden von Jahren. König Corvus Crowell kämpfte damals gegen den Titanengott Ymir. Er schlug dem mächtigen Wesen das grässliche Haupt ab und versklavte seine bestialischen, mehrköpfigen Kinder.
Heute galt Festung Corvusstein als eine der letzten Bastionen der Welt. Kanbao war einer der letzten bewohnbaren Kontinente.
Adolphus Magnus, seines Zeichens halb Katze, halb Mensch und ehemaliger Koch auf einem Piratenschiff, stand zusammen mit seiner bunten Truppe auf dem gigantischen Marktplatz, ein riesiger Basar, wo Millionen verschiedener exotischer Gegenstände angeboten wurde. Die unterschiedlichsten Geräusche drangen aus Mäulern, Mündern, Mandibeln, Rüsseln, Röhren und Löchern. Manche Händler und Kunden sprachen auch über telepathische Wege oder Zeichensprache. Die Sprachen waren hier so vielfältig wie die Käufer und Verkäufer selbst. Früher war Corvusstein das Handelszentrum der Welt, an manchen Tagen konnte man glauben, dass die Welt noch in Ordnung sei.
Adolphus seine Truppe war dem Ruf der drei Lords von Kanbao gefolgt, die nach ›mutigen Abenteurern‹ suchten, die ›weder grausames Leid noch den Tod fürchten‹, Belohnung: ›unermesslich‹ und ›Ruhm und Ehre‹. Die Crew der ›Flying Rabbit‹ war etwas knapp bei Kasse, einem Umstand, den sie ihren Kapitän Magnus zu verdanken hatten, der ein Teil ihres Vermögens bei einem Riesenschneckenwettrennen verspielt hatte. Er war fest davon überzeugt gewesen, dass ›Blitz‹ den Sieg davontragen wird. Er (oder sie) ging als Letzte(r) über die Ziellinie. Nun waren sie um mehrere hunderttausend Taler ärmer. Deshalb kam der Aufruf des Großadels ihnen sehr entgegen.
Sie bahnten sich einen Weg durch die schiere Masse an Kreaturen, vorbei an langhalsigen Kranichen, uralten Schildkröten, zwanzigköpfigen Hydras, winzigen Feen und Elfen, mittelgroßen Ratten in Ritterrüstung und Elementaren in vier verschiedenen Farbausführungen. Von einer ›apokalyptischen Stimmung‹ war hier nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil, alle gingen ihren normalen Alltagsleben nach.
»Wenn die wüssten, was hinter ihren Mauern abläuft, würden die hier ne Psychose kriegen«, klickerte eine tiefe Stimme neben Adolphus. Sie gehörte seiner Rechten Hand (Pfote?) und Navigator Franz K. Goldblume, ein zwei Meter großer Kakerlakenmann. Seine langen Fühler wedelten aufgeregt in der Luft, nahmen jeden noch so kleinen Geruchspartikel auf. Seine Facettenaugen schauten starr geradeaus. Da Franz recht kurzsichtig war, verließ er sich eher auf seinen Tast- und Geruchssinn.
Adolphus streichelte einen seiner vier Arme und flüsterte: »Bleib ruhig, mein Freund. Lass ihnen die eine Freude, die sie noch haben.«
»Sich inhaltslosen Materialismus hinzugeben, während die Welt in den Abgrund rast?«
»Sei nicht immer so zynisch.«
»Genau, du miesepetriger Pessimist«, krächzte die Seemöwe Nadja, die sich auf Adolphus seinen Kopf bequem gemacht hatte.
Franz hob abwehrend seine vier Klauenhände. »Oh, Entschuldigung«, sprach er mit triefendem Sarkasmus, »versucht mal, nicht zynisch zu sein, wenn eure erste Erinnerung ist, dass eure Geschwister drauf und dran waren, euch zu verschlingen! Da ist das negative Weltbild quasi vorprogrammiert!«
»Ach, die alte Geschichte wieder«, entgegnete Nadja.
»Fressen oder gefressen werden«, ergänzte Adolphus, »anscheinend hast du dich ja durchgesetzt.«
»Ja, aber …«, Franz verstummte.
Vor ihnen erhob sich Burg Crowell, das Zentrum der Festung Corvusstein. Von hier startete einst König Corvus Crowell seinen Kreuzzug gegen die Welt, um Kanbao zu einem mächtigen Imperium zu machen. Er kam nicht sonderlich weit und sein Reich zerfiel nach seinem Tod sofort wieder, seine dreizehn Söhne stritten sich darum und jeder nahm sich ein Stück. Doch der Sieg gegen Ymir und die Unterwerfung der Riesen blieb den Leuten im kollektiv-kulturellen Gedächtnis, weshalb sie noch heute von ihm sprachen.
»Ich hoffe, die adligen Herren und Damen haben ein Schlückchen Wein in dieser trostlosen Burg«, sprach der Priester der Gruppe, ein kleinwüchsiger Bulle mit dem ausufernden Namen Petrus Andreas Jakobus Johannes Philippus Bartholomäus Matthäus Thaddäus Simon Matthias Iskariot III., genannt Pete. Sein weißes Gewand flatterte im leichten Wind. Aufgrund seines stolzen Alters von einhundertsechzig Jahren musste er sich auf seinem goldenen Priesterstab abstützen. Er holte seinen silbernen Flachmann heraus, schraubte ihn auf und schaute mit traurigen Blick hinein.
»Meiner pelzigen Zunge lechzt es nach dem flüssigen Gold«, sprach Pete.
»Wein?«, fragte Adolphus ungläubig. »Du hast doch gerade erst auf dem Schiff ein ganzes Fass verschlungen.«
»Mein Kind, mein Durst ist so unerschöpflich wie das Wissen des Herrn.«
»Erklär mir nochmal, Adolphus, warum wir diesen Kleriker nicht auf der letzten Insel ausgesetzt haben.«
»Hüte deine blasphemischen … Kieferklauen, du Schabe«, entgegnete Pete.
»Kakerlake! Ich bin eine Kakerlake, keine Schabe! Merk dir das endlich, du alkoholsüchtiger Witz von einem Priester!«
»Würdet ihr euch bitte nicht streiten?«, mischte sich Adolphus ein.
Die vier betraten die Burg, begrüßt wurden sie von zwei Reihen Rittern in pechschwarzer Rüstung und krähenartigen Helmen. Ein schakalköpfiger Diener stand zwischen ihnen, auch er trug ein dunkles Gewand. Auf seiner Brust prangte das Emblem des Hauses Crowell, ein Krähenkopf mit rotem Auge. Er verbeugte sich tief.
»Seid Ihr die ehrenwerte Crew der ›Flying Rabbit‹?«
»Ja, das sind wir«, antwortete Adolphus.
»Wer denn sonst?«, murmelte Franz. Der Kapitän stieß ihn mit dem Ellbogen in die Seite.
»Und Sie sind der Kapitän dieser Truppe?«, fragte der Diener.
Adolphus verneigte sich: »Ja, der bin ich. In Fleisch und Blut und Pelz.«
»Folgen Sie mir.«
Sie gingen durch steinerne Korridore, erhellt von elektrisch-summenden Laternen. An den Wänden hingen die Porträts ehemaliger Fürsten und Herrscher des Hauses Crowell. Nach dem Tod von Corvus Crowell verlor die Familie die Königswürde wieder und wurde zu einem gewöhnlichen Adelshaus. Eine Schmach, die sich tief ins Gedächtnis dieser auf Perfektion getrimmten Sippe eingebrannt hatte.
Die Gruppe wurde in den Thronsaal geführt, ein gewaltiger Raum, in dessen Mitte sich ein langer Tisch mit gepolsterten Stühlen befand. Große Buntglasfenster, die verschiedene wichtige Etappen der Familie Crowell zeigten, zierten die linke wie die rechte Wand. An der gegenüberliegenden Wand zur Tür waren drei hohe Throne aufgestellt worden. Auf jedem Thron saß ein Vertreter des Großadels von Kanbao, über ihnen wurde jeweils das Banner des Hauses angebracht.
Linksaußen war Lady Octavia Sepia, ihr Symbol war ein grüner Oktopus. Sie saß völlig lustlos auf ihrem Thron, eine mit Schwimmhäute versetzte Hand stützte ihren grauen Krakenkopf, ihre Gesichtstentakel spielten gelangweilt mit einem Zahnstocher. Ihre großen bernsteinfarbenen Linsenaugen schauten träge in die Luft.
Rechtsaußen thronte Lady Hydra Dagon, ihr Symbol war ein blauer Fisch. Sie ließ sich ihre Langeweile nicht anmerken, ihr Rücken war streng durchgestreckt, ihre Hände (ebenfalls mit Schwimmhäuten) ruhten auf den hölzernen Armlehnen. Sie strahlte eine gewisse Aura der Souveränität und Weisheit aus. Ihre starren Fischaugen betrachten gebannt die Menge, die sich im Thronsaal versammelt hatte.
In der Mitte hockte der Herr des Hauses, Lord Corbeau Crowell, sein Zeichen war die rotäugige Krähe und wie eine Krähe saß er auf seinem Thron. Seine langen, dünnen Finger endeten in scharfen Nägeln. Seine Nase war krumm wie ein Schnabel, ein Buckel verunstaltete seinen gebrechlichen, alten Körper. Sein Gesicht wurde von dem Totenschädel einer Riesenkrähe verdeckt, wahrscheinlich sollte er die auffälligsten Deformationen seines Kopfes verdecken. Lord Crowell (und auch seine Familienmitglieder, die zum größten Teil tot waren) war einer der letzten ›reinrassigen‹ Menschen auf der Welt. Seine Familie war sehr stolz auf diesen Fakt, sie waren regelrecht besessen davon reinblütig zu sein. So sehr, dass sie ab einem bestimmten Punkt anfingen, sich nur noch innerhalb des Familienstammbaums zu vermählen. Mütter heirateten ihre Söhne, Väter ihre Töchter, Cousin und Cousine ehelichten sich, die Liebe zwischen Bruder und Schwester war am üblichsten.
Es war kein Kreis mehr, sondern ein dicht verwobenes Wollknäuel. Alles nur, um das ›edle Blut‹ nicht mit ›fremden Rassen‹ zu kontaminieren. Dafür zahlten sie auch einen hohen Preis, viele von ihnen starben sehr jung oder litten ihr ganzes Leben lang an schweren, unheilbaren Erbkrankheiten oder körperlichen Verunstaltungen. Lord Corbeau Crowell war das inzestuöse Endprodukt dieser langen Linie. Der Witz war, dass diese Familie im Laufe der Zeit mehr und mehr monströsen Kreaturen glich als ›reinen‹ Menschen. Und wie lange konnte Corbeau diese Tradition noch weiterführen, wenn er der Patriarch von Leichen war? Wahrscheinlich war er wirklich der ›Letzte Mensch‹.
Adolphus schaute sich im Saal um, verschiedene andere Gruppen hatten sich versammelt, saßen am langen Tisch, tranken Bier und Wein, unterhielten sich lautstark. Er sah Gottesanbeterinnen, Echsenmenschen, Draclinge, Zwerge, einen schwebenden Tetraederstumpf, der zwischen Existenz und Nicht-Existenz hin und her wechselte und sogar einen Körper ohne Organe.
»Scheinen nicht wenige den Ruf gefolgt zu sein«, beobachtete Adolphus.
»Sehen alle knallhart aus. Die Gottesanbeterin kenne ich sogar«, kommentierte Franz.
»Eine Freundin von dir?«, fragte Pete.
»Sehr witzig. Nein, nur eine Bekannte. Eine richtige Amazone. Eine Kopfjägerin.«
»Meinst du nicht ›Kopfgeldjägerin‹?«, Adolphus kratzte sich an seinem zuckenden Ohr.
»Nein, nein. Du hast mich schon richtig verstanden«, erklärte die mannshohe Kakerlake. »Sie ist eine Kopfjägerin. Sie jagt Verbrecher, meistens Leute, die zu tief verschuldet sind und reißt ihnen den Kopf ab. Diesen präsentiert sie dann den Gläubigern.«
»Ahh, und ihr Name?«, der Katzenmensch begutachtete die potentielle Kontrahentin. Sie unterhielt sich gerade mit einem grünschuppigen Dracling.
»Sankt Feanne die Nymphe.«
Adolphus schüttelte den Kopf. »Was für ein Etikettenschwindel.«
»Solch ein heiliger Name für solch eine gottlose Kreatur.«
»Da stimme ich dir ausnahmsweise zu, Priester.«
»Wie kommt sie zu dem Titel?«
»Bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, sie wurde vom Pontifex Maximus der ›Kirche Sankt Christolphus‹ heiliggesprochen, weil sie das vorherige Oberhaupt, angeblich ein Anhänger von Rasputin dem Falschen, einen Kopf kürzer machte.«
»Rasputin der Falsche ist ein Falscher Prophet, ein Gefolgsmann des Biestes, ein Lügner, ein falscher Messias, ein Dämon in sterblicher Hülle!«, rief Pete erbost.
Franz betrachtete den kleinen Bullen. »Kickt die Demenz gerade wieder rein?«
Lord Crowell erhob sich zitternd von seinem Thron, seine astgleichen Arme ragten gen Decke. Trotz seiner recht schwächlichen Statur schallte seine Stimme wie ein Gewittersturm durch die Halle. Sie war genauso stark und autoritär wie die seines mystischen Vorfahren.
»Abenteurer! Piraten! Söldner! Hört mir zu!«
Alle Gespräche verstummten sofort, die Blicke richteten sich auf den alten Fürsten.
»Es ist nicht mehr länger zu verheimlichen, unsere Welt steht dem Abgrund nahe. Im Westen sowie im Osten erhoben sich wie aus dem Nichts grässliche Kreaturen, die alles verschlingen, was sich ihnen in dem Weg stellt. Unsere Späher beschrieben sie als ›geleeartige Riesenbären‹, größer als jedes je dagewesene Ungeheuer. Keine Armee, kein Held, kein Magier vermochte sie bisher aufzuhalten. Sie wälzen alles nieder, fressen Dörfer und Städte, hinterlassen eine Spur von Tod und Verwüstung. Wo sie waren, wächst nichts mehr. Alles liegt dort brach, die Erde ist vergiftet. Noch nie dagewesene Massen fliehen vor dem Amöbenterror. Sie fliehen nach Kanbao, suchen hier Schutz, falls sie die Reise überleben. Unzählige Boote befinden sich auf den Meeren mit Millionen von Flüchtlingen. Sie alle haben ihre Heimat verloren, sind am Verhungern und leiden an Krankheiten. Sollten sie hier ankommen, wird Kanbao fallen, noch bevor die Riesenbären uns erreicht haben. Auf solche Massen sind wir nicht vorbereitet. Unsere Ernteerträge sind bemitleidenswert, das Wetter hat einen Großteil des Getreides vernichtet. Die Handelsrouten sind zusammengebrochen. Und selbst wenn wir alle aufnehmen könnten, würden uns die Bären auslöschen. Die Lage sieht bisher düster aus.«
Ein Gemurmel ging durch den Raum. Die verschiedenen Glücksritter und Söldner tuschelten aufgeregt miteinander.
»Aber«, die Stimme Crowells mahnte zur Ruhe, »es gibt noch Hoffnung. Im Archiv von Lady Dagon fanden wir eine Schatzkarte, die die Lösung für all unsere Probleme sein könnte.« Er wandte sich seiner Sitznachbarin zu: »Möchtest du fortfahren?«
Sie räusperte sich.
»Aber gerne doch, Corbeau«, ihre Stimme klang wie das Plätschern von Wasser, »die Schatzkarte war lange Zeit ein Erbstück der Familie Dagon. Von Generation zu Generation weitergereicht, bis mein Urgroßvater Cthul Dagon sie eines Tages in das Archiv legte und sie nie wieder fand. Er trug nicht umsonst den Beinamen ›der Schusselige‹. Wie dem auch sei, durch die alten Tagebücher meiner Vorfahren stieß ich auf die Existenz dieser Karte, die zu einem mächtigen Artefakt führen soll, das in der Lage ist, jede Kreatur restlos auszulöschen. Eine Waffe der ›Alten Magier‹.«
Ein Raunen ging durch die Menge.
»Und wo soll diese Wunderwaffe stecken?«, rief ein Zwerg laut.
Lady Dagon schaute zu Lady Sepia, die die Antwort übernahm. Ihre Kopftentakel vibrierten vor Aufregung: »Auf dem ›Verlorenen Kontinent‹.« Ihre Stimme klang leicht schleimig, wie wenn jemand eine starke Erkältung hat und der Schleim tief im Rachen festsitzt.
Wieder ertönte ein Raunen, diesmal viel lauter. Luft wurde erschrocken eingeatmet, Schnappatmungen waren zu hören, manche der Gäste wurden bleich wie Kreide.
»Auf dem Verlorenen Kontinent?«
»Das Ende der Welt naht …«
»Ihr die hier eintretet, lasset alle Hoffnungen fahren …«
»Schreibt eure Testamente, Leute.«
»Genug!«, rief Crowell erbost und die Menge verstummte augenblicklich. »Wir alle kennen die Legenden, die sich um dieses verfluchte Stück Land ranken. Aber was bleibt uns anderes übrig? Hier sitzen und jämmerlich sterben? Wir müssen etwas unternehmen. Und wenn es euch die Angst nimmt, das Artefakt befindet sich nicht im Landesinneren, sondern etwas von der südlichen Küste entfernt … Claudius!«
Auf dem Befehl von Crowell watschelte ein kleiner Pinguin in die Halle. Er trug einen überdimensionalen kegelförmigen, lila Hut und eine ebenso lila Robe. Sein ehemals schwarzes Gefieder war über die Jahre aschgrau geworden, seine müden Knopfaugen hatten einen weißen Ton angenommen. Claudius der Große war der persönliche Hofzauberer von Lord Crowell und eine Koryphäe auf dem Gebiet der ›Zweiten magischen Theorie‹.
Claudius wedelte ein wenig mit seinen Stummelflügeln und murmelte ein paar kryptische Worte. Wenige Augenblicke später erschien aus dem Nichts eine blaue Wolke, in der helle Blitze zuckten. Aus der Gewitterwolke formte sich eine Abbildung des Verlorenen Kontinents. Ein Punkt, nicht weit von der Küste entfernt, leuchtete auf. Lord Crowell zeigte mit seinem dürren Finger darauf.
»Dort befindet sich die sogenannte ›Stadt der Toten‹, ein unheilvoller Ort, wo sich Geister, Dämonen und verlorene Seelen tummeln. Im Zentrum soll sich laut der Schatzkarte das Artefakt befinden.«
»Und wir sollen das Teil holen und hierher bringen?«, fragte ein Dracling.
»Genau. Ein Team wird sich das Artefakt schnappen und zurückkehren.«
»Warte, ein Team?«, Adolphus Ohren zuckten plötzlich.
Lady Dagon sprang ein, bevor Crowell antworten konnte: »Richtig, ein Team. Seht dieses Unterfangen als eine Art Wettbewerb … für zusätzliche Motivation. Ein gefährlicher, tödlicher Wettbewerb.«
»Also ist das alles nur ein Spiel?«, rief einer aus der Menge.
»Gezwungenermaßen ja«, antwortete Lady Sepia, ihre Tentakel spielten wieder mit dem Zahnstocher. »Natürlich könnten wir auch nur ein Team losschicken, doch wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es lebend wieder zurückkommt? Je mehr Teams, desto höher die Erfolgschancen. Und da ihr alle Söldner und Glücksspielsüchtige seid, ist ein ›Wettrennen‹ die richtige Methode, um euch anzuspornen.«
»Ihr erwartet also, dass der Großteil von uns draufgeht?«, der Dracling schüttelte den Kopf.
»Dies ist ein Opfer, was wir bereit sind, einzugehen«, antwortete Lady Dagon kühl.
»Und was springt für uns raus? Wenn wir schon unser Leben riskieren?«, nun war Franz an der Reihe Fragen zu stellen.
»Dem Sieger gebührt ewigen Dank …«
»Und?«
»Und natürlich die Rettung der Welt …«
»Und?«, Franz ließ nicht locker.
»Und … das Team wird zur Königsfamilie erhoben. Wer auch immer das Artefakt zurückbringt, wird über Kanbao herrschen!«, erklärte Crowell.
Ein aufgeregtes Gemurmel ging durch die Halle. Macht und Ruhm (und damit verbundene Reichtümer) schienen die Gelüste der anwesenden Piraten, Söldnern, Attentätern, Kopfgeldjägern und Nichtsnutzen zu stimulieren. Franz rieb sich seine Insektenklauen, der Gedanke über Kanbao zu herrschen, gefiel ihn. Adolphus erfreute sich an die zukünftigen Reichtümer, mit denen er bis in alle Ewigkeiten seine Glücksspielsucht befriedigen könnte. Pete hatte gar nicht wirklich zugehört, sondern fixierte die ganze Zeit über einen imaginären Punkt an der Decke. Wahrscheinlich hielt er Zwiegespräch mit irgendeiner kosmischen Gottheit … oder sein Gehirn hatte wieder einen Aussetzer aufgrund des Alkoholmangels.
»Und wie lange haben wir für dieses Unternehmen Zeit?«, St. Feanne stellte die richtigen Fragen.
Lord Crowell fixierte sie mit seinen kleinen Augen, die hinter der großen Schädelmaske hervorlugen und sprach mit tiefer Stimme: »Sieben Tage. Nicht mehr.«
Ein Sturm der Entrüstung entfesselte sich.
»Sieben Tage?«
»Das schaffen wir doch nicht!«
»Niemals!«
»Wir sind verloren …«
»Ruhe!«, schritt Crowell ein. »Ich weiß, dass die Zeit knapp ist, aber die Situation ist mehr als nur ernst. Momentan trudeln hier nach und nach Schiffe mit Unmengen an Flüchtlingen ein, unsere Soldaten kommen an ihre Grenzen. Unser ganzes System kommt an seine Grenzen. Wenn das so weitergeht, wird Kanbao kollabieren. Und dann werden die Bären am Horizont erscheinen und diesen letzten sicheren Flecken verschlingen. Wir müssen uns beeilen!«
»Des Weiteren«, begann Lady Sepia, »seid ihr alle tollkühne Abenteurer und Helden, es sollte für euch doch ein Klacks sein, dieses Artefakt zu bergen und hierher zu bringen. Oder etwa nicht?«
»Wir handhaben das ganz einfach«, erklärte Lady Dagon und erhob ihre fischige Hand. »Jeder der Teil des ›Wettrennens‹ sein möchte, bleibt hier. Alle anderen verschwinden. Wir werden niemanden zwingen, daran teilzunehmen.«
Die sechs Augen der drei Lords und Ladys schauten in die Menge. Zuerst herrschte Stille, doch dann begannen sich einige Leute zu erheben und die Halle mit gesenkten Köpfen zu verlassen. Adolphus sah den Zwerg, der sich vorhin nach dem Aufenthaltsort der ›Wunderwaffe‹ erkundigt hatte; einen steinernen Golem, der mit schweren Tritten hinaus stampfte und beim Verlassen ein Teil des Ausgangs beschädigte; einen kleinen Mooskäfer mit orange leuchtenden Augen; eine schneeweiße Elfe mit spitzen Ohren, bewaffnet mit Pfeil und Bogen, ihr normalerweise starres, majestätisches Gesicht konnte nicht die Scham verstecken, die sie gerade verspürte; eine grünschuppige Eidechse mit drei Köpfen; einen Schakal in brauner Lederrüstung, seine Ohren waren eingeknickt und sein Schwanz zwischen den Beinen eingezogen und noch einige weitere. Übrig blieben nicht mehr viele.
»Und, Käptn?«, flüsterte Franz. »Was ist mit uns?«
Adolphus fixierte seinen Partner mit seinen smaragdgrünen Augen, seine Arme waren vor der Brust verschränkt, sein Rücken war kerzengerade. Diese einmalige Chance wollte er sich nicht entgehen lassen.
»Wir bleiben natürlich hier … oder sind wir etwa Feiglinge?«
»Und wenn wir draufgehen?«, krächzte Nadja.
»Und wenn schon, dann ist es so. Was macht es für einen Unterschied, ob wir hier darauf warten elendig zu verrecken oder ob wir auf einem Abenteuer sterben? Außerdem … der Preis für unsere Mühen wird alles überbieten, wir müssen uns nie wieder Gedanken über irgendwelche Probleme machen«, erklärte Adolphus mit fester Stimme.
»Ich möchte dich nur daran erinnern, dass wir Probleme haben, weil du ein Problem hast …«
»Details!«, der Kapitän wischte die Bemerkung mit einer Handbewegung weg. »Wenn wir es schaffen, haben wir bis ans Ende unseres Lebens ausgesorgt, will ich damit sagen! Seid ihr dabei?«
»Die Aussicht auf den Königstitel ist schon verlockend …«
»Hab ich eine andere Wahl?«, entgegnete Nadja.
»Was ist mit dir, alter Mann?«, fragte Franz. Er stupste Pete an.
»Die Wege des Herrn sind unergründlich!«
»Es ist auch jedes Mal eine Zeitverschwendung, dich zu fragen …«
Und damit war die Sache ›demokratisch‹ beschlossen, die Crew der ›Flying Rabbit‹ nahm an der Schatzsuche zur Rettung der Welt vor geleeartigen Riesenbären teil.
Adolphus Magnus schaute sich die übriggebliebende Menge an. »So, wer sind denn alles unsere Konkurrenten?«
»St. Feanne die Nymphe und ihre Crew von der ›Nave of Salvation‹ sind definitiv mit von der Partie. Aber ich hab auch nichts anderes erwartet. Sie ist eine harte Braut, die vor keiner Herausforderung zurückschreckt«, erklärte Franz.
»Weißt du etwas über ihre Truppe?«
»Nicht viel. Die Crew ist relativ klein: ein Dracling, ein Shroom, ein Anhänger der ›Dritten magischen Theorie‹; ein Fischmensch aus dem Hause Dagon, ein Wasserelementar und sie. Alle gestählte Kämpfer, alle ziemlich tough.«
»Also stehen unsere Chancen relativ gut?«
»Kann man so sagen …«
Nadja schlug mit den Flügeln: »Wir werden alle draufgehen!«
»Höchstwahrscheinlich ja«, entgegnete Adolphus.
»Nun gut«, räusperte sich Crowell laut, »alle Freiwilligen scheinen versammelt zu sein. Lasst euch gesagt sein: Ihr seid wahre Helden und im Namen aller Großlords spreche ich euch unseren tiefsten Respekt aus.«
Die beiden Ladys nickten eifrig mit den Köpfen.
»Mein Diener wird euch nun Kopien der Schatzkarten verteilen. Mögen die Anführer der jeweiligen Truppen vortreten.«
Es machten einen Schritt nach vorne: Adolphus Magnus, St. Feanne und eine eineinhalb Meter große Ratte in Rüstung namens Roharaman. Der Diener von Lord Crowell gab jeden von ihnen ein Stück Pergament, das den Weg zum mysteriösen Artefakt zeigte.
»Wissen wir eigentlich, wie diese Waffe aussehen soll?«, fragte Adolphus.
»Niemand weiß das. Die Texte im Archiv beschreiben nur ihre Funktion, nicht ihr Aussehen«, erklärte Lady Dagon. »Aber ich bin mir sicher, dass ihr sie erkennen werdet, wenn ihr vor ihr steht.«
»Großartig …«
»Nun denn«, begann Lord Crowell und streckte den Arm aus, »die Zeit drängt, schwärmt aus mutige Helden. Seid schnell, seid siegreich, auf das ihr die Welt vor der endgültigen Auslöschung bewahrt!«
Die drei Teams machten sich hastig auf dem Weg. Als sie verschwunden waren, beugte sich Lady Sepia vor und sprach zu den beiden anderen Adligen: »Was passiert, wenn keiner von ihnen es schafft?«
Lady Dagon verschloss die Augen und faltete ihre Hände zusammen, Lord Crowell sank erschöpft zurück, für die Ansprache hatte er seine gesamte Energie verbraucht. Nun war er wieder eine schwache, überalterte Hülle, ein schlechtes Abbild eines Menschen. Der Stolz, die Stärke waren verpufft. Der Hofzauberer Claudius und sein Diener schauten ihn mit großen Augen an.
»Wenn dies der Fall sein wird, dann hoffe ich, dass das Ende schnell und schmerzlos kommt.«
Lord Crowell hatte keine aufmunternden Worte übrig. Lady Sepia schluchzte.
Draußen angekommen bahnten sich Adolphus Magnus und die Crew der »Flying Rabbit« einen Weg durch den immer noch vollen Marktplatz und begaben sich zum Hafen, der außerhalb der Festungsstadt lag. Dort gab es eine kleine Stelle, wo fliegende Händler aus fernen Ländern, ihre exotischen und auch ganz alltäglichen Waren feilboten. In der Regel handelte es sich um Krämer, die auf der Durchreise waren und nun die Gelegenheit nutzten, um noch einen schnellen Taler zu verdienen. Seit dem Zusammenbrechen der Zivilisation waren sie hier nun gestrandet, fernab der Heimat, die wahrscheinlich gar nicht mehr existierte. Wenn sie deswegen bedrückt waren, ließen sie es sich aber nicht anmerken. Sie gingen einfach ihren alltäglichen Geschäften nach. Was sollten sie auch sonst tun? Akzeptieren, dass die Welt einem bodenlosen Abgrund entgegenraste?
Adolphus erklärte seinen drei Partnern, dass sie, bevor sie die Reise antreten, noch ein paar Vorräte kaufen sollten.
»Mein liebes Kind, denk bitte an das Wasser, was im Himmel fließt. Das Getränk Gottes und seiner Heerschar von Engeln.«
»Du frisst uns noch die Haare vom Kopf, du alte Kuh!«
Der Käpt´n ging zu einem Stand, wo ein Händler, dessen Kopf eine schwebende, sich ständig rotierende Pyramide war, in Fässern eingelegten Fisch verkaufte. Dahinter konnte Adolphus ein riesiges Heupferd sehen, das ruhig auf dem Boden schlief. Sein grüner Chitinpanzer glitzerte in der Sonne. Viele nicht-kanbaoische Händler nutzten diese großen Tiere als Transportmittel. In Gegensatz zu Kamelen oder Eseln waren sie noch widerstandsfähiger gegen Umwelteinflüsse, sie wuchsen sehr viel schneller heran und konnten sich mit ihren harten Mandibeln auch gut gegen Räuber wehren. In den letzten Jahrzehnten hatte sich ein regelrechter Boom, um die Heupferde herum entwickelt, weshalb sie nun fast überall in Massen gezüchtet und verkauft wurden. Solche Farmen hatten nur den Nachteil, dass, wenn es mal einen Ausbruch gab, die Heupferde sich sofort im örtlichen Ökosystem ausbreiteten und es nachhaltig schädigten. Dies führte unter anderem zum Aussterben der Ultravioletten Leuchtkäfer und zu einer Hungerkatastrophe in Foraoisemeala, wodurch zwanzig Millionen Feen starben.
»Muss es denn schon wieder eingelegter Fisch sein?«, beschwerte sich Franz.
Adolphus seufzte. »Sind Kakerlaken nicht Allesfresser?«
»Ja, schon … Aber ein wenig Diversität im Essen wäre nicht schlecht.«
»Sieh mal, Franz … Das Zeug ist billig, hält lange und macht satt. Also hör auf zu meckern.«
Adolphus empfand es immer als anstrengend mit den Phyrame zu handeln, da die fehlende Gesichtsmimik es sehr schwierig gestaltete. Als Handelssprache benutzten sie in der Regel Gebärdensprache, untereinander kommunizierten sie über verschiedene komplexe Kopfrotationen.
Es war schwer, aber Adolphus schaffte es, vier Fässer zum Preis von nur siebzig Talern zu erhandeln. Franz nahm jeweils eins auf seine Arme. Das Gewicht bereitete ihn keinerlei Probleme.
»Was ich mich immer schon fragte«, warf er ein.
»Hau raus.«
»Wie schaffen es die Phyrame ihren ›Kopf‹ auf dem ›Körper‹ schweben zu lassen? Und was ist eigentlich der Phyrame? Die Pyramide oder der Körper darunter? Oder beides?«
»Der eigentliche Phyrame ist nur der Kopf«, antwortete Adolphus. »Der sich darunter befindene Körper ist nicht mehr als ein bloßes Transportmittel, eine Marionette. Die beiden sind über Magnetismus miteinander verbunden, die Phyrame kontrollieren die mysteriösen Kräfte des Magnets«, erklärte Adolphus.
»Faszinierend. Woher weißt du das?«
»Auf der ›Scarred Sun‹ haben wir einmal einen Phyrame gefangen genommen, nachdem wir ein Handelsschiff überfallen hatten. Er wurde zu mir in die Kombüse geschickt und wir hatten genug Zeit, um miteinander zu plaudern. Ich konnte nie ganz seine Muttersprache entschlüsseln, da sie einfach zu subtil ist, aber über Gebärdensprache konnten wir gut miteinander kommunizieren. Wir hatten eigentlich viel Spaß miteinander.«
»Und was ist dann passiert?«
»Der Käptn ließ ihn über die Planke gehen.«
Adolphus ging noch zu einem weiteren Stand, der Fässer voll Wein verkaufte, damit Pete endlich befriedigt war. Es war vielleicht keine gute Idee, die Sucht des Priesters weiter zu befriedigen (Adolphus konnte ein Lied davon singen), doch wenn die Gerüchte stimmten, dann wollte man nicht erleben, wie Pete drauf war, wenn er nüchtern war.
Mit einem Murren nahm Franz auch das Weinfass auf seinen Arm, während der Priester frohlockte und ein kleines Tänzchen aufführte.
»Irgendwann reiß ich dir den Kopf ab«, murmelte Franz.
Adolphus ging mental nochmal seine Einkaufsliste durch, die Reise zum Verlorenen Kontinent sollte nicht ewig dauern, im schlimmsten Fall maximal zwei Tage. Mehr konnten sie sich auch nicht leisten. Zwei Tage hin, zwei Tage zurück – übrig blieben drei Tage, um nach dem Artefakt zu suchen. Das sollte doch ausreichen, oder? Es schadete nicht, noch ein wenig Frischwasser einzupacken, nur für alle Fälle.
Die Crew kehrte zu ihrem Schiff zurück, Nadja flog sofort zu ihrem kleinen Nest im Ausguck hoch. Franz verstaute die schweren Einkäufe im Frachtraum. Er keuchte und schnaufte, seine Tracheen pumpten.
»Warum muss eigentlich immer ich das Schleppen übernehmen?«
»Nur du hast die nötige Stärke.«
»Ja, aber ihr könntet mit trotzdem was abnehmen. Mein Exoskelett ist auch nicht mehr das stabilste!«
»Ach, noch habe ich dich gar nicht an deine Grenzen gebracht«, scherzte Adolphus.
»Sklavenschinder. Das melde ich der Gewerkschaft!«
»Welcher Gewerkschaft denn?«
»Der ›Gewerkschaft für freiberufliche Navigatoren‹!«
»Das hast du dir gerade ausgedacht.«
»Nein, ich zahle jeden Vollmond meine Mitgliedskosten.«
»Vollmond?«
»Ja, der Gewerkschaftsführer ist ein Werwolf.«
»Okay, jetzt verarschst du mich aber.«
»Wie ich vernehme, streiten die Herren wieder«, hallte die Stimme der ›Flying Rabbit‹ durch die Luft.
»Wie kommst du denn darauf, Rabbit?«
»Diese Crew ist schlimmer als meine letzte und die hat mich im Ozean versenkt. An manchen langen, glücklosen Tagen wünsche ich mir, dass ich in meinem nassen, kalten Grab verblieben wäre. Könnt ihr euch das vorstellen? Allein am Grunde des Meeres, umgeben von Unmengen von Wasser, Fische die durch die verlassenen Zimmer schwimmen, Krabben und Krebse, die am zerbrochenen Mast emporklettern. Seetang und Algen, die langsam mein Holz übernehmen. Welch eine Vorstellung! Endloser Frieden! Aber stattdessen wurde ich mit Bewusstsein und, was noch viel schlimmer ist, mit euch bestraft.«
Adolphus zuckte mit den Schultern: »Anscheinend gibt es auch für Schiffe eine Hölle.«
Die ›Flying Rabbit‹ war ein alter brauner Zweimaster. Vor zehn Jahren hatte Adolphus sie an der Küste liegend vorgefunden. Es war genau ein Tag, nachdem er von der ›Scarred Sun‹ verbannt wurde und sich ein neues Leben aufbauen wollte, frei von Piraterie aber weiterhin voll mit Abenteuern (und Reichtümern zum Verwetten). Damals hatte er weder eine Crew noch ein Schiff, wobei sich die Situation um Letzteres schnell änderte. Er verstand nicht ganz, wie die ›Flying Rabbit‹ genau funktionierte, aber anscheinend war die alte Crew in den Fluten umgekommen, ihre Seelen hatten sich an das Schiff geklammert und schufen so ein neues Bewusstsein.
Wie es an die Küste kam, wusste ›Flying Rabbit‹ auch nicht. Nach eigenen Angaben schlummerte sie am Grund des Ozeans, doch irgendetwas schien sie wieder an die Oberfläche gebracht zu haben. Adolphus fand sie, der Schiffsbauch war völlig aufgerissen, die Masten waren zerbrochen, vom Segel war keine Spur mehr zu finden. Er baute sie wieder zusammen, reparierte, restaurierte sie. Dann erwachte sie aus ihrem Schlaf.
»Hat der Aufruf etwas ergeben?«, fragte ›Flying Rabbit‹.
»Ja«, antwortete Adolphus, »wir haben sieben Tage Zeit, um eine Wunderwaffe vom Verlorenen Kontinent zu bergen und hierher zurückzubringen. Und dann können wir diese Riesenbären auslöschen. Wahrscheinlich … Vielleicht.«
»Dies klingt ja sehr vielversprechend.«
»Aber hey, wenn wir gewinnen, werden wir Könige von ganz Kanbao«, mischte sich Franz ein.
»Gewinnen? Ist das kein Solo-Auftrag?«
Adolphus erklärte die Situation.
»Bei den Seepocken an meinem Ruderblatt. Auf was habt ihr euch da bloß eingelassen?«
»Beruhig dich, wir schaukeln das Ding schon, dann bist du uns los und kannst … was auch immer machen, was Geisterschiffe in ihrer Freizeit so tun.«
»Alte Seebären in den Wahnsinn treiben, zum Beispiel«, scherzte Franz.
Adolphus schaute auf das offene Meer hinaus, die Sonne spiegelte sich im Wasser, die Oberfläche war ruhig. Er sah mehrere Schiffe vorbeisegeln, auf einem befanden sich Unmengen von Froks und Draclingen, dicht an dicht gedrängt in dreckigen Lumpen. Völlig verwahrlost. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, ihre Augen glasig. Sie waren nur die kleine Vorhut von dem, was Kanbao noch erwartete.
Das andere Schiff war die ›Nave of Salvation‹, die wie eine Kathedrale geformt war. St. Feanne und ihre Truppe machte sich bereits auf dem Weg, weshalb Adolphus den Befehl gab, abzulegen. Sofort setzte sich die ›Flying Rabbit‹ in Bewegung. Dass das Schiff ein eigenes Bewusstsein besaß, hatte den Vorteil, dass niemand irgendeine große Ahnung von Seefahrerei haben musste. Schließlich steuerte es sich von alleine.
Nadja erhob sich geschickt in die Lüfte und landete auf Adolphus seinen ausgestreckten Arm. »Wir segeln unseren Untergang entgegen«, krächzte die schneeweiße Möwe mit dem gelben Schnabel und den pechschwarzen Flügeln.
Adolphus streichelte sie am Kopf. Sie war das jüngst dazugestoßene Mitglied der Crew. Der Kapitän fand sie vor drei Jahren an der Salzküste von Néapsária liegend, damals war sie noch ein Küken. Wahrscheinlich war sie aus ihrem Nest gepurzelt oder es war geplündert worden. Das passierte in der Gegend öfters, die Salzkrabben und Meerwiesel schnappten sich gerne die Jungtiere von Küstenvögeln. So oder so, waren die Eltern von Nadja nicht aufzufinden, wahrscheinlich wurden sie entweder von den Räubern verscheucht oder ebenfalls verschlungen. Adolphus nahm das kleine, zitternde Küken auf den Arm und brachte es zum Schiff.
Er hatte nie wirklich verstanden, warum sein ehemaliger Kapitän (oder Piraten allgemein) einen Papagei als Begleiter hatte. Das Meer war überhaupt nicht deren Heimat, abgesehen davon das es extrem anspruchsvolle Tiere waren, die nach besonderen Futter und intensiver Pflege verlangten. Möwen waren da einfacher zu handhaben. Sie konnten sich selbst ernähren, sich selbst putzen und liefen nie Gefahr wegzufliegen. Außerdem waren sie besser an die klimatischen Verhältnisse auf der rauen See angepasst. Und sie waren genauso intelligent wie Papageien, wenn nicht sogar noch intelligenter. Adolphus hatte keinerlei Schwierigkeiten, Nadja das Sprechen beizubringen. Und was für ein gesprächiger Vogel sie war, nebenbei noch ein hervorragender Späher. Alles was sie dafür verlangte, waren ein wenig Fisch und Krauleinheiten.
Bald schon brach die dunkle Nacht ein, die drei Monde, Morpheus, Phobetor und Phantasos, erhoben sich in den wolkenlosen Himmel. Adolphus stand an der Reling und schaute auf das ruhige Meer hinaus. Er konnte noch nicht glauben, dass die Welt kurz davor stand, in einen bodenlosen Abgrund zu fallen. Vor einem Monat schien noch alles in Ordnung zu sein, doch jetzt … Überall breitete sich Chaos aus, Städte und Staaten zerfielen, alte Königshäuser verschwanden, Millionen starben.
»Wenn man so auf die ruhige See schaut, kann man kaum glauben, wie scheiße die Welt gerade ist, nicht wahr?«, ertönte plötzlich eine Stimme von hinten. Adolphus drehte sich um, Franz hatte sich unbemerkt angeschlichen.
»Hab dich gar nicht gehört.«
»Entschuldigung, Käptn. Wollt dich nicht erschrecken.«
»Hast du nicht, mach dir keinen Kopf. Was treibst du bei so später Stunde noch auf Deck?«
»Das gleiche könnte ich dich fragen … Abgesehen davon, Kakerlaken sind eigentlich nachtaktiv.«
»Ach, echt?«, Adolphus hob seine linke Augenbraue.
»Japp. War eine ganz schöne Umstellung. Bei helllichtem Tag wach sein und nachts dann schlafen. Hat meine innere Uhr völlig durcheinandergebracht. Muss öfters Schlafkraut schlucken, damit ich überhaupt funktioniere. Und Unmengen von Kaffee.«
Adolphus lachte.
»Weiß gar nicht, was daran so witzig ist«, entgegnete Franz im scherzhaften Ton. Er hob seinen Kopf und betrachtete mit seinen Facettenaugen die funkelnden Sterne. Der Nachthimmel war für ihn ein strahlendes Mosaik aus unzähligen Einzelteilen. Er konnte zwar nicht weit sehen, doch das, was er sah, berührte sein röhrenförmiges Herz zutiefst.
»Die Nacht ist so eine wunderbare Zeit. Die Stille, die leeren Straßen; die Dunkelheit, in der dir die Sonne weder Panzer noch Augen verbrennt. Die hell leuchtenden Drillingsmonde, deren Abbilder sich auf dem endlosen Ozean widerspiegeln.«
»Ich wusste gar nicht, dass du solch eine poetische Seele besitzt.«
»Du weißt vieles nicht über mich, Adolphus.«
Für einen kurzen Zeitraum herrschte Stille zwischen den beiden.
»Was glaubst du, woher diese Riesenbären stammen?«, fragte Franz.
»Wer weiß … vielleicht ein fehlgeschlagenes Magieexperiment?«
»So wie die GME?«
»Gut möglich … vielleicht sind es auch Aliens oder Mutanten …«
»Ich vermute«, begann Franz, »dass Rasputin und seine ›Partei des Rasputinismus‹ dahinter stecken.«
Adolphus spitzte die Ohren.
»Wie kommst du darauf?«
»Nur eine Vermutung, eine Theorie … ein Bauchgefühl könnte man sagen. Vielleicht … nur vielleicht … hat er es geschafft, seine ›Vierte magische Theorie‹ in die Tat umzusetzen – Dasein … Was auch immer das bedeutet.«
Rasputin der Falsche war ein seltsames Phänomen. Vor genau neununddreißig Jahren erschien er plötzlich auf der Bildfläche und propagierte seine häretische ›Vierte magische Theorie‹. Niemand, nicht einmal seine loyalsten Anhänger, wussten, wie er in Wirklichkeit aussah. Die meiste Zeit über nahm er die Gestalt eines 54-jährigen menschlichen Mannes mit langen, wuscheligen grau-weißen Bart und hell leuchtenden Käferaugen an. Aber er soll auch schon die Form einer Garnele, eines Oktopus, eines Bären, einer Elfe, eines Draclings und einer gigantischen Stubenfliege angenommen haben. ›Rasputin‹ soll nicht mal sein wahrer Name sein, er war auch bekannt unter Merlin, Beelzebub, Randall, Aleister, Èliphal und Guido. Manche bezeichneten ihn auch als das ›kriechende Chaos‹.
Über den Ursprung dieses Zauberers rankten sich viele Mythen und Legenden. So soll er angeblich ein ›gefallener Engel‹, ein ›wahnsinniger Philosoph‹ oder ›hunderte von Hundertfüßer in einer Fleischpuppe‹ sein.
Wer oder was er auch war, er schaffte es in wenigen Jahren unzählige Anhänger, um sich zu scharen, nun bekannt als ›Rasputinisten‹. Er gründete die ›Partei des Rasputinismus‹ und befahl seinen Gefolgsleuten, seine wahnsinnigen Lehren und Dogmen in der Welt zu verbreiten. Darunter die Vereinigung der mittleren Hemisphäre zu einem Weltreich, um sowohl den Osten als auch den Westen zu dominieren und die Umkehrung der Erdumdrehung, damit die Sonne im Norden auf- und im Süden unterginge. Im Zentrum seiner Lehre stand die ›Vierte magische Theorie‹, die besagte, dass Magie nicht auf Energie, nicht auf Raum und auch nicht auf Zeit, sondern auf ›Dasein‹ basierte. Niemand wusste genau, was das eigentlich bedeutete, doch seine Apostel scheuten weder Kosten noch Mühen, um dieses Geheimnis zu lüften.
Die ›Rasputinisten‹ galten als Feinde der beinahe gesamten Welt, es gab kein Fleckchen, wo sie nicht gejagt wurden. Jede Kirche, und mochte sie noch so klein und unbedeutend sein, hat Rasputin und seine Anhänger als Ketzer gebrandmarkt. Sie sahen in ihm einen Dämon, den fleischgewordenen Teufel, emporgestiegen aus dem Dreizehnten Kreis der Hölle.
Adelshäuser, Könige, Kaiser und selbst winzige Landvogte entsandten in regelmäßigen Abständen Attentäter, um ›Rasputinisten‹ zu töten.
Selbst die drei magischen Schulen und die unabhängigen Zauberergewerkschaften, die normalerweise mehr mit brutalen Kämpfen gegeneinander beschäftigt waren, einigten sich darauf, denjenigen, der es schafft, ihnen den Kopf Rasputins auf einem Silbertablet zu präsentieren, ein unermessliches Vermögen auszuzahlen.
Nichtsdestotrotz hinderte es der ›PdR‹ nicht daran, weiter ihren Einfluss auszubauen und wie ein gigantischer Pilz den Globus zu umspannen. Töten allein reichte nicht, sobald ein Anhänger gestorben war, ploppten aus seiner Leiche zwanzig neue hervor. Manchmal sogar wortwörtlich. Unzählige Male wurde bereits die Hinrichtung Rasputins verkündet, nur damit er am anderen Ende der Welt wieder auftrat, völlig unbeschadet.
»Vielleicht ist es seine Art der Endlösung. Nach dem Motto: Um eine neue Welt zu erschaffen, muss die alte erst zerstört werden. Man kann schließlich kein Omelett machen, ohne ein paar Eier zu zerschlagen«, fuhr Franz fort.
Adolphus wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte. Er hatte nie wirklich darüber nachgedacht, woher die geleeartigen Riesenbären eigentlich stammten. Es war ihm irgendwie auch egal, ob nun Rasputin, die magische Schule der Energie oder sein Großvater dahintersteckte. Fakt war, dass die Welt dem Untergang nahestand und sie etwas dagegen tun mussten. Adolphus spürte, wie Müdigkeit langsam in seine Knochen kroch. Er verabschiedete sich von Franz, der weiterhin den Sternenhimmel betrachtete.
Er begab sich in seine Kapitänskabine, zog sich die braunen Stiefel, die dunkelblaue Hose und das weiße Hemd aus und rollte sich in seinem Bett zusammen. Adolphus lauschte dem ruhigen Wellengang.
»Was ist, wenn wir es nicht rechtzeitig schaffen? Was ist, wenn wir versagen?«, flüsterten die Dielenbretter des Schiffes.
»Wir schaffen das schon«, entgegnete Adolphus gähnend.
»Woher willst du das wissen?«
»Das spüre ich, wir werden siegreich sein. Koste es, was es wolle. Hohes Risiko – hoher Gewinn.«
»Ist das für dich nur ein Spiel?«
»Abstrakt betrachtet, ist alles ein Spiel. Glück, Zufall und Risiko sind die bestimmenden Faktoren des Lebens. Wer hoch setzt, kann hoch gewinnen – oder verlieren … und jetzt genug, ich möchte ein wenig schlafen. Wir haben eine harte Zeit vor uns.«
Die ›Flying Rabbit‹ schwieg.
Am nächsten Tag sah die Crew, wie ein riesiges Luftschiff über ihnen hinweg flog. Es war das Schiff von Roharaman, der Ratte in Ritterrüstung. Der hellweiße Zeppelin war wie eine aufgeblähte Zigarre geformt und düste mit lauten Propellergeräuschen an ihnen vorbei. Pete und Franz schauten dem eigenartigen Fluggefährt neugierig hinterher.
»Neumodische Technologie … Wie bleibt dieses Teil überhaupt in der Luft?«
»Durch das Wirken Gottes, mein vierarmiges Kind.«
»Ach, halt die Klappe, du bekloppter Mönch …«
»Mit Zeppelinen verhält es sich wie mit der Hummel«, mischte sich Adolphus ein, »eigentlich sind ihre Körper zu schwer und ihre Flügel zu klein, um sie in der Luft zu halten. Und trotzdem, entgegen aller physikalischen Erwartungen, fliegen sie.«
»Glaubst du, da ist Magie im Spiel?«, fragte Franz.
»Es könnte sich dabei um ›Magie des Raumes‹ handeln. Wer weiß das schon … Ich kenne mich damit nicht wirklich aus. Vielleicht werden wir Gelegenheit bekommen, dem Kapitän des Luftschiffes einige Fragen zu stellen«, sagte Adolphus.
»Wenn das Teil nicht vorher abstürzt …«
»Optimistisch wie immer, Franz.«
»Beerdigungen verbreiten eine bessere Stimmung als du«, krächzte Nadja, während sie das Schiff umkreiste.
»Ach, sei doch ruhig, du gefiederte Meeresratte.« Und mit diesen Worten verzog sich Franz schmollend in seine Kabine.
Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, kreischte das Maskottchen der Crew plötzlich lautstark: »Land in Sicht! Tod in Sicht! Nichts als Verderben! Unser Untergang naht!«
Die anderen Mitglieder, mit Ausnahme von Franz, wurden aus ihrem Schlaf gerissen und gingen auf Deck. Adolphus begab sich sofort zur Reling, Pete folgte ihm mit schleichendem Schritt.
Der Kapitän sah die vom Nebel verhüllte Küste des Verlorenen Kontinents, die großen unförmigen Berge, die fast die Himmelsdecke berührten, die zahlreichen Wälder, die in allen Farben des Regenbogens erstrahlten.
Vor genau zehntausend Jahren ereignete sich auf dieser verfluchten Landmasse ein Ereignis, dass die gesamte Welt in ihren grundlegenden Strukturen komplett veränderte. Im dunklen Herzens des Kontinents versuchte eine Gruppe von Magiern, die Geheimnisse von mysteriösen Kristallen, die einst vom Himmel auf die Erde stürzten, zu lüften. Dabei lösten sie eine verhängnisvolle Kettenreaktion aus, eine gewaltige Explosion, die sogenannte ›Große Magische Explosion‹ (abgekürzt GME). Die Energiefreisetzung zerstörte den Großteil des Kontinents, dabei kamen Millionen von Magier ums Leben, was dazu führte, dass die ›alte magische Schule‹ komplett ausstarb und nahezu in Vergessenheit geriet. Unmengen von Gestein und Dreck wurden in die Atmosphäre gepustet. Die ausgelöste magische Schockwelle ging mehrmals um den Planeten. Uralte Zivilisationen, reich an Kultur und Geschichte, wurden von einem Moment zum nächsten ausgelöscht.
Der Schmutz verdunkelte für viele Jahrhunderte den Planeten, stürzte die Welt in einen scheinbar nie enden wollenden Winter. Doch als die Wolken endlich aufbrachen und die ersten Sonnenstrahlen das kühle Gestein küssten, blühte das Leben wieder auf. Und wie es aufblühte! Die magische Explosion hatte die Flora und Fauna komplett verändert, die Evolution beschleunigt. Die Rassen, die einst die Welt bevölkerten, gab es nicht mehr. Ihre DNS wurde aufgeteilt, ihre Körper hatten sich verformt, die biologische Vielfalt war regelrecht explodiert. Nun wanderten Feen, Draclinge, Froks, Katzenmenschen, riesige Kakerlaken, Elfen, humanoide Kühe, Golems, Riesen und noch unzählige andere Völker über diesen einst toten Planeten.
Doch der Verlorene Kontinent, das Epizentrum der GME, veränderte sich am drastischsten. Wie bei einer Raupe durchlief auch der Kontinent eine Metamorphose. Und aus dem Kokon schlüpfte etwas Unheilvolles und Schreckliches.
Die Außenwelt hatte bis auf wenige Ausnahmen keinen Kontakt mehr mit dem als ›verflucht‹ geltenden Land. Doch Abenteurer, die sich ins Innere wagten und es schafften, lebend zurückzukommen, erzählten von Schätzen und mächtigen Artefakten, weshalb immer wieder Expeditionen finanziert wurden. Meistens waren die Erfolgschancen dieser Reisen sehr gering.
Die ›Flying Rabbit‹ nahm Kurs auf einen alten Hafen zu, in dessen Gewässer sich unzählige Schiffswracks türmten. Die ›Flying Rabbit‹ zitterte leicht. Auch Geisterschiffe haben Alpträume.
»Anscheinend haben wir einen Konkurrenten weniger«, bemerkte Franz. Der Rest der Crew gesellte sich zu ihm und schaute über die Reling. Sie sahen die ›Nave of Salvation‹, zertrümmert und aufgespießt von Bugs untergegangener Schiffsleichen. Von der Besatzung fehlte jede Spur.
Die ›Flying Rabbit‹ legte an dem verlassenen Hafen an. Adolphus schnappte sich die Karte und seinen Säbel. Pete nahm seinen Stab, Franz bewaffnete sich mit vier Steinschlosspistolen und Munition, Nadja machte sich auf dem Kopf von Adolphus bequem. Dann gingen sie an Land.
»Hau nicht ohne uns ab«, sagte Adolphus zur ›Flying Rabbit‹.
»Würde mir nicht einmal im Traum einfallen … Es wäre für mich vom Vorteil, wenn ihr lebend zurückkämet, schließlich hängt auch mein Überleben von eurem Erfolg ab.«
»Schön, dass wir das auch geklärt haben.« Adolphus wandte sich an seine Crew und schnippte mit seinen Fingern, um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten.
»So, meine lieben Freunde. Wir haben die erste Hürde unserer Reise überstanden …«
»Als Hürde würde ich es nicht bezeichnen, das war der leichte Part …«, kommentierte Franz.
Adolphus warf ihn einen wütenden Blick zu und fuhr dann fort. »Wie ich bereits sagte, wir haben die erste Hürde überstanden, doch nun steht ein wahrer Berg vor uns. Zur Stadt der Toten gelangen, das Artefakt bergen, bevor es die Ratte uns wegschnappt, und wieder rechtzeitig zurückkehren. Laut der Karte ist der Weg relativ geradlinig und sollte auch nicht allzu weit sein, doch wir sind auf dem Verlorenen Kontinent und da gestalten sich die Dinge schwieriger. Wir haben drei Tage Zeit und auf unseren Schultern lastet nur das Schicksal der gesamten Welt. Also: Bloß kein Druck.« Adolphus schaute in die wenig begeisterten Gesichter seiner Kameraden.
»Schöne Rede, Käptn«, antwortete Franz.
Die vier machten sich auf dem Weg zu ihrem Ziel. Vom Hafen führte ein schmaler Weg in einen düsteren Regenbogenwald, wo die Blätter alle möglichen Farben hatten. In früheren Zeiten, vor der Sache mit den Riesenbären, waren dieser Hafen und der Weg die einzige Verbindung zur Stadt der Toten, den letzten noch erreichbaren Handelsknoten des Kontinents. In friedlicheren Zeiten nutzten mutige Seefahrer und Händler den Weg, um an kostbare Waren wie Höllenfeuer und Ätherasche zu gelangen. Die Bewohner der Stadt hatten auch ein reges Interesse am wirtschaftlichen Austausch, schließlich kamen sie nur so an lebenswichtige Gegenstände wie Gold (die Leibspeise der Höllenbrut), Fetischen und fleischlichen Körpern.
Es gab auch einige Bewohner des Kontinents, die ihn sogar verließen und anderswo in der Welt ihr Glück suchten. Dazu gehörten bestimmte geometrische Formen (wie der Tetraederstumpf) und die Körper ohne Organe. Sie besaßen genug Intelligenz, um an der Gesellschaft teilzunehmen. Bei anderen Kreaturen und Wesen brauchte man es gar nicht erst zu versuchen, sie irgendwie zu integrieren.
Die Crew folgte dem Weg durch den Wald, was sich aufgrund des gelben Sandes als sehr einfach herausstellte. Links und rechts von ihnen wuchsen die markanten Bäume, die die Küste des Kontinents zierten. Man sollte sich nicht von ihren farbenfrohen Aussehen täuschen lassen, die Pflanzen waren hochgiftig! Es reichte häufig aus, ein einzelnes Blatt oder ein Stück der Rinde nur zu streifen, um einen qualvollen Tod zu sterben. Zuerst wachsen einem an der berührten Stelle bunte Blasen, diese breiten sich dann am gesamten Körper aus. Nach wenigen Stunden platzen diese auf und das Spiel beginnt von vorn. In der Regel lebte man nur noch ein bis drei Tage.
Bald begannen die Regenbogenpflanzen für ein anderes seltsames Gestrüpp Platz zu machen: Alphabetbäume. Dieses Gestrüpp bestand, wie der Name vielleicht bereits verriet, komplett aus winzigen Buchstaben, von A bis Z, manchmal auch aus anderen Schriftzeichen. An ihren Ästen hingen A-Früchte, B-Früchte, C-Früchte, D-Früchte etc. Essbar waren diese leider nicht. Es war, als befände man sich mitten in einer Zeitung oder in einem Buch … einem sehr wirren Buch.
Adolphus Ohren begannen plötzlich zu zucken. Er gab seiner Gruppe das Signal zum Anhalten und zog seinen Säbel.
»Was ist los?«, fragte Franz. Der Kapitän deutete ihn leise zu sein. In den Wäldern raschelte es, plötzlich schossen merkwürdige Objekte aus dem Busch auf die Gruppe zu.
»Ducken!«, rief Adolphus und alle schmissen sich auf dem Boden. Irgendetwas zischte messerscharf an ihnen vorbei.
»Was war das?«, rief Franz. »Herr im Himmel, beschütze deine Schafe!«, folgte von Pete.
Das Ding, was die Gruppe angriff, drehte nun wieder um. Jetzt konnte Adolphus erkennen, um was es sich handelte: ein Schwarm von kleinen Buchstaben, die Adjektive bildeten. Momentan waren die Wörter ›aggressiv‹ und ›wütend‹ zu lesen. Die Schriftzeichen vibrierten. Adolphus sprang auf und schrie: »Rennt! Rennt, so schnell ihr könnt!«
Sofort sprangen die beiden auf, Franz half sogar Pete auf die Beine. Der Schwarm Adjektive zischte hinterher, einige landeten im Boden, die restlichen nahmen die Verfolgung auf.
»Jetzt kann ich ›von Buchstabensalat verfolgt werden‹ von meiner Liste streichen. Danke, Adolphus. Danke, dass du mir all die tollen Erfahrungen verschaffst, die ich sonst nie hätte erleben dürfen!«, sagte Franz.
»Ich will ehrlich gesagt nicht herausfinden, was die mit uns machen, sollten sie uns erwischen. Fressen die uns? Zerschneiden sie uns in kleine Stücke? Müssen wir ein Kreuzworträtsel lösen?«, fragte Adolphus sich.
»Du kannst ja anhalten und es herausfinden!«
»Lieber nicht …« der Katzenmensch hörte lautes Summen in seinen Ohren, er schaute nach hinten und sah, dass der Schwarm langsam aber sicher aufholte. »In dem Tempo entkommen wir denen nie!«
»Lass mich das regeln, ich habe eine Idee!«
»Hoffentlich eine gute …«
»Vertrau mir, Käptn!«
Franz schnappte sich zuerst Adolphus, dann Pete und zu guter Letzt noch Nadja, die aufgeregt kreischte. Als er alle hatte, knickte er seine Beine ein und begann zu sprinten. Bei seiner Größe hätte man gar nicht vermuten können, zu welchen Höchstgeschwindigkeiten er fähig war. Und das Gewicht eines Katzenmenschen, einer Seemöwe und eines Kleinbullen machten ihn überhaupt nichts aus.
»Und dann heulst du rum, dass ich dich zu sehr belaste.« Adolphus hing wie ein nasser Sack in den starken Chitinarmen seines Partners.
»Ja, schon komisch. Muss das Adrenalin sein«, keuchte Franz.
Nach einiger Zeit, und sehr viel vergossenem Schweiß, verließen sie endlich den Buchstabenwald. Der Kakerlakenmann ließ seine Fracht unsanft auf dem Boden fallen, was diese mit einem lauten Stöhnen kommentierte. Franz musste sich erst einmal hinhocken. Sein Abdomen pumpte. Er strahlte eine Wahnsinnshitze aus.
»Scheiße, war das anstrengend …«, die Worte kamen nur schwerfällig aus seinen ›Mund‹ gekrochen. »Wenn das alles vorüber ist, brauche ich zwei Wochen Urlaub. Mindestens.«
»Bin ich dafür. Aber davor gehen wir alle saufen, geht auf meine Rechnung«, meldete sich Adolphus zu Wort, der immer noch schnaufend auf dem Boden lag.
»Einverstanden!«, rief Pete und erhob sich sofort.
»Sollten eigentlich nicht all deine Knochen gebrochen sein, du alte Kuh?«
»Gott …«
»Erspar mir das bitte. Es wird langsam langweilig.«
»Verfolgen sie uns noch?«, fragte Adolphus.
Franz Fühler zuckten, er schüttelte den Kopf. »Nein, sie haben sich komplett verzogen. Keine Spur von ihnen. Irgendetwas muss sie vertrieben haben.«
»Ich glaube, ich weiß, was der Grund ist. Sieh dich um.«
Die Gruppe stand auf einen weichen, roten, feuchten Boden. Dicke, pulsierende Venen schlängelten sich über die fleischige Paste. Unmögliche Knochenkonstruktionen ragten aus der Erde. Schlüsselbeine, Arm- und Beinknochen, Rippen bildeten elfenbeinfarbene Wälder, an den Ästen hingen Schädel in allen möglichen Formen. Die Luft war schwülwarm, rote Dämpfe stiegen aus dem Boden, der sich leicht hob und senkte, als würde er atmen.
»Lasst mich zusammenfassen: erst bunte, giftige Wälder, dann Wörterbuchbäume mit fliegender, aggressiver Buchstabensuppe und jetzt … Knochen und Fleisch. Ich weiß nicht, was ihr denkt, aber ich glaube, es gibt einen guten Grund, warum dieser Kontinent ›verloren‹ ist. Und ich schwöre bei allen Göttern, Heiligen und Kirchen, dass er hoffentlich verloren bleibt«, erklärte Franz.
Adolphus holte die Schatzkarte heraus und betrachtete sie angestrengt.
»Theoretisch …«
»Fängt schon mal gut an …«
»Theoretisch sollten wir noch auf dem richtigen Weg sein. Aber auf der Karte sind auch keine Fleisch- und Knochenwälder abgebildet. Das gestaltet die Navigation weitaus schwieriger als gedacht. Nadja?«
Die Seemöwe wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie erhob sich in die Lüfte und hielt Ausschau. In nicht allzu weiter Ferne erblickte sie mehrere graue Türme, die sich in den Himmel bohrten. Sie hatten Ähnlichkeiten mit Termitenbauten oder den Fingern von Toten, die erstarrt waren.
Nadja flog zweimal im Kreis und landete wieder auf Adolphus seinen ausgestreckten Arm. »Eine Stadt! Drei Steinwürfe entfernt! Ganz in der Nähe! Einfach geradeaus weiter!«, rief sie.
»Seht ihr? Wir sind auf dem richtigen Weg. Es ist nicht mehr weit«, sagte Adolphus.
»Drei Steinwürfe? Meint sie meine Würfe oder eure?«, fragte Franz.
Die Gruppe setzte ihre Reise durch den Blutknochenwald fort. Nach einiger Zeit begann Adolphus ein merkwürdiges Brummen zu vernehmen. Er kratzte und haute sich auf seine Ohren, doch das Geräusch wollte nicht verschwinden.
»Ist was?«, Franz schaute ihn an.
»Weiß noch nicht. Irgendwie hab ich Druck auf den Ohren. Nervig. Ich höre ständig irgendein Brummen. Hörst du das auch?«
»Nein, aber ich spüre etwas. Mein Exoskelett vibriert leicht.«
»Sehr merkwürdig.«
Sie gingen weiter, links und rechts von ihnen erhoben sich seltsame Skelettkonstruktionen aus dem Boden, elfenbeinfarbene Knochenbäume. Leere Augenhöhlen starrten sie an, verfolgten jeden ihrer Schritte. Manche von den Schädeln sahen sogar fast menschlich aus, doch die meisten waren unmöglich geformt. Einige waren förmlich von Zähnen überwuchert, andere hatten zehn Augen- und Nasenlöcher. Es gab welche mit Über- und Unterbiss, langgestreckten Schädeldecken oder riesigen Augen. Ab und zu erblickten sie auch zusammengewachsene Schädel – Zwillinge, Drillinge, Vierlinge.
In einiger Entfernung konnte Adolphus einen gigantischen Fleischberg sehen. Münder mit Zähnen öffneten und schlossen sich, dabei stießen sie irgendein rosa Gas aus. Augen rollten unkontrolliert, Venen pumpten unaufhörlich Blut … oder was auch immer sich darin befand. Und erst dieser Gestank, fürchterlich. Als würde man neben einem Massengrab stehen oder in einem explodierten Schlachthaus.
Je mehr sie sich dem Berg näherten, desto stärker wurde auch das Brummen. Aber nicht nur das, nun gesellte sich ein elektrisches Rauschen zu der Geräuschkulisse. Adolphus sein weißes Fell stellte sich auf. In den Gesichtern seiner Begleiter sah er ebenfalls Unbehagen. Selbst Franz sein starres Gesicht konnte die Angst und innere Unruhe nicht verbergen.
Sie hatten den Berg beinahe erreicht. Das Brummen schwoll zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen heran. Die Luft war elektrisch aufgeladen und knisterte. Als sie an dem Berg vorbeigingen, erkannten sie die Ursache für die merkwürdigen Geräusche.
»Heilige Scheiße!«, schrie Franz.
»Gott im Himmel hab Erbarmen«, Pete ging auf seine Knie und begann zu beten.
Nadja kreischte. Adolphus verzog das Gesicht zu einem Fauchen.
Hinter dem Berg befand sich ein gigantischer Polyeder. Und auch noch einer von der sehr schlimmen Sorte: ein Pentagonhexakontaeder. Das Formenwesen war mindestens so groß wie der Fleischhaufen neben ihn. Es schwebte einige Meter über den Boden. Seine unzähligen Flächen drehten und verzerrten sich, schlossen und öffneten sich. Es allein nur anzugucken, verursachte bereits Kopfschmerzen.
Die geometrischen Formenwesen, besonders die höherseitigen unter ihnen, waren ein Mysterium. Nur wenige hatten je eine Begegnung mit diesen merkwürdigen Kreaturen überlebt, und diejenigen, die es geschafft hatten, konnten nicht viel darüber berichten. Allein der bloße Anblick reichte aus, um gestandene Abenteurer in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Wesen sahen zwar nicht nach einer Bedrohung aus, konnten aber sehr schnell zur Gefahr werden, schließlich waren sie in der Lage jegliche Materie einfach auszulöschen. Und mit ›auslöschen‹ war nicht gemeint, dass dann ein Häufchen Asche von dem bemitleidenswerten Opfer übrig blieb, sondern wirklich ›auslöschen‹, im Sinne von ›aus der Existenz gelöscht‹, ›ausradiert‹, ›nicht mehr in dieser Dimension existent‹. Ein blitzartiges Aufleuchten und … weg war man.
Die Frage blieb auch offen, ob die höherseitigen Formenwesen in irgendeiner Form intelligent waren. Von ihren niedrigseitigen Vettern wusste man es ja, schließlich hatten sie es geschafft, sich in die restliche Gesellschaft zu integrieren. Aber die anderen waren anscheinend von einem brutaleren, primitiveren Gemüt, ausschließlich instinktgesteuert. Sie schienen auch in keiner Weise, nach Außen hin zu kommunizieren. Es sei denn, man wertete das Brummen und Rauschen als eine Form von Sprache.
»Wenn wir uns jetzt ganz langsam wegbewegen, haben wir vielleicht eine geringfügige Überlebenschance«, flüsterte Franz.
»Bloß nicht bewegen!«, zischte Adolphus. Er hatte genug von diesen Kreaturen gehört, um zu wissen, dass mit ihnen nicht zu spaßen war.
»Was willst du sonst tun? Hier stehenbleiben und warten?«
»Vielleicht verschwindet es ja wieder? Vielleicht nimmt es uns gar nicht wahr.«
»Wir wissen nicht einmal, ob das Teil überhaupt sehen kann!«
Das Pentagonhexakontaeder begann sich zu drehen, das Brummen wurde stärker.
»Was wird das jetzt?«, fragte Franz leise.
Plötzlich leuchtete ein heller Blitz auf. Adolphus schloss schnell seine Augen. Das gleißende Licht schmerzte. Er hörte Nadja schreien und Pete aufstöhnen. Die Umgebung hatte sich förmlich in seine Netzhaut gebrannt, noch immer konnte er ein Abbild von ihr sehen. Als die Schmerzen nachließen, öffnete er langsam wieder seine Augen.
Pete kroch am Boden und jaulte. Nadja kreischte unaufhörlich. Adolphus sah sich um, von Franz war keine Spur zu sehen. Entsetzen schlich in seine Brust.
»Franz?«, rief er. Doch niemand antwortete. Tränen stiegen in seine Augen. Panik machte sich in ihm breit.
Doch das Pentagonhexakontaeder ließ ihm keine Zeit zu trauern. Es begann nun zu vibrieren, das Brummen steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Geheul, es wurde zu einer auf- und abschwellenden Sirene. Die Luft knisterte vor Elektrizität.
Adolphus musste handeln, und zwar sofort. Er riss Pete auf die Beine und schüttelte Nadja. Sie mussten sich beruhigen, ihr aller Überleben hing davon ab.
»Wir müssen los, schnell! Wenn ich sage ›jetzt‹, dann laufen wir alle so schnell wie möglich. Wir schauen nicht nach hinten, wir hören nicht auf zu rennen! Verstanden?«, schrie Adolphus. Pete nickte zögernd, er schien zu verstehen. Die Seemöwe nickte ebenfalls.
»Gut«, er schaute zum Formenwesen, seine Oberfläche kräuselte sich. Wahrscheinlich kein gutes Zeichen.
»Jetzt!«, rief er und die Truppe rannte wie von der Tarantel gestochen los. Sie hörten ein Kreischen wie zerreißendes Metall. Ein geometrisches Brüllen.
Sie schafften es in einen dichteren Teil des Knochenwaldes. Das Wesen zerstörte die Bäume einfach, sie knickten um oder zersplitterten. Währenddessen heulte und brummte die Kreatur. Adolphus erblickte eine Höhle in einem Fleischberg und manövrierte seine Gruppe dort hinein.
Sie schmiegten sich an die feuchte, warme Wand und hielten den Atem an. Das Pentagonhexakontaeder schwebte an den Höhleneingang vorbei, das Brummen und Rauschen wurde stetig leiser und verschwand letztlich völlig.
Langsam wurde es dunkel draußen. Adolphus entschied, dass sie die Nacht erst einmal hier verbringen sollten. Es wäre reiner Selbstmord, im Dunkeln durch diesen tödlichen Wald zu stolpern. Besonders wenn tollwütige Formenwesen ihr Unwesen hier trieben. Und wer wusste schon, was für Gefahren da noch zwischen den elfenbeinfarbenen Bäumen lauerten.
Pete genehmigte sich einen großzügigen Schluck aus seinem Flachmann. Entgegen seiner sonstigen Natur teilte er sein heiliges Getränk mit den anderen beiden, die es dankenswerterweise annahmen. Selbst Nadja trank einen Schluck.
»Dies sollte die Nerven etwas beruhigen«, sprach der Priester. Sein Blick war müde, erschöpft, traurig. Von seiner unbekümmerten Fröhlichkeit war nichts zu sehen. Er faltete die Hände zum Gebet und murmelte leise vor sich hin. Sobald er genug intus hatte, wirkte er mehr wie ein ernstzunehmender Priester. Der Einfluss des Alkohols gestattete einem einen Blick auf einen anderen Petrus, einen dessen Gehirn noch nicht vom süßen Gift zerfressen war. Einen jungen Priester, dessen religiöses Gerede einst Sinn ergab, der seine Schafe in der Stunde der Not selbstbewusst in Sicherheit leiten konnte. Doch diese Tage waren längst vergangen, nun war mehr eine ausgelaugte Hülle seines früheren Selbst. Ein Schatten im Gewand eines Priesters, der seine Aufgabe vergessen hatte.
Adolphus konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als Franz, ›Flying Rabbit‹ und er diesen verwirrten alten Mann aufgegabelt haben. Es war ein stürmischer Tag, es regnete wie aus Eimern, als hätten sie oben im Himmel die Schleusen geöffnet. Franz und er suchten Unterschlupf in einer alten, heruntergekommenen Kirche. Sie sah so aus, als wäre sie seit geraumer Zeit nicht mehr in Benutzung gewesen. Die Buntglasfenster waren zertrümmert worden, Teile des Daches waren eingestürzt. Viele der Bänke existierten gar nicht mehr.
Die beiden Abenteurer begaben sich zum Altar, wo sie eine überraschende Entdeckung machten. Dahinter befand sich ein zusammengekauerter Bulle in Priesterkleidung, der Franz und Adolphus verwirrt anschaute. Er zitterte leicht, seine Kleidung war zerrissen, sein Fell völlig verfilzt. Er erhob sich langsam und stellte sich mit seinem ellenlangen Namen vor. »Ihr könnt mich aber Pete nennen«, sagte er zum Schluss.
»Meine Schäfchen«, fuhr er fort, »ihr seid zu mir zurückgekehrt.«
Franz, wie der nihilistische Atheist der er war, wollte zuerst gar nichts von der Idee hören, den alten kauzigen Priester mitzunehmen.
»So einer kommt mir nicht aufs Schiff. Der faselt die ganze Zeit nur von Gott und seinen komischen, unverständlichen religiösen Texten. Nachher will er uns noch konvertieren. Nein, Priester sollen gar nicht erst in meine Nähe kommen.«
»Franz, er ist ein alter, verwirrter, einsamer Mann. Wir können ihn doch nicht einfach hier zurücklassen. Außerdem … einen Magier, und dazu auch noch ein Heiler, am Bord des Schiffes zu haben, kann sich als sehr nützlich erweisen. Siehe es doch mal von der Seite. Du musst ja nicht mit ihm reden oder seine Religion akzeptieren, du brauchst ihn nur zu tolerieren.«
»Du verlangst sehr viel von mir, Adolphus.«
»Was hast du nur gegen Geistliche?«
»Sie sind allesamt Scharlatane, Betrüger, Manipulierer. Sie interessieren sich nur für Geld und Macht, nicht für die Werte ihrer Religion. Sie sind Parasiten, die ihre Anhänger aussaugen. Und muss ich dich daran erinnern, dass Rasputin der Falsche wahrscheinlich auch ein Priester war?«
»Was hat das damit zu tun?«
»Er könnte ein Rasputinist sein!«
»Das halte ich doch für sehr unwahrscheinlich. Ich mein, sieh ihn dir an. Er ist eine alte Kuh. Wahrscheinlich dement. Was kann er schon tun?«
Und damit war die Sache geklärt, Pete wurde ein Teil der Crew. Auch wenn Franz alles andere als glücklich darüber war.
»Ihr Jungs habt nicht zufällig am Bord etwas Gottessaft zu trinken, oder?«, fragte der Priester noch, bevor er das Schiff betrat.
Nun war das Quartett nur noch ein Trio. Franz war … nun, er war nicht nur tot, er war weg. Ihn gab es einfach nicht mehr. Alles, was ihn ausmachte, wurde aus dieser Dimension gelöscht. Es gab nichts, was man beerdigen könnte. Das erfüllte Adolphus mit noch größerer Trauer.
»Franz hatte seine Irrwege, doch auch er wird vor dem Schöpfer treten und liebevoll aufgenommen werden. Schließlich ist im Himmel Platz für alle Kinder Gottes … auch wenn sie seinen Namen verrufen hatten«, sprach Pete leise. Sein Gesicht sah müde aus. Er schloss die Augen und begann zu schlafen.
Nadja hatte sich an Adolphus angekuschelt und schlummerte auch bereits. Adolphus seine Gedanken kreisten um den Verlust seines Gefährten. Er überlegte, ob er es hätte besser machen, ob er das Resultat hätte verhindern oder ändern können. Wahrscheinlich nicht. Gegen solche Kreaturen half auch die beste Vorbereitung nicht.
Adolphus wünschte, er hätte ein Feuer machen können. Nicht weil ihm kalt war, die Höhle sonderte genügend Wärme ab, sondern damit es wenigstens etwas Licht, etwas Helligkeit gab, etwas um diese erdrückende Dunkelheit zu vertreiben. Doch er wollte nicht riskieren, dass irgendeine Kreatur (besonders kein Formenwesen) das Feuer sah.
Die Nacht war erfüllt von merkwürdigen Geräuschen, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Adolphus wollte gar nicht wissen, wie die Verursacher des Lärms aussahen. Er schloss die Augen und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen wachte er als erstes auf und begann die anderen aus ihren Schlummer zu reißen. Widerwillig erhoben sie sich. Pete öffnete seinen Flachmann und genehmigte sich erst einmal einen großen Schluck.
»Okay«, begann Adolphus. »Wir haben noch einen guten Fußmarsch bis zur Stadt der Toten vor uns. Wir sollten uns beeilen. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Das Trio begab sich auf dem Weg. Das Pentagonhexakontaeder ließ sich nicht blicken und auch andere monströse Kreaturen waren nirgends zu sehen, der Knochenwald war wie ausgestorben.
Bald schon erreichten sie die Grenze der Fleischzone. Endlich bestückte normales, grünes Gras den Boden. Zumindest hofften sie, dass es normales, grünes Gras war, aber man konnte sich ja nie sicher sein. Die Stadt der Toten erhob sich vor ihnen. Adolphus konnte die graue Stadtmauer sehen, die den Ort umrandete. Sie schien aus unzähligen Grabsteinen zu bestehen, die irgendjemand aneinandergefügt hatte. Sie stammen aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen und zeigten verschiedene Stadien des Verfalls, fast so, als wäre jemand um die Welt gereist und hätte Grabsteine gesammelt. Manche der Grabmale waren mit Totenköpfen verziert, manche mit verschiedenen Kreuzen, andere hatten lange Inschriften und wiederum andere waren völlig blank.
Leider machte die Gruppe eine weitere furchtbare Entdeckung. Das Luftschiff des anderen Teams war kurz vor der Stadt abgestürzt und in den Boden gekracht. Das Fluggefährt war völlig zerstört, verbogene Metallstangen ragten aus der zerfetzten Hülle. Daneben befand sich eine Ansammlung von Pfählen. Sie konnten Roharaman sehen. Er war aufgespießt worden, genau wie der Rest seiner Crew. In der Mitte der Pfähle war ein lodernder Scheiterhaufen, um den sich, wie es schien, eine Gruppe von Dämonen versammelt hatte. Einer von ihnen drehte sich um. Er hatte drei Gesichter, vier Beine und fünf Arme, die willkürlich am schlanken Körper angebracht waren. Seine Haut war mit grauen Metallringen überzogen, die im Schein des Feuers glänzten. Seine spiralförmigen Augen betrachteten Adolphus argwöhnisch. Er leckte sich die Bleizähne mit einer rasiermesserscharfen Zunge.
»Na ja, dann liegt es wohl an uns«, flüsterte der Käptn leise. Pete wandte den Blick von dem Lynchmob ab.
»Sag mal, Pete … Was weißt du eigentlich über die Stadt der Toten?«
Der Priester hielt kurz inne. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als würde er schreckliche, längst verschüttete Erinnerungen wieder ausgraben.
»Mein Kind, es ist ein furchtbarer, verfluchter Ort. Es ist das verfaulte, schlagende Herz des Okkultismus. Die Wände zwischen den Welten sind dort am dünnsten. Alles, was Rang und Namen in der Hölle hat, trifft sich dort. Egal, ob nun der kleinste Zwergdämon oder die Fürsten der Dreizehn Kreise. Jeden kannst du dort antreffen. Geister, Banshees, Sensenmänner, Vampire, Liche und der Abschaum der Unterwelt gehen dort ein und aus. Nekromanten, Wahrsager, Schwarzmagier, Medien und andere Okkultisten pilgern hierher, um ihre unaussprechlichen Rituale auszuführen, zu handeln und sich zu vernetzen. Ja, wahrlich. Es ist ein schrecklicher Ort, dem man am liebsten meiden möchte, doch unsere Reise zwingt uns, dorthin zu wandern. Direkt ins Herz des Herzens.«
»Warst du schon einmal hier?«, fragte Adolphus.
Pete schwieg.
Sie gingen durch einen großen Torbogen hindurch und sahen, dass er im Inneren mit Schädeln gefüllt war. Das erste, was Adolphus spürte, als er über die Schwelle trat, war ein kalter Hauch, wie der Atem eines Toten.
Die Ziegelsteinhäuser in der Stadt waren allesamt aschgrau. Es gab keine einheitliche Architektur, die Gebäude schienen aus verschiedenen Kulturen und Zeiten gerissen worden zu sein. Passend zur Stadtmauer.
Auf der gepflasterten Straße sah Adolphus ein paar blauleuchtende, geisterhafte Schemen umherwandern. Niemand wusste genau, warum die Toten und andere okkulte Geschöpfe ausgerechnet diesen Ort ersucht haben, warum sie sich gerade hier versammelten. Bisher konnte auch nicht die Frage geklärt werden, was die Dämonen hier trieben und wie sie an die Oberfläche kamen. Manche vermuteten, dass sich unter der Stadt ein gewaltig langer Schacht befand, der geradewegs zur Hölle führte.
Adolphus schaute auf die Schatzkarte. »Laut dem Teil hier befindet sich in der Mitte der Stadt ein Tempel und dort ist auch das Artefakt.« Er schaute auf. »Ja, da hinten ist er. Geradewegs zu. Das Herz des Herzens.«
Ein wenig weiter nördlich ragte das Gebäude empor. Aufgrund seiner sehr markanten Architektur stach es stark aus dem Mischmasch der Stadt hervor. Es handelte sich um ein großes Kuppelgebäude, riesige Säulen gingen einmal um den Tempel herum. Zwei Statuen von Menschen in Kapuzenmänteln bewachten den Eingang.
Die drei Abenteurer machten sich auf den Weg. Adolphus ließ das Gefühl nicht los, als würden sie beobachtet werden. Doch jedes Mal, wenn er die geisterhaften Schemen anschaute, wandten sie sich ab, mieden seinen Blick.
An einer Straßenecke sah er, wie ein verfaulter Untoter in schwarzen Lumpenkleidern mehrere rote Phiolen an eine monströse Kreatur mit struppigen braunen Fell, welche sich auf zwei langen, geflügelten Vorderarmen abstützte, überreichte und dafür anscheinend Geld erhielt. Der Vampir, manche bezeichneten sie auch als ›Werfledermäuse‹, drehte seinen breiten Kopf mit den riesigen Ohren zu Adolphus. Die plattgedrückte Nase pumpte vor Erregung, zwei kleine schwarze Knopfaugen starrten ihn lüstern an, Speichel floss an den spitzen Reißzähnen entlang. Adolphus wandte sofort den Blick ab. Es lief ihm kalt den Rücken hinunter.
Die Schemen auf der Straße wurden immer zahlreicher. Sie betrachteten neugierig die Fremdlinge und schauten auch nicht mehr weg, wenn man sie anschaute. Adolphus fand, dass sie einen traurigen Anblick baten. Sie sahen müde aus, als würde sie die Existenz in der sterblichen Welt ermüden.
»Was hält diese Geister eigentlich noch hier?«, fragte er Pete flüsternd.
»Dafür gibt es unterschiedliche Gründe«, erklärte er. »Manche haben unerledigte Geschäfte, andere bekamen nie ein vernünftiges Begräbnis.«
»Das kann ein Grund sein?«
»Ja, mein Kind. Unterschätze niemals die Macht der Rituale! Wir Priester dienen nicht nur als Vermittler zwischen Gott und den Sterblichen und als Interpretierer der heiligen Texte, sondern kümmern uns auch um die Begräbnisse. Wir geben den Sterbenden ein letztes Gebet, nehmen ihre Beichte ab, pflegen sie und begraben sie den Regeln entsprechend, sodass sie ihre ewige Ruhe finden können. Doch leider sterben viele Schafe so, dass das letzte Ritual nicht ausgeführt werden kann. Ermordete, Unfalltote. Leute, die einsam an einer Krankheit zugrunde gehen. Ihre sterbliche Hülle liegt irgendwo in der Welt, die Seele findet keine Ruhe und kehrt deshalb als Geist zurück.«
»Und wie kann man das beheben?«
»Es ist recht einfach: Die Überreste müssen ordnungsgemäß beerdigt werden.«
»Aber dazu muss man die Überreste erst einmal finden, nicht wahr?«
Pete nickte zustimmend.
»Und wie ist es mit den ›unerledigten Geschäften‹?«
»›Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen‹, ist nicht nur ein Spruch, den die alten Mütter immer predigten, sondern eine Weisheit. Deshalb ist es sehr wichtig, ein Testament zu schreiben, damit deine Nachkommen deine unvollendeten Aufgaben erledigen können.«
»Verstehe …«
Adolphus sah plötzlich in der Menge der Geister ein bekanntes Gesicht. Er rieb sich die Augen, nur um sicherzugehen, dass es kein Irrtum war. »Bleibt mal kurz hier«, sagte er zu Pete und Nadja und rannte zum Schemen hin, doch der wandte sich ab und ging. Adolphus folgte ihm in die Gasse.
»Warte!«, rief er hinterher. »Ich möchte nur mit dir reden!«
Der Geist hörte ihn nicht und rannte (schwebte?) einfach weiter. Kurz bevor der Katzenmensch ihn erreichen konnte, verschwand er in einem Haus, indem er schlichtweg durch die geschlossene Tür ging. Adolphus hämmerte wie wild, bevor er merkte, dass sie gar nicht abgeschlossen war. Er klatschte sich an die Stirn, öffnete die Tür und ging hinein.
Das Haus war eine Bruchbude, überall lagen kaputte Möbel, Spinnweben hingen von der Decke, die Luft roch abgestanden, zerbrochenes Glas lag am Boden verstreut. Adolphus sah den Schemen in der Mitte des Raumes, ihre Blicke trafen sich.
»Hallo, Sohn«, sprach der Geist traurig.
Adolphus spürte, wie ihm die Tränen hochkamen. Unsicheren Schrittes näherte er sich der Erscheinung. Seine Arme und Beine zitterten, seine Lippen bebten. Wie lange hatte er ihn schon nicht mehr gesehen? War es bereits zwanzig Jahre her, seit sich ihre Wege für immer trennten?
»Vater …«, Tränen kullerten Adolphus pelzige Wangen hinunter. Er war sich absolut sicher. Der Geist vor ihm war sein leiblicher Vater. Er sah genauso aus wie an dem Tag, an dem er Adolphus verließ. Er trug ein weites, weißes Hemd, die Leinenhose und die hohen Stiefel (ähnlich dem Outfit, welches Adolphus heute trägt). Am linken Ohr hing ein Ohrring, das rechte Auge wurde von einer Augenklappe verdeckt. Er war fast eine ältere 1:1-Kopie.
»Sohn«, begann der Geist. »Es ist eine Schande, dass du mich jetzt so sehen musst … dass ich dir diesen Anblick biete.« Adolphus stand direkt vor seinem Vater, er berührte ihn, doch die Erscheinung verschwomm einfach wie die Oberfläche von Wasser.
»Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid. Ich wünschte, ich hätte dich noch einmal sehen, dich noch einmal in den Arm nehmen können.«
»Wo warst du all die Jahre? Warum bist du verschwunden?«
Der Geist schüttelte den Kopf. »Ich war dumm und naiv. Dachte, ich könnte das große Geld machen. Könnte dir zu einem besseren Leben verhelfen. Aber ich habe euch im Stich gelassen, wie der Versager der ich bin … Sag, wie geht es deiner geliebten Mutter?«
»Sie ist gestorben … vor zwölf Jahren.«
»Oh …«
»Ja, die Krankheit hat sie zugrunde gerichtet. Sie hat lange durchgehalten, aber letztendlich …« Adolphus Atem war schwer, seine Augen waren wässrig. Es waren Erinnerungen, die er eigentlich verschlossen hatte. Nun kamen sie wieder hoch.
»Sie war schon immer ein zartes Blümchen … Nun, denn. Dann ist die Chance wahrscheinlich sehr groß, dass ich ihr eines Tages begegnen werde.«
Adolphus wischte sich die Tränen vom Pelz. »Sie wird dir eins überbraten, wenn sie dich sieht. Und dir dann eine sehr lange Standpauke halten.«
Sein Vater lachte, es klang eingerostet. »Ja, das wird sie. Und ich habe es mehr als nur verdient. Sag, mein Sohn … was ist aus dir geworden? Wenn ich schon mal die Möglichkeit habe, mit dir zu sprechen.«
»Nun, ich war eine Zeitlang Koch auf einem Piratenschiff, bis ich den Schatz des Käptn verzockt habe.«
Sein Vater lachte noch lauter. »Ganz wie dein alter Herr. Du hast anscheinend nicht nur mein gutes Aussehen, sondern auch meine Laster geerbt. Und was ist dann passiert?«
»Ich habe meine eigene Crew gegründet. Sogar mit einem Schiff. Und wir umsegelten die Kontinente, erlebten Abenteuer, fanden Schätze und verloren sie wieder.«
»Das freut mich zu hören.«
»Leider habe ich bereits ein Mitglied verloren. Meinen besten Freund … ausgelöscht von diesen schrecklichen Formenwesen.« Die Trauer und die Wut um den Verlust von Franz brachen wieder auf.
Der Geist versuchte eine Hand auf Adolphus Schultern zu legen. Als er sah, dass es nicht richtig klappte, deutete er die Geste nur an. »Mein Sohn, leider bleibt das nicht aus. Wir haben diesen Lebensweg gewählt, mit all seinen Konsequenzen. Wir leben gefährlich und wir verlieren Leute, die uns am Herzen liegen. Ich weiß es. Aber nur weil sie gestorben sind, heißt das noch lange nicht, dass sie auch endgültig verschwunden sind. Sie leben in unseren Erinnerungen weiter. Und die Erinnerungen kann dir niemand nehmen.«
»Danke …«
»Keine Ursache. Es ist zwar zu spät, um die Vaterrolle wiederaufzunehmen, aber …«
»Besser spät als nie.« Adolphus lächelte.
»Genau … Aber sag mal … Was treibst du eigentlich in dieser gottverlassenen Stadt?«
»Wir müssen die Welt retten, anscheinend steht die Apokalypse bevor. Und hier befindet sich die Lösung dafür.«
»Ich hörte davon. Harte Sache. Die Dämonen sprechen von nichts anderem.«
»Tun sie euch eigentlich was an?«
»Nein, nein. Wenn man sie näher kennenlernt, dann sind sie … ich will nicht sagen ›nett‹, aber zumindest tolerierbar. Die meisten spucken große Worte, aber sind eigentlich nur Schall und Rauch. Und uns Geister können sie eh nichts anhaben. Wir sind ja bereits tot.« Er lachte.
»Da bin ich erleichtert … sagtest du, ›die meisten‹?«
»Ja, es gibt auch ein paar fiese Kandidaten. Die lassen auf ihre Worte auch Taten folgen. Schubsen die kleineren Dämonen durch die Gegend, manchmal fressen die sie auch. Monströse, wahnsinnige Kerle. Hab noch nie was Vergleichbares gesehen. Mein Sohn, wenn du solche siehst, dann nimm die Beine in die Hand, wenn dir dein Leben lieb ist. Sonst landest du auch hier. Ich mein, dann können wir zwar mehr Zeit miteinander verbringen, aber ich möchte auch, dass du ein erfüllteres Leben hast als ich.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich hab mich schon aus brenzligeren Situationen gerettet.«
»Das will ich hören. Und bevor du gehst, weil wahrscheinlich hast du es ziemlich eilig, Stichwort ›die Welt retten‹, möchte ich dir noch eins sagen: Ich bin stolz auf dich, Adolphus. Du bist zu einem mehr oder weniger vernünftigen, erwachsenen Kater geworden. Sieh dich nur an. Was kann ein Vater sich mehr wünschen? Aber lass die Finger vom Spielen, das bringt dich nur in Teufelsküche. Ich muss es wissen.« Sein Vater lachte, diesmal klang es sehr herzig.
»Danke, Vater«, wieder standen Adolphus die Tränen in den Augen, Freudentränen. Er warf noch einmal ein Blick auf sein Gegenüber und sagte dann: »Gut, dann verschwinde ich mal lieber. Du weißt ja, die Welt retten und so.«
»Mach das, mein Sohn. Ich wünsche dir viel Erfolg.«
»Hoffen wir auf das Beste. Kann ich noch was für dich tun? Dich von deinem Schicksal erlösen?«
Der Geist schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen. Du kannst mir nicht mehr helfen. Meine Leiche liegt zusammen mit meinem Schiff am Grund des Meeres und ist jetzt wahrscheinlich Futter für Krabben und Aale. Also, geh und rette die Welt.«
»Das werde ich, Vater.«
»Und noch etwas: Ich liebe dich. Und ich bereue es, dass ich dir das nicht öfters gesagt habe.«
»Ich liebe dich auch.«
Adolphus begab sich zur Tür, doch bevor er ging, drehte er sich noch einmal um und fragte: »Eine letzte Sache: Wie hieß das Schiff, auf dem du gearbeitet hast?«
»Flying Rabbit. Wieso?«
Adolphus lächelte. »Nur so, kein spezieller Grund. Wir sehen uns, Vater. Mach`s gut.« Und damit schloss Adolphus die Tür hinter sich zu.
Er ging zu seinen beiden verbliebenden Freunden zurück. Nadja landete wieder auf seinen Arm.
»Gut, gehen wir weiter«, sagte er mit einem Grinsen im Gesicht.
Sie marschierten zum Tempel. Von nahen wirkte er sogar noch imposanter. Und selbst aus diesen Mischmasch aus architekturalen Stylen stach er heraus. Adolphus fragte sich, wieso ausgerechnet dieses Gebäude die GME überstanden hatte. Eigentlich hätte es genauso zerstört werden sollen wie alles anderen auf diesem Kontinent. Aber entgegen aller Erwartungen stand es, sogar relativ unbeschädigt.
Die drei gingen hinein, drinnen war es schummerig. Nur wenig Tageslicht drang hinein. Doch auch dieser Ort war nicht von Plünderungen verschont geblieben. Kostbare Vasen und andere Gefäße lagen zertrümmert auf dem Fliesenboden. Die Wände, und sich darauf befindende Kunstwerke, waren mit Obszönitäten bekritzelt worden, wahrscheinlich steckten dahinter die Dämonen. Oder betrunkene Abenteurer.
»Woher wissen wir eigentlich, ob die Waffe noch hier ist?«, fragte Nadja. Ihre laute Stimme schallte in den leeren Hallen des Tempels.
»Gute Frage. Wir werden es wahrscheinlich erst wissen, wenn wir sie mit eigenen Augen gesehen haben.«
Petes Stab hallte bei jeden Schritt, Adolphus war merklich angespannt. Er war auf der Hut, aus dem Schatten könnte jederzeit irgendeine Kreatur springen und sie überwältigen. Er hatte keine Lust mehr auf Verluste. Der eine hat gereicht.
Bald schon erreichten sie einen großen, runden Raum. Sie schienen sich nun direkt unter der Mitte der Kuppel zu befinden, von oben fiel Tageslicht hinein. Ringsum standen aus weißen Marmor gefertigte Sessel, dreizehn an der Zahl. Nördlich vom Eingang befand sich ein riesiger Stuhl, dreimal so groß wie Adolphus. Auf ihm saß das Skelett eines Riesen, gekleidet in einer verblichenen, verfallenen lila Robe. Ihnen fiel auf, dass überall auf dem Boden die Überreste von Magiern lagen. Sie alle trugen die gleiche Kleidung.
»Seltsam, ich ging immer davon aus, dass die Riesen erst nach der GME und nach dem ›Langen Winter‹ auf der Erde erschienen. Doch hier sitzt einer«, sagte Adolphus.
Pete antwortete: »Die Zeit der ›Alten Magier‹ ist voller Mysterien und wir werden wahrscheinlich nie die ganze Wahrheit über sie wissen. Vielleicht gab es schon damals riesenhafte Geschöpfe.«
In der Mitte des Raumes stand das Objekt, das Ziel ihrer langen Reise: das Artefakt zur Vernichtung der Riesenbären. Es lag unangetastet auf einem ebenfalls aus Marmor bestehenden Podest und hatte die Form einer gläsernen Pistole, die leicht blau schimmerte. Adolphus ging hin und wollte die Waffe gerade an sich nehmen, als Nadja schrie: »Falle! Falle!«
»Ja, mein Kind. Wir sollten vorsichtig sein. Die ›Alten Magier‹ waren gewiefte Wesen.«
»Ich bin mir sicher, welche Verteidigungsmechanismen auch immer existieren, sie funktionieren nicht mehr. Es ist zehntausende von Jahren her, seit hier irgendetwas in Betrieb wahr«, antwortete Adolphus und nahm die Pistole. Und zur großen Überraschung von Pete und Nadja stürzte das Gebäude nicht ein und es wurden auch keine tödlichen Fallen ausgelöst.
»Seht ihr Leute, kein Grund zur Sorge. Das war einfacher als gedacht.«
Nadja landete auf seinem Kopf und rief: »Und wie funktioniert es?«
Adolphus betrachtete die merkwürdige Apparatur in seinen Händen, drehte sie hin und her, schaute sie von allen Seiten an. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich zielt man auf etwas, drückt ab und dann … boom. Hoffe ich zumindest. Aber das soll nicht unser Problem sein, die Lords und Ladys von Kanbao werden schon wissen, was zu tun ist.« Er befestigte die Waffe an seine Hose. »Nun denn, meine Freunde. Hauen wir von diesem trostlosen Ort endlich ab und retten die verdammte Welt.«
Sie verließen den Tempel wieder, dieses Mausoleum einer verstorbenen Zeit, und machten sich auf dem Weg zum Stadteingang. Adolphus ging davon aus, dass der Rest nun ein Kinderspiel sein wird. Die größte Hürde lag hinter hinten, nun war die Hauptaufgabe nach Kanbao zurückzukehren. Leider lag er etwas daneben.
Das Stadttor wurde von einer Horde von Dämonen versperrt. Sie kamen in allen möglichen Formen und Farben. Manche von ihnen waren geflügelte rattenartige Geschöpfe, ungefähr so groß wie Nadja. Andere sahen aus wie Tiere, die mit Maschinen verschmolzen waren. Einer der Dämonen kam Adolphus bekannt vor, es war der mit den drei Gesichtern, der wahrscheinlich für die Hinrichtung von Roharaman und seiner Crew verantwortlich war.
In der Mitte stand der Anführer der Gruppe, der seine Mitstreiter um mehrere Köpfe überragte. Er hatte einen muskulösen Körper, dessen Haut von Haifischzähnen bedeckt war. Seine vier Arme endeten in scharfen Metallklauen. Gesichtszüge waren keine zu erkennen, denn sein gesamter Kopf war von Hörnern überwuchert.
»Wollt ihr etwa unsere kleine Gemeinde bereits verlassen?« Seine Stimme klang wie das tiefe Dröhnen von antiken Maschinen.
»Entschuldigung, und du bist?«, fragte Adolphus.
Der große Dämon lachte, ein Geräusch so angenehm wie ein Erdrutsch. »Frech, die kleine Scheißkatze. Aber auf eine gewisse Weise hat sie schon recht. Wo bleiben denn meine Manieren. Ich bin«, wie auch immer der Name lautete, weder Pete noch Adolphus verstanden ihn. Sie wussten nur, dass er scheußlich war, wie eine Aneinanderreihung schrecklicher Sünden und Flüche. »Kommandant unter dem Fürsten des Vierten Kreises.« Er verbeugte sich.
»Schön für dich, aber wir haben es ziemlich eilig, also könntest du dich bitte mit deinem Anliegen beeilen?«
»Du scheinst den Ernst der Lage nicht ganz zu begreifen, oder? Für einen gescheiterten, spielsüchtigen Piratenkoch spuckst du ziemlich große Töne.«
Adolphus funkelte ihn böse an.
»Und wir wissen, dass ihr es eilig habt. Sieben Tage, um die Welt vor geleeartigen Riesenbären zu retten. Und euch rennt die Zeit davon. Wir allerdings wissen bereits, dass eure kleine jämmerliche Schatzsuche vergeblich ist. Eure Welt ist dem Untergang geweiht und wir werden auf der Asche der Toten tanzen. Außerdem«, er schaute zu Pete, »haben wir noch eine Rechnung offen. Nicht wahr, Petrus? Du weißt ja, wir begleichen immer unsere Schulden. Es erstaunt mich übrigens, dass du nach all den Jahren des Saufens immer noch lebst.«
»Pete, was meint er damit?«, Adolphus wandte sich an seinen Freund. Pete nahm einen letzten großen Schluck aus seinem silbernen Flachmann und schmiss ihn dann weg.
»Es ist schon so viele Jahre her …«
»Einhundert Jahre sind bereits vergangen, seit du in diese Stadt kamst und in unsere Heimat eindrangst. Und was hat es dir gebracht außer Kummer?«
»Ich wollte nur meine Herde zurückhaben.«
Der Dämonenkommandant lachte laut auf. »Ja, das wolltest du. Nur zu schade, dass sie in der Hölle schmoren. Für immer unerreichbar für dich.«
Pete trat einen Schritt vor und schaute den Dämon finster an. »Das ist eine Lüge und das weißt du!«
Das Lachen verstummte abrupt.
»Ich sah diese trostlose Landschaft, die ihr ›Heimat‹ nennt. Sie ist nahezu leer, bevölkert nur von eurer abscheulichen Art. Ihr sitzt einsam in eurer kalten Wüste, werkelt an euren diabolischen Maschinen aus Fleisch und Metall, weil ihr nichts anderes zu tun habt, und trauert dem Tag nach, an dem ihr aus dem Himmel fielt und das glorreiche Licht Gottes euch entzogen wurde.«
»Gott schläft. Er hat sich längst von euch abgewandt«, knurrte der Riese.
»Eine weitere Lüge aus deinem Maul.« Adolphus sah etwas Erstaunliches. Er sah, wie Pete vor dem Dämon trat und sich aufrichtete, den Rücken gerade streckte. Er nahm seinen Stab empor und richtete ihn auf den Kommandanten. Nun sah er wirklich um viele Jahre jünger aus, ähnelte in keiner Weise der alten, dementen, betrunkenen Kuh, die Adolphus kennengelernt hatte.
»Hör mir zu, Geschöpf der Hölle. Mein Name ist Petrus Andreas Jakobus Johannes Philippus Bartholomäus Matthäus Thaddäus Simon Matthias Iskariot III.! Ich bin ein ehrwürdiger Diener Gottes und in Seinem Namen befehle ich dir: Lass uns vorbei!«
Der Dämon trat einen Schritt zurück. Die Blicke seiner Mitstreiter wechselten nervös zwischen ihren Kommandanten und dem Priester hin und her. Der Anführer begann leise zu lachen, doch es klang leicht verzweifelt. »Und was ist, wenn ich dir nicht gehorche? Was machst du dann, du Made?«
»Dann wirst du lernen, was es heißt, zu brennen! Dann möge dich der gerechte Zorn des Allmächtigen treffen!«, sprach Pete mit lauter, selbstbewusster Stimme.
»Wenn ich mit dir fertig bin, dann lutschst du Schwänze in der Hölle! Dafür werde ich persönlich sorgen«, schrie der Dämon wutentbrannt und stürmte auf den Priester zu. Der ließ sich nicht aus der Fassung bringen, der Boden unter seinen Füßen begann in einem goldenen Licht zu leuchten. Adolphus sah, wie ein gewaltiger Blitz aus dem Stab kam und den Oberkörper des Kommandanten einfach pulverisierte.
»Heilige Scheiße, im wahrsten Sinne des Wortes«, schrie er. »Du hast ihn einfach so kaltgemacht!«
»Nicht ganz«, antwortete Pete und das Licht erlosch wieder. Unter den Überresten des Kommandanten erschien plötzlich ein roter Flammenkreis und dünne, weiße Arme zogen sie mit schrillen Kreischen in den Boden. »Einen Dämon kann man in der physischen Welt nicht töten. Man kann nur ihre materiellen Körper zerstören, doch sie regenerieren sich in der Hölle wieder und kehren nach einer gewissen Zeit wütender wieder zurück. Nur in ihrer eigenen Heimat können sie wirklich getötet werden. Ich muss es wissen, denn ich war da.«
»Ich hoffe, wir werden irgendwann Gelegenheit haben, miteinander darüber zu reden.«
Die versammelten Dämonen schienen, ihren Schock überwinden zu haben, nun waren sie auf Blut aus. Adolphus zog seinen Säbel, doch Pete stoppte ihn.
»Es ist nicht dein Kampf, du hast eine wichtigere Aufgabe. Überlass sie mir.«
»Aber …«
»Kein aber. Lauf, du Narr! Und schau nicht zurück.«
Adolphus steckte den Säbel wieder ein und schaute Pete an. Er konnte ihn doch nicht zurücklassen, er konnte doch nicht noch einen Freund verlieren.
»Mach dir um mich keine Sorgen, ich komm alleine zurecht. Aber du … du musst sicher ans Ziel kommen. Das Schicksal der Welt hängt davon ab. Wir dürfen uns nicht von ein paar Dämonen aufhalten lassen. Und nun geh!« Pete begann wieder golden zu leuchten. Die erste Welle von Höllenwesen griff an, der Priester schickte eine Energiewelle los, die ihre Körper in Asche verwandelte. Ein Pfad in der Menge aus verdrehten Gliedmaßen und unaussprechlichen Körpern wurde frei.
»Nun mach schon! Der Weg ist frei!«
Adolphus legte seine Hand auf Petes Schulter. »Danke … Ich werde das nicht vergessen. Ich werde dich nie vergessen.«
Pete schaute ihn tief in die Augen. »Ich habe Danke zu sagen. Ihr habt mich aus meinem Loch gerettet.« Mit einem Brüllen rannte der Priester auf die Dämonenhorde zu.
Adolphus schlich sich währenddessen unbemerkt weg. Es war ein langer Rückweg zum Schiff, ab und zu drehte er sich um und sah in der Ferne Blitze aufleuchten. Der Kampf ging noch sehr lange weiter, doch irgendwann hörte das Leuchten auf.
Der Weg zum Schiff war weitaus weniger gefährlicher, so als würde der Kontinent wissen, dass Adolphus eine mächtige Waffe bei sich trug. Er sah nur ein paar Formenwesen, nämlich eine Dreieckspyramide, einen regelmäßigen Dodekaeder und eine Gruppe von Disheptaeder, alle verschwanden sofort bei seinem Anblick.
Er machte die Nacht in der Fleischhöhle Pause. Draußen war es still, der Kontinent schien wie ausgestorben. Nadja hatte sich eng an ihn gekuschelt, sie schlief unruhig. Die Ereignisse müssen ihr schwer zu schaffen machen. Adolphus seufzte, er fand keinen Schlaf. In nur wenigen Tagen hatte er beinahe alle seine Freunde verloren. Jetzt blieben ihn nur noch seine Seemöwe und die ›Flying Rabbit‹. Franz war ausgelöscht und Pete wahrscheinlich von einer Horde wilder Dämonen überwältigt worden. Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Reise erlaubte er es sich, zu weinen. Die Tränen flossen in Strömen sein Gesicht hinunter. Er schluchzte und heulte laut. Sein Körper verkrampfte.
Er rief sich die Worte seines Vaters ins Gedächtnis. ›Mein Sohn, leider bleibt das nicht aus. Wir haben diesen Lebensweg gewählt, mit all seinen Konsequenzen. Wir leben gefährlich und wir verlieren Leute, die uns am Herzen liegen. Ich weiß es. Aber nur weil sie gestorben sind, heißt das noch lange nicht, dass sie auch endgültig verschwunden sind. Sie leben in unseren Erinnerungen weiter. Und die Erinnerungen kann dir niemand nehmen. Danach ging es wieder einigermaßen.‹
Bei Sonnenaufgang machten sie sich auf dem Weg. Diesmal wurden sie nicht von aggressiven Wortgruppen angegriffen. Sie erreichten physisch unverletzt das Schiff.
»Da seid ihr ja wieder! Ich habe mich schon gefragt, wo ihr steckt. Hab mir schon fast Sorgen gemacht, dass ich für immer hierbleiben muss. Wobei ich dann endlich meine Ruhe vor euch hätte … Moment mal … Wo sind denn die anderen beiden?«
»Lange Geschichte … Eine sehr lange Geschichte«, erklärte der Katzenmensch müde.
Während der Heimfahrt saß Adolphus alleine in seiner Kabine. Er betrachtete die Waffe in seinen Händen. Wie leicht sie doch war. Wie sie im Sonnenlicht wie ein Kristall glitzerte. Ihre Funktionsweise schien relativ unkompliziert zu sein. Sie war wie jede andere Revolverpistole aufgebaut. Ein Lauf, ein Abzug, ein Abzugsbügel, Kimme und Korn, ein Griffstück … Nur keine Öffnung für die Munition. Oder ein Hahn. Adolphus legte die Waffe wieder sanft auf den Tisch.
Die Lords und Ladys werden schon wissen, wie es funktioniert, dachte er. Hoffentlich klappt alles, es sind genügend Leute dafür draufgegangen. Er erinnerte sich daran, dass nicht nur seine Freunde sterben mussten, sondern auch die Crews von St. Feanne und Roharaman. Sie hatten ebenso wenig den Tod verdient.
»Wenn das alles vorbei ist, setze ich mich irgendwo in Kanbao zur Ruhe. Scheiß auf den Königstitel. Sollen sie doch Nadja zur Königin machen. Oder irgendjemand anderen. Ist mir alles egal. Ich hab dann genug von Abenteuer. Sobald ich mein Gold habe, können die mich alle am Arsch lecken«, sagte er zu sich selbst.
»Und was ist mit mir?«, fragte ›Flying Rabbit‹?
Adolphus lächelte. »Du bist dann frei. Du kannst alles machen, was du willst. Umsegel die Weltmeere. Jage ein paar verkrusteten Seepocken den Schrecken ihres Lebens ein. Vielleicht triffst du ja unterwegs ein nettes untergegangenes Passagierschiff. Dann könntet ihr zusammen … keine Ahnung, kleine Beiboote in die Welt setzen, oder so.«
»Willst du denn keine Abenteuer mehr erleben?«
»Nein. Ohne Pete und Franz wäre es nicht das Gleiche. Ich möchte einfach nur noch meine Ruhe haben. Vielleicht baue ich einen Garten und kümmere mich um den.«
›Flying Rabbit‹ schwieg für einige Zeit. Dann fragte sie: »Was ist eigentlich auf dem Kontinent passiert? Was ist mit Franz und Pete geschehen? Du hast gesagt, es wäre eine lange Geschichte. Wir haben Zeit …«
»Alles, was schiefgehen konnte, ging auch schief. Franz wurde von einem Formenwesen ausgelöscht. Ein heller Blitz und er war weg. Kein Schrei der Überraschung oder Schmerzen … Einfach weg. Ausgelöscht, ausradiert. Und Pete … Er hat sich geopfert. Eine Horde von Dämonen stellte sich uns in den Weg. Keine Ahnung wieso. Wahrscheinlich haben sie Anteil an dieser Apokalypse oder sie wollen uns einfach nur leiden sehen. Jedenfalls, Pete kämpfte gegen sie.«
»Wir sprechen noch von derselben Kuh, oder?«
»Ja, ich war auch überrascht. Wir haben diese demente, alte, weintrinkende Kuh völlig unterschätzt. Der Kerl hatte echt was drauf. Er hatte Feuer. Ich bin wirklich neugierig, was ihn dazu gebracht hat, sich mit Dämonen anzulegen.«
»Es würde vieles sicherlich erklären … Ich jedenfalls trauere um diese tapferen Männer. Auch wenn ich es nie zeigte, eigentlich mag ich euch alle. Ihr habt dieses Schiff mit neuem Leben gefüllt. Danke. Für alles.«
»Rabbit, wir alle wussten, dass du nur eine Show abziehst. Aber hey, kein Ding. Du bist das beste Schiff, was sich eine Crew nur wünschen kann. Ich bin froh, dich damals gefunden zu haben.«
Bald betraten sie heimatliche Gewässer. Adolphus ging an Deck. Der Himmel hatte eine gelbe Färbung angenommen. Die Luft roch merkwürdig, irgendwie verfault, dreckig.
Am Horizont erhob sich die majestätische Festung Corvusstein aus dem Wiesenmeer, geschützt von einer, so sagte man zumindest, undurchdringlichen Mauer, die einst von König Corvus Crowell nach seinem Kampf mit dem Titanengott Ymir durch die Hilfe von versklavten Riesen errichtet wurde. Eigentlich gab es nichts, was diese Mauern zum Einsturz bringen konnte. Eigentlich.
Am Horizont, hinter der Festung Corvusstein, erhob sich noch etwas anderes. Es war gewaltig, größer als jedes je dagewesene Geschöpf auf Erden. Es hob seine mächtigen Pranken und zerstörte die uralte Festungsstadt wie ein billiges Spielzeug. Die Mauer, die eigentlich für die Ewigkeit gebaut worden war, stürzte ein. Der Riesenbär lief Amok in den Stadtvierteln, zerstörte unzählige Häuser. Er zerschmetterte Burg Crowell und begrub damit die lange Linie dieser einst stolzen Familie unter einem Haufen von Geröll. Der letzte Mensch auf Erden starb.
Nachdem der Bär die Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte, begann er sie zu fressen. Seine grüne, schleimige Haut nahm wie eine riesige Amöbe jeden noch so unwichtigen Brocken auf und verdaute ihn.
Adolphus sank wie in Zeitlupe auf seine Knie. Er hörte weder sein eigenes Schreien noch das Kreischen von Nadja.
Weitere Riesenbären erschienen am Horizont. Ihr Brüllen war lauter als das Donnern eines Gewittersturms. Wo hin sie auch traten, verfärbte sich das sattgrüne Gras in ein dreckiges Braun. Ihr Atem erfüllte die Luft mit toxischen Gasen. Sie fielen über die Reste der Stadt her, gingen über zum Hafenviertel und führten ihr zerstörerisches Werk weiter fort. Es gab nichts, was sie hätte aufhalten können.

Die Crew der ›Flying Rabbit‹ kam zu spät.

Es wahr wohl das letzte Abenteuer von Adolphus Magnus.

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