Postfaschismus

Postfaschismus (Bild: Roland R. Maxwell)

Die Neonröhren summten über meinem Kopf. Weißes, grelles, unerbittliches Licht. Wieder Kopfschmerzen, wieder Migräne. Da halfen auch die von der Zentrale verschriebenen Tabletten nicht mehr. Das Summen war wie das Piksen Tausender kleiner Nadeln auf meiner Hirnrinde. An manchen Tagen glaubte ich, dass die Führung das mit Absicht so gemacht hatte. Um uns langsam aber sicher in den Wahnsinn zu treiben, um Gehorsamkeit zu erzeugen, Widerstand zu brechen. Jegliche rebellischen Gedanken aus den Köpfen zu verdrängen und sie durch das Summen zu ersetzen. Die Tabletten waren dabei nur Placebos. Um wenigstens das Gefühl zu geben, dass die Zentrale sich für unsere Gesundheit interessierte.
Ich nahm den nächsten Briefumschlag vom Stapel, der jeden Moment drohte, umzustürzen. Heute war das Arbeitspensum wieder erdrückend. Zweihundert bis dreihundert Briefe lagen dort, schätzte ich. Und der Tag hatte gerade einmal angefangen. Mit meinem persönlichen Brieföffner schnitt ich den Umschlag auf und zog mehrere Blätter raus. »Mal schauen, was wir hier haben«, flüsterte ich.
Ich las die Papiere, es waren insgesamt drei Zettel. Nichts Außergewöhnliches zu erkennen. Ein Brief von einer jungen Frau, ihr Name lautete Sofia Lichtmess, sie schrieb an ihren, wie ich vermutete, Liebhaber: ›Oh, mein herzallerliebster Josef …‹, begann der Brief. Belangloses Gerede. Keine versteckten Codes, keine Andeutungen, keine Chiffren. Nur Gesülze. Romantisches Erbrochenes auf drei Seiten verteilt. Langweilig. Ich faltete die Blätter wieder zusammen und steckte sie in den Umschlag zurück. Dann drückte ich meinen Stempel drauf: Genehmigt.
Ich machte meinen Job schon seit … ich denke mal, es waren bereits zehn Jahre. Ich konnte mich nicht wirklich beschweren, es war eine sichere Stellung. An manchen Tagen sehr öde und erdrückend, aber ich arbeitete mich auch nicht zu Tode. Ich war jetzt kein Mitglied der Briefträger-Garde oder ein Rohrpostmonteur oder ein Verwalter, aber ich war … mehr oder weniger zufrieden.
Mein Berufsname lautete offiziell ›Briefuntersucher‹, die Bezeichnung ›Postüberprüfer‹ war auch gängig. ›Postzensierer‹ wäre ein ehrlicherer Name gewesen. Meine Aufgabe bestand darin, die in der Großen Postzentrale eingegangenen Briefe zu öffnen, zu lesen und, wenn nötig, zu ›korrigieren‹, das hieß kritische Stellen mit schwarz durchzustreichen oder gleich den kompletten Brief zu zerschreddern (Natürlich wurde vorher eine Kopie angefertigt und diese dann ins Archiv geschickt). Wenn ein Brief in Ordnung war, bekam er das Siegel ›Genehmigt‹. Wurde er korrigiert, stand dort ›Bearbeitet‹ und der Verfasser bekam eine Nachricht, in der Regel eine Verwarnung. Diese Art von Brief legte ich dann auf einen separaten Stapel. Später kam jemand vorbei, der diesen einsammelte und zur Abteilung für Postbearbeitung brachte.
Sollte der Inhalt des Briefes sich als ›zu kritisch‹ oder ›zu gefährlich‹ erweisen, bekam er den Stempel ›Vernichten‹. Und nur wenige Stunden später stand dann die Briefträger-Garde bei einem vor der Wohnungstür.
Das alles hatte man uns so auf der Akademie beigebracht, eine sehr mechanische Arbeit, bei der man eigentlich nichts falsch machen konnte. Das Motto war: Lieber zu viel, als zu wenig. Die Bezahlung war angemessen. Man wurde jetzt nicht reich, aber man lebte damit recht gut. Ich konnte mir eine Zwei-Zimmerwohnung sowie ein wenig Luxus leisten, bekam vier Wochen Urlaub und durfte den öffentlichen Nahverkehr kostenlos nutzen. Nur die ständigen Kopfschmerzen waren belastend … und meine schmerzenden Augen … mein geschädigter Rücken … meine verkrampften Hände … mein Arsch tat weh. Aber ansonsten konnte ich mich eigentlich nicht beschweren.
Ich nahm den nächsten Brief und öffnete ihn. Eine Rechnung, jemand hatte Küchengeräte bestellt. Ein Mixer und zwei Gläser. Auch nichts Besonderes. Genehmigt.
Der nächste Brief wurde da schon spannender. Er war von einem Heinrich Küssener verfasst worden. Er schrieb seinem Freund Lukas Schultze. Der erste Teil war belanglos. Geplänkel. Small Talk. Wie geht es dir? Was macht der Job? Wie geht es Frau und Kind? Ich hoffe, du hast dich von deinem Sturz erholt. In der Mitte wurde es interessanter. Heinrich beschwerte sich dort ausgiebig über einen beobachteten Vorfall mit einem Briefträger-Gardisten. Er soll gesehen haben, wie der Gardist angeblich einen älteren Herrn blutig zusammenschlug, da dieser ihn nicht ordnungsgemäß grüßte. ›Unerhört! Diese rüpelhafte Form der Gewalt ziemt sich nicht für einen Uniformträger! Was bildet der sich ein, den armen Otto zusammenzuschlagen! Er kann halt schlecht sehen, wahrscheinlich hat er diesen Unhold einfach nicht erkannt. Du weißt doch, der alte Otto vergisst immer seine Brille. Dieser Schusselkopf. Ich sag dir, wenn der Kopf nicht angewachsen wäre …‹
Ich zückte sofort meinen Schwarzstift und markierte die Passage. Der Rest des Briefes war der Rede nicht wert. Ich packte ihn wieder zusammen und nahm meinen roten Stempel: Überarbeitet. Danach wandte ich mich meiner Schreibmaschine zu und protokollierte den Vorfall. Ich schrieb den Namen des Verfassers, seine Adresse und den Grund für die Zensur auf (›Kritik gegen Briefträger-Garde‹) und packte den Bericht in eine Rohrpostbüchse, die ich dann Richtung Verwaltung schickte. Es ist Aufgabe eines der höheren Beamten eine Verwarnung oder eine andere, angemessene Maßnahme zu formulieren. Aufgrund der relativen Kürze des Vergehens wird der Herr Küssener wahrscheinlich nur verwarnt werden, aber das hatte mich nicht mehr zu interessieren.
Ich sah, wie der kleine, gläserne Behälter mit einem Affenzahn davon zischte. Nächster Brief. Öffnen. Lesen. Abstempeln. Weglegen. Nächster. Und das Spiel wiederholte sich noch einige Male. Irgendwann ertönte endlich die Klingel, die den Beginn der Mittagspause signalisierte. Meine Hände schmerzten, und ich hatte gerade mal die Hälfte des Stapels geschafft. Ich erhob mich, streckte meinen Rücken durch und verließ meinen Bürowürfel. Fast der gesamte Raum bestand nur aus diesen gleichgroßen Würfeln, wenn ich mich richtig erinnerte, fanden hier ungefähr zweihundert Postbeamte Platz. In der Regel waren einhundertfünfzig anwesend.
Die Tapete war in einem schlichten weiß gehalten, Fenster gab es keine, gelüftet wurde über ein Ventilationssystem, was mal mehr, mal weniger gut seinen Job erledigte. An der nördlichen Wand war das Emblem unseres Staates angebracht: das Rutenbündel mit dem Posthorn. Jeder Postbeamte trug das Symbol auch, meistens am Kragen als Aufnäher oder als Anstecker an der Brust.
Ich wollte gerade den Büroraum verlassen, als plötzlich jemand hinter mir meinen Namen rief. Ich drehte mich um und sah meinen Kollegen Alexander Kesse, einen Draufgänger, der immer den obersten Knopf seines blauen Diensthemdes aufgeknöpft ließ. Er trug seine silber-braunen Haare zurückgekämmt und mit Stolz. Wenn ich mich richtig entsinne, war er mindestens zwälf Jahre älter als ich. Man konnte behaupten, dass wir so etwas wie Freunde waren.
Mit schwingenden Armen ging er auf mich zu. »Brief und Siegel, William«, begrüßte er mich.
»Brief und Siegel, Alex. Was gibt es?«
»Ach, ich wollte dich nur fragen, ob wir in der Kantine gemeinsam etwas essen und danach eine rauchen gehen wollen.«
»Eine Post-Mahlzeit-Zigarette, quasi?«, scherzte ich.
Er grinste mich an. Seine Zähne waren makellos weiß. Ich fragte mich, wie er das nur schaffte. Er verschlang schließlich jeden Tag eine halbe Schachtel Zigaretten. Vielleicht sollte ich ihm mal nach seinem Zahnarzt fragen, der schien nicht schlecht zu sein.
»Sehr witzig, außerordentlich witzig. Aber ja. So etwas in der Art.«
»Dazu sage ich nicht nein.«
Wir gingen also gemeinsam in die Kantine, ein großer Raum mit einer hohen Decke. Überall standen breite, weiße Tische mit Bänken. An den Wänden hingen Porträts von Siegelträger Oswald Moorwell. Wir standen ungefähr in der Mitte der langen Schlange, es ging zügig voran. Heute gab es Schnitzel mit Mischgemüse und Kartoffelbrei.
Alex und ich saßen uns an einen freien Tisch, bald schon gesellten sich bekannte Gesichter dazu. Da waren zum einen Thomas Akrill aus der Abteilung für C4-Briefe (Alexander und meine Wenigkeit waren für C5-Briefe zuständig), Benedikt Reiser aus der Abteilung für Pakete und Manfred Stein aus der Postbearbeitung.
Wir schaufelten uns das Essen in den Mund. Thomas schaute mich an und fragte mit verschmitzten Grinsen: »Und William … Hängst du immer noch an deiner Verschwörungstheorie fest?« Ich rollte genervt mit den Augen und aß den Kantinenfraß weiter.
»Was für eine Verschwörungstheorie?«, mischte sich Benedikt ein.
»Billy hier denkt …«
»Nenn mich bitte nicht so … Du weißt, ich hasse das.«
»Entschuldigung. William hier denkt, dass die Neonröhren uns gefügig machen sollen und das die verschriebenen Medikamente nur Placebos, also wirkungslos sind.«
Manfred lachte, Benedikt verschluckte sich vom vielen Kichern an sein Essen und Alex grinste dämlich vor sich hin. Ich hingegen schaute auf mein Tablet und stocherte mit dem Löffel im Kartoffelbrei herum.
»Ist euch denn noch nie aufgefallen«, versuchte ich zu erklären, »wie sehr dieses Summen und dieses künstliche Licht uns krank machen? Immer wenn ich im Büro gesessen habe, hatte ich danach üble Kopfschmerzen. Tagelang Migräne. Und die Pillen helfen dagegen einfach nicht. Ich bilde mir das doch nicht ein! Das hat schon seinen Zweck. Damit wir nicht so viel nachdenken.«
»William, du überreagierst einfach«, erwiderte Thomas.
»Ach ja, Tom? Hast du keine Kopfschmerzen? Geht es dir nicht schlecht?«
»Eigentlich nicht. Mir geht es blendend. Ich kann mich nicht beschweren.«
Ich schaute zum Rest. »Und bei euch? Habt ihr Beschwerden?« Alle schüttelten den Kopf.
»Gehst du den auch zu den täglichen Sportübungen?«, fragte Manfred, während er sich gerade eine Portion Erbsen in den Mund schaufelte.
Ich sank in meinem Stuhl zurück. »Nein … Ich habe es die letzten … drei oder vier Wochen ausfallen lassen«, gab ich kleinlaut zu.
Benedikt schaute mich entgeistert an. »Aber uns wird doch empfohlen, dort hinzugehen. Siegelträger Moorwell hat gesagt, dass wir durch das viele Sitzen unsere Gesundheit schädigen. Nur regelmäßiger Sport und viel Bewegung halten das Herz am Laufen. Die täglichen Sportübungen halten den Volkskörper fit und gesund!«
»Außerdem haben wir als Postbeamte eine Vorbildfunktion in der Gesellschaft«, fügte Manfred hinzu.
Ich erwiderte: »Ach! Der Siegelträger geht selbst nicht hin.«
»Aber sein Sohn«, antwortete Benedikt.
»Welcher?«
»Der Ältere. Maximilian. Der ist immer anwesend.«
»Hat der nicht Besseres zu tun, so als Oberbefehlshaber?«, fragte ich.
Alex schaute mich an. »Das zeigt nur, wie sehr ihm das Volk am Herzen liegt. Er opfert sogar seine eigene wichtige Zeit für uns. Er muss es nicht machen, aber er tut es trotzdem. Ich bin mir sicher, sollte sein alter Herr eines Tages abtreten, was ich persönlich nicht hoffe, Siegelträger Oswald ist ein großartiger Führer, dann wird Maximilian ein toller Nachfolger werden.«
Langsam wurde es ziemlich ungemütlich für mich. Ich fühlte mich an die Wand gepresst. Und nur, weil ich keine Lust hatte, an diesen einstündigen Trainingsübungen teilzunehmen. Mein Rücken tat nach der Arbeit immer so weh, da wollte ich ihn nicht noch mehr durch Sport belasten.
»Und was ist mit den Pillen? Warum wirken die nicht?«, fragte ich in die Runde.
Thomas machte eine wegwerfende Handbewegung. »Hat nichts zu bedeuten. Vielleicht hast du einfach zu viele geschluckt und die haben ihre Wirkung verloren. Oder sie wirken allgemein nicht bei dir. Kann ja vorbeikommen. Bei mir funktionieren sie einwandfrei, aber ich werfe sie auch nur sehr selten ein. Wie sieht es bei euch aus, Jungs?«
Alle nickten zustimmend.
»Ich hab schon verstanden … Ich bin der Verrückte«, murmelte ich vor mich hin.
»Ich sag dir das, was ich schonmal gesagt habe: Sei vorsichtig mit solchen Äußerungen«, erklärte Alex. »Hier in unseren Freundeskreis können wir darüber scherzen, aber wenn dich die richtigen, oder falschen, Ohren hören, kommst du in Teufels Küche. Denk daran, deine Immunität schützt dich nur begrenzt.«
Manfred schaute zum Tisch gegenüber und flüsterte: »Guckt mal, Verwaltungsbeamte.«
An den Tisch nahm eine Gruppe von zehn Leuten Platz. Allesamt ältere Herren. Ihre Uniformen wirkten edler und heller, sie trugen dunkelblaue Krawatten und schwarze Hosen. Ihre braunen Lederschuhe waren blitzblank geputzt. Die wenigsten von ihnen besaßen noch volles oder farbiges Haar. Entweder war es im Begriff zu gehen oder bereits gänzlich verschwunden. Wie sie so dasaßen, erinnerten sie mich an einen Schwarm von Krähen. Blaugekleidete Krähen.
»Ach, ich wäre auch gerne ein Verwaltungsbeamter. Ein höheres Gehalt, eine größere Wohnung, mehr Macht und Befugnisse, ein eigenes Büro. Das wäre schon cool«, schwärmte Benedikt.
Thomas entgegnete augenrollend: »Träum weiter. Diese Liga bleibt dir versperrt. Da kommst du nur rein, wenn du bereits auf der Akademie Kontakte geknüpft hast. Ist wie ein exklusiver Klub.«
»Ist dein kleiner Bruder nicht Verwaltungsbeamter?«, fragte Alex.
»Ja«, knurrte Tom. »Hat ordentlich den Arsch von dem einen Berufskammerabgeordneten geknutscht … Wie hieß er doch?«, er schnipste mit den Fingern. »Gleich fällt es mir wieder ein. Ach ja, Franz Bergenbauer. Dieser glatzköpfige, krummbucklige Brillenträger. Hat das Würstchen unter seine Fittiche genommen und jetzt sitzt es eine Etage höher als ich und verdient das dreifache an Gehalt.«
Alex rutschte an ihn heran und grinste hämisch: »Und? Neidisch?«
Thomas schaute weg. »Nein. Keineswegs. Er hat sich seine Stellung nicht durch harte Arbeit verdient, so wie ich, sondern durch Arschkriechen. Schleimiges, dreckiges Arschkriechen. Als ob ich darauf neidisch bin. Ich habe Standards, er ist ein Opportunist. Ganz einfach.«
»Das klingt, als wäre da aber jemand sehr neidisch«, sagte ich leise. Alle anderen kicherten. War gut, mal nicht die Zielscheibe des Spotts zu sein.
Thomas schaute uns wütend an, schmiss seinen Löffel auf sein Essen und sagte: »Ach, fickt euch doch alle. Ganz ehrlich. Als ob ihr eine Ahnung davon hättet. Ich bin zufrieden mit meinem Beruf und meiner Leistung, und das kann mir niemand nehmen! Themawechsel: Wer will eine rauchen? Mich juckt es schon in den Fingern.« Alle hoben die Hand.
Wir brachten unser Geschirr weg und gingen in einen der Innenhöfe. Es war ein gut belichteter Raum, überall wuchsen große, grüne Pflanzen. Vereinzelt standen Steinwürfel und Aschenbecherständer herum. Brutalismus mit Grünzeug, quasi. Ein friedlicher, entspannender Ort, ein starker Kontrast zu den Büroräumen. Ich glaube, es war Siegelträger Corneliu Moorwell, der den Bau von ›grünen Entspannungsräumen‹ in Auftrag gab, um die Zufriedenheit der Postbeamten zu steigern.
An den Raucherinseln hatten sich schon ein paar Leute versammelt. Wir suchten uns einen freien Aschenbecher und stellten uns kreisförmig um den Behälter hin. Jeder holte seine Zigarettenschachtel und sein Feuerzeug raus, mit Ausnahme von mir, da ich meine Sachen blödsinnigerweise zuhause liegengelassen hatte. Alex reichte mir deshalb eine Kippe, die ich dankend annahm. Er zündete sie sogar extra für mich an. Ich nahm den brennenden Sargnagel zwischen meine Finger und zog genüsslich den Rauch ein. Der blaue Dunst drang in meine Lungen ein, breitete sich dort aus, erfüllte sie mit Tabak und Teer. Welch ein gutes Gefühl. Es beruhigte meine angespannten Nerven.
Alex stupste mich an. »Hey, William.«
»Ja?«, fragte ich und schaute ihn an.
»Ich hatte geplant, morgen eine kleine Party zu schmeißen. Nichts Großes …«
»Was ist denn der Anlass?«
»Braucht man denn immer einen Anlass? Ich möchte einfach mal wieder feiern. Wir könnten ein paar Biere trinken. Hannah würde einen Salat und Sandwiches machen.«
»Ich liebe ihre Sandwiches!«, mischte sich Thomas ein. »Bin ich auch eingeladen?«
»Ja, klar. Ihr alle seid eingeladen. Kommt morgen zu mir nach Hause. Die Adresse kennt ihr ja. Sagen wir so … nach der Arbeit? So um neunzehn Uhr?« Da gab es keine Widerrede.
Wir rauchten noch auf und begaben uns zurück zu unseren Arbeitsplätzen. Zurück zum Stapel Briefe, den ich weiter durchackern konnte. Nach meinen Schätzungen waren noch mindestens einhundert übrig.
Ich nahm einen und öffnete ihn. Er war von Markus Hoffmann, der, so schrieb er, ein angesehener Händler sei, der nur die feinsten Teppiche anzubieten hat. Erst nach längerem Lesen verstand ich, worauf er eigentlich hinauswollte. Markus bat um die Hand einer jungen Frau. Der Brief sollte den Vater der Braut gnädig zustimmen, damit er der Hochzeit zusagte. Soweit ich verstanden habe, war der Herr ebenfalls ein Kaufmann, nur sehr viel angesehener als der junge Mann, mit engen Verbindungen in die Berufskammer.
Ich hatte mal in einem Buch gelesen, dass solche Prozedere in der Welt der Händler und Krämer Standard waren und diese Tradition bis heute überdauert hatte, selbst nach dem Krieg und der Revolution. Man fragte den Herrn des Hauses vorher, ob man seine Tochter ehelichen durfte. Die alten Landwirtsfamilien waren da noch strenger, da wurde der zukünftige Partner des Mädels gleich von Geburt an bestimmt.
Wie dem auch sei, in dem Brief stand nichts von Belang, deshalb drückte ich meinen Genehmigt-Stempel drauf und legte ihn zur Seite.
Nächster Brief: Eine Mutter schrieb ihren Sohn, der zur Briefträger-Garde gehörte. ›Wie geht es dir? Hast du genug zu essen? Ist dir warm genug? Du weißt, ich kann dir weitere Pullover schicken, wenn du magst …‹ So weit so uninteressant. Erst gegen Ende offenbarte sich der eigentliche Grund für den Brief. ›Ich habe eine anonyme Beschwerde gegen deinen Vorgesetzten eingereicht. Es kann doch nicht sein, dass dieser verknöcherter Greis dich so sehr schikaniert. So etwas darfst du dir nicht gefallen lassen! Ach, wenn ich könnte, würde ich ihn den Hals umdrehen! Was bildet der sich ein! Mach dir keine Sorgen, dein Vater und ich stehen hinter dir, wir werden dir den Rücken stärken. Dieser Harkenschmidt denkt wohl, nur weil er Hauptmann ist, kann er mit euch machen, was er will.‹ Das war etwas sehr Besonderes. Nicht nur Kritik gegen die Briefträger-Garde, sondern auch eine Morddrohung gegen einen Gardisten-Hauptmann.
Sofort strich die Stelle an, schrieb den Bericht und stempelte den Brief ab. Bei diesem Vergehen wird es wohl nicht nur bei einer Verwarnung bleiben. Wahrscheinlich muss der Sohn sogar die Garde verlassen, unehrenhaft. Keine Ahnung, was sie mit den Eltern anstellen werden, aber es wird definitiv nicht milder Natur sein.
Warum taten wir das eigentlich? Warum gab es Leute wie mich, die sich durch Unmengen von Briefen gruben? Die Privatsphäre von Leuten durchschnüffelten und wenn nötig, eine Meldung an höhere Behörden weiterleiteten? Nun, auf der Akademie lehrte man uns die sogenannte ›Theorie der ständigen Druckausübung‹, das bedeutet, dass gegen die Bevölkerung eine Art ›leichter Krieg‹ geführt und unterschwellig Druck ausgeübt wird. Dies soll dazu führen, dass die Gehorsamkeit gesteigert und der Widerstand gesenkt wird. Dem durchschnittlichen Bürger wurde damit eingeprügelt, dass er jederzeit bestraft werden konnte, wenn er aus der Reihe tanzt.
Diese Theorie, wie so ziemlich alles was in der Akademie gelehrt wurde, war der Allgemeinheit nicht bekannt. Genau genommen war meine Arbeit ein streng gehütetes Geheimnis. Wir Postbeamten durften mit niemanden außerhalb unseres Berufskreises darüber sprechen. Wir durften nicht einmal in derselben Ortschaft wie Nicht-Postboten leben, wir bekamen speziell zugewiesene Wohnungen. Man bewarb sich auch nicht für die Akademie, sondern bekam eine Einladung vom Großrat geschickt.
Die Überwachung und Bearbeitung von Postversendungen waren natürlich nicht die einzigen Werkzeuge, die dem Staat zur Verfügung standen. Es gab Spitzel in der Bevölkerung, Telefongespräche wurden abgehört, willkürliche Wohnungsdurchsuchungen, es gab Drohungen und Erpressungen und eine Reihe von anderen psychologischen Maßnahmen. Diese ›Druckausübung‹ artete aber nie in offenen Terror aus. Die Zeiten wo unser Staat Menschen brutal auf der Straße durch Erschießungskommandos ermorden ließ, gehörten definitiv der Vergangenheit an. Sollte aber tatsächlich mal jemand rebellieren, dann kümmerte sich die Briefträger-Garde um ihn. Solche Personen verschwanden einfach still und heimlich. Was passierte mit ihnen? Wer wusste das schon … Sie tauchten nie wieder auf. Es gab keine Leiche, keine Überreste, keine Märtyrer.
Persönlich betrachtet hatte ich mich damit zum größten Teil abgefunden. Wobei es auch bei mir nagende Zweifel gab. Da wäre die Sache mit den Pillen oder den Neonröhren, zum Beispiel. Und ich hatte immer das Gefühl, dass hinter den verschlossenen Türen in den oberen Etagen des Staates mehr vor sich ging, als sie uns erzählten. Uns wurde auch nie erklärt, was genau mit den ›bearbeiteten Fällen‹ passierte. Was geschah mit den Leuten? Darüber wurde geschwiegen.
Ich arbeitete noch die letzten vierzig Briefe ab, bei keinen von ihnen war irgendetwas Interessantes dabei, nur Geschwafel oder Rechnungen oder Geburtstagsglückwünsche, und erhob mich. Ich schaute auf die Uhr, es war genau siebzehn, Feierabendzeit. Alle anderen erhoben sich ebenfalls von ihren Sitzen und strömten zum Ausgang. Ich schnappte mir noch meine Jacke und Mütze und gesellte mich zu ihnen.
In der Menge sah ich Alex, sein Mantel hing lässig über seine Schultern. Ich überlegte erst, ob ich zu ihm gehen sollte, entschied mich aber dagegen. Meine Hände und mein Rücken schmerzten und nach der langen Zeit im Büro wollte ich einfach auch mal ein wenig Alleinzeit haben. Außerdem werde ich Alex ja eh morgen bei seiner Party sehen.
Ich war gespannt, war schon lange nicht mehr auf irgendeiner Veranstaltung gewesen. Meistens war ich einfach zu erschöpft, um noch irgendwohin zu gehen und zu feiern. Nun, ab morgen änderte sich das. Ich musste mal wieder unter Leute.
Ich spazierte durch die große Halle der Postzentrale. Hier mussten wir uns immer registrieren, wenn wir unseren Arbeitstag begannen. Dafür gab es mehrere Schalter, wo wir unsere Postbotenkarte reinsteckten.
In der Mitte der Halle stand eine riesige Statue von Oswald Mosley, einem großen Denker und Philosophen aus der Zeit vor dem Krieg. Er erfand das Prinzip der ›Industriellen Demokratie‹, auf das ein Teil unseres Staatssystems basierte. Seine Idee war, dass eine Regierung von Experten geleitet werden sollte. In der Praxis sah das so aus, dass die verschiedenen Berufsgruppen sich in einer Art Parlament organisierten und gemeinsam Entscheidungen für die Nation trafen. Jeder Berufsstand wurde von einer gewählten Gruppe repräsentiert. Zu seinen Lebzeiten war er eine verhasste und missverstandene Person, deren Ideen keine Resonanz fanden.
Bei uns aber nahmen diese die Form der ›Berufskammer‹ an, in der alle Berufe vertreten waren. Es gab dort die Kaufmänner, das medizinische Personal, die Landwirte, die Anwälte, das Personal des öffentlichen Nahverkehrs, die Industriearbeiter, die Müllentsorgung, die Reinigungskräfte, die Professoren, die Bauarbeiter und natürlich die Postboten, die eine unangefochtene Vormachtstellung besaßen. Wobei der Begriff des ›Postboten‹ sehr weitgefasst und flexibel war. Zu dieser Berufsgruppe gehörten nicht nur die gewöhnlichen Postboten, sondern auch die Briefuntersucher, die Paketüberprüfer, die Postbearbeiter, die Verwaltungsbeamten, die Rohrpostmonteure und die Briefträger-Garde. Bisher war der Siegelträger auch immer ein Postbote gewesen.
Die Berufskammer verfasste Gesetze und Verordnungen und hatte einen besonderen Fokus auf alle arbeitstechnischen Angelegenheiten, seien es faire Lohnzahlungen, Arbeitszeiten oder Arbeitnehmerrechte. Sie wählte auch den Großrat, die nächsthöhere Instanz. Die Aufgabe des Großrates war es, die verfassten Gesetze zu bestätigen. Des Weiteren wählte er den Siegelträger, der Dekrete erlassen, die Minister und den Oberbefehlshaber der Briefträger-Garde ernannte, ein Veto-Recht besaß und unter bestimmten Bedingungen den Großrat auflösen konnte.
Ich verließ die Zentrale und stieg in den wartenden Zug ein, suchte mir einen Platz und lehnte meinen Kopf gegen die kühle Fensterglasscheibe. Bald schon konnte ich das Gebäude sehen, in dem ich jeden Tag arbeitete. Es war wie eine Kathedrale gebaut, untypisch im Vergleich zu den eher funktional designten Gebäuden des Stadtstaates Kardia. Die Große Postzentrale erhob sich in der Mitte der Nation und überragte alle anderen Häuser um ein Vielfaches. Im obersten Stockwerk, der Spitze, residierte der Siegelträger, darunter befanden sich die Säle des Großrates und der Berufskammer.
Die Stadt selbst war von einer gewaltigen Mauer umrandet. Niemand wusste, was sich dahinter befand, denn niemand hat je dahinter geblickt und niemand hatte noch Erinnerungen an die Außenwelt. Der Staat sagte, dass sich dort nichts als unfruchtbares, verwüstetes Land befand. Zerstört und verseucht durch den letzten großen Krieg.
Nach einiger Zeit kam ich an meinem Ziel an, ein Wohnblock speziell für rangniedere Postbeamte. Alex und seine Frau haben ihre Wohnung in der Nähe. Der Eingang des Blocks wurde von zwei Briefträger-Gardisten, leicht an ihrer dunkelblauen Jacke mit den zweireihigen Knöpfen, der ebenfalls dunkelblauen Schirmmütze und den hohen schwarzen Stiefeln zu erkennen, bewacht. Am Kragen ihrer Uniform glänzte das Rutenbündel mit dem Posthorn, das sich ebenfalls auf ihrer Mütze befand.
Der linke Wachmann hob zum Gruß die Hand. »Brief und Siegel, der Herr«, sagte er.
»Brief und Siegel«, erwiderte ich und holte meinen Ausweis hervor. Die beiden Gardisten warfen einen Blick darauf, glichen meinen Namen mit der Einwohnerliste ab und gaben mir dann die Erlaubnis, einzutreten. Das Prozedere dauerte, wenn es hochkam, vielleicht zwei Minuten.
Ich betrat die grauen Gänge des Blocks, wo die Neonröhren flackerten, und begab mich zu meiner Wohnung, der Nummer 218 im vierten Stock. Ich kramte meine Schlüssel hervor, hob noch die Zeitung auf, die auf meiner Fußmatte lag, und öffnete die Holztür.
Meine Wohnung war sehr schlicht eingerichtet. Aus Protz und Marmor hatte ich mir noch nie etwas gemacht. Ich besaß ein kleines Bücherregal, hauptsächlich mit Krimis und anderen seichten Unterhaltungsromanen gefüllt sowie mit einigen theoretischen Abhandlungen, mit denen ich mich während der Ausbildung beschäftigen musste, eine kleine Küche mit einem Kühlschrank, ein Schlafzimmer mit einem gefederten Bett, ein paar antike Möbel, die ich auf einem Flohmarkt erstanden hatte und drei Gemälde von Salvador Dalí.
Die Kunstwerke fand ich eines Tages auf der Straße und nahm sie mit. Zuhause versuchte ich dann, herauszufinden, wer der Künstler war, stieß aber nur auf einen kurzen Eintrag in der ›Enzyklopädie der faschistischen Personen‹: ›Dalí, Salvador. Persönlichkeit aus prä-revolutionärer Zeit. Spanischer Künstler des Surrealismus. Vermeintlicher Sympathisant des Francoismus. Beziehung zum Faschismus umstritten.‹ Mehr war über ihn nicht zu erfahren, selbst die Bibliotheken, in denen ich nachgesehen hatte, wussten nichts über ihn zu berichten. Ein Künstler, den der Sand der Zeit verschluckt hatte. Immerhin waren seine Bilder sehr ansehnlich.
Ich pfefferte meine Tasche in die Ecke, zog die Uniform und die Schuhe aus, setzte mich auf meinen bequemen Ledersessel und schlug den ›Herold‹ auf, eine der drei Zeitungen in Kardia. Der Leitartikel sprach über die bevorstehenden Festlichkeiten für den ›Nationalen Tag der Revolution‹, der sich zum zweihundertfünfzigsten Mal näherte. Das hatte ich gar nicht mehr so richtig auf den Schirm, aber jetzt fiel es mir wieder ein. Das erklärte die vielen Banner und Wimpel, die in der Stadt verteilt und aufgehangen wurden. Heißt aber auch, dass ich bald einen freien Tag habe … den ich beim Fest verbringen muss. Aber einen geschenkten Gaul schaute man bekanntlich nicht ins Maul.
Ich las mir die anderen Artikel ebenfalls durch. Der Wirtschaft ging es blendend, die Zahlen stiegen kontinuierlich nach oben, der Wohlstand wuchs von Tag zu Tag. Die Bauarbeiten für ein neues Krankenhaus hatten begonnen, es soll das modernste aller Zeiten und in zwei Jahren fertig werden. Die Kriminalitätsrate war auf den niedrigsten Wert seit der Revolution. Die Bevölkerungszahl war stabil, die Geburten- und Todesraten glichen sich aus, ein Fakt, der für den Fortbestand eines Stadtstaates von höchster Bedeutung war. Es wurde eine prächtige Ernte erwartet. Und … Siegelträger Moorwell hatte einen Artikel über die Wichtigkeit der ›Doktrin der Direkten Tat‹ verfasst, mit dem Titel: ›Die Direkte Tat. Warum unser System das schaffte, woran die historischen Faschismen gescheitert waren.‹
Siegelträger Oswald Moorwell war nicht nur ein großer Staatsmann, sondern auch ein genialer Gelehrter. Bevor er zum Siegelträger, und damit zum Führer von Kardia, ernannt wurde, arbeitete er manchmal als Gastdozent an der José-Antonio-Primo-de-Rivera-Universität, die sein Urgroßvater gegründet hatte und unterrichtete dort Geschichtswissenschaft und Philosophie. Auch heute noch hielt er Gastvorträge sowohl an seinem alten Arbeitsort als auch an der Akademie. Ich konnte mich daran, dass wir damals einige seiner theoretischen Texte in der Ausbildung lasen.
Ich legte die Zeitung weg und kochte mir mein Abendbrot, wobei ›kochen‹ ein etwas übertriebener Ausdruck war, denn eigentlich wärmte ich nur meinen Nudelauflauf auf, den ich vor zwei Tagen gemacht hatte. Wichtiger Tipp von mir: Bereitet euch einen Auflauf zu, dann braucht ihr euch die ganze Woche lang, keinen Kopf mehr um Essen machen. Das spart sowohl Zeit als auch Nerven und Geld.
Ich aß mein einsames Mahl, begab mich in die Dusche und legte mich dann ins Bett. Auf einem kleinen Beitisch lag ein angefangener Roman, ›Eine verhängnisvolle Verschwörung‹ von Joseph James. Die Story spielt in einer Welt, die der unseren gewissermaßen ähnelt, aber doch völlig verschieden ist. So gibt es Orks und Fischmenschen, die ›Sardonier‹ genannt werden. Auch die Namen der Länder und ihre Anordnung sind anders als bei uns. Die Hauptfigur ist Michael Carter, ein junger Kriminalkommissar. Er wird mit einem seltsamen Mordfall konfrontiert, der ihn bald mitten in eine dunkle Verschwörung, die sich bis in die oberen Kreise der elitären Bevölkerung erstreckt, katapultiert. Wie ich bereits erwähnte, seichte Unterhaltung.
Bald schon wurden meine Augen schwer und ich fiel in einen ruhigen, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen wachte ich erfrischt, mit vollen Kräften wieder auf. Ich sprang aus dem Bett, ging ins Bad, rasierte mich, putzte mir die Zähne, aß mein Frühstück (Cornflakes mit Milch), zog meine Uniform an und begab mich fröhlich pfeifend zur Arbeit.
Auf dem Weg zur Zughaltestelle sah ich eine Kolonne von Briefträger-Gardisten, so ungefähr fünfzig Mann, die in Zweierreihen marschierten. Ihre schweren, schwarzen Stiefel donnerten über den Pflasterstein. Einige von ihnen trugen hocherhoben blaue Banner mit dem Rutenbündel drauf. Ein Hauptmann lief neben ihnen mit. An seiner linken Hüfte hing ein goldener Säbel, eine Art verlängerter Brieföffner, die symbolische Waffe der höherrangigen Gardisten.
Ich grüßte sie: »Brief und Siegel!«
Der Hauptmann drehte seinen Kopf zu mir hin, lächelte und nickte dabei. »Brief und Siegel, werter Herr!«, erwiderte er und marschierte mit seiner Truppe weiter.
In den Tagen vor der Jahresfeier waren solche Kolonnen häufiger zu sehen. Die Briefträger-Garde war dann weitaus präsenter in der Öffentlichkeit. Manchmal sangen sie auch fröhliche Kampflieder, die damals während (und vor) der Revolution und den ›Bleiernen Jahren‹ geschrieben worden waren. Laut den Geschichtsbüchern war es eine chaotische, aber dennoch auch abenteuerliche Zeit. Viele Konzepte wurden ausprobiert und verworfen. Bis unser heutiges System stand, flossen Unmengen von Blut die Straßen hinunter.
Von wilden, sexuellen Orgien war die Rede, von tage- und wochenlangen Drogenräuschen; von Todesschwadronen, die Wohnblöcke stürmten und jeden erschossen, der auch nur atmete. Lokale Tyrannen erhoben sich und versuchten, die Macht im Stadtstaat an sich zu reißen. Es gab einen, der sich als der ›Proletarierkönig‹ bezeichnete und das Industriegebiet Kardias beherrschte. Erst ein blutiger Bürgerkrieg brachte ihn zu Fall.
Eine Zeitlang ging die Gefahr auch von sogenannten ›marxistischen Verschwörern‹ aus, wahnsinnigen Anhängern einer alten, fanatischen Sekte, die sich zum Ziel gemacht hatte, einen ›kommunistischen Weltstaat‹ zu errichten und die Stützpfeiler der Gesellschaft, Familie, Nation, Ordnung, Tradition und Autorität, zu zerstören. Unsere Vorväter glaubten, dass der Krieg und der Revolution sie eigentlich ausgelöscht hätten, aber dieser Menschenschlag war hartnäckiger und überlebensfähiger als jede Kakerlake. Die Marxisten taten das, was sie schon seit Jahrhunderten getan haben: Institutionen von innen heraus wie Parasiten infiltrieren und sie dann zersetzen. Dies löste eine Welle der Paranoia aus, mit brutalen Repressionen. Vermutlich hatte da auch die Postuntersuchung ihre Wurzeln.
Es war eine Zeit der kollektiven Psychosen und des gesellschaftlichen Wahnsinns, des gegenseitigen Abschlachtens, doch diese Zeiten existierten nur noch in Geschichtsbüchern und werden nie wieder kommen.
Als ich aus dem Zug ausstieg, sah ich, wie ein gepanzertes Postauto die Straße entlang fuhr. Die Post war ein heiliges Gut und wurde daher wie ein Säugling beschützt. Jeder, der der Post schadete, schadete auch der Nation. Zumindest wurde das der Öffentlichkeit erzählt. Es wurde auch behauptet, dass das Briefgeheimnis das oberste Gebot sei. Und wir wussten, wie ernst das genommen wurde.
Ich betrat die Große Postzentrale pünktlich um acht Uhr fünfundvierzig und stellte mich an dem Registrationsschalter an. Mein Blick fiel auf die linke Wand, dort waren die Tugenden eines Postboten eingraviert worden: Verantwortungsbewusstsein, Mut, Pünktlichkeit, Opferbereitschaft, Achtsamkeit, Respekt, Fleiß, Treue. Es war die Aufgabe eines jeden Bürgers von Kardia, nach diesen Tugenden zu streben, ob sie nun Postboten waren oder nicht.
Um neun Uhr saß ich in meinem Bürowürfel und betrachtete den bereits gewaltig anwachsenden Stapel von Briefen. Man glaubte gar nicht, wie schnell einem die gute Laune abhandenkommen konnte. Heute mussten es ungefähr dreihundert Briefe sein. Aber Klagen und Jaulen half nicht, davon wurde die Arbeit auch nicht weniger. Also setzte ich mich dran und fing an, zu lesen.
Die heutigen Briefe waren noch langweiliger als die gestrigen. Zeilen um Zeilen, Abschnitte um Abschnitte nur Geplänkel, Small Talk, Gewäsch. Sinnlose, uninteressante Aneinanderreihungen von Buchstaben, die das alltägliche uninteressante Leben uninteressanter Menschen abbildeten. Und die Zeit kroch nur voran.
Und eigentlich wäre mein Leben in geraden, normalen Bahnen weiter gelaufen, doch das Schicksal entschied anders. Ich hätte weiterhin ein völlig entspanntes Dasein führen können, doch Gott hatte mich wohl für Höheres auserwählt.
Meine Hand ging zum nächsten Briefumschlag, ich glaubte, es war der vierzigste oder der fünfzigste an dem Tag, ich öffnete ihn und holte drei dichtbeschriebene Blätter heraus, Vorder- sowie Rückseite waren bekritzelt worden. Die Schrift wirkte sehr klein, sehr hektisch, es gab kaum erkennbare Lücken zwischen den einzelnen Wörtern. Blaue Tinte wurde verwendet. Ich hatte Schwierigkeiten beim Entziffern des Textes. Wer auch immer der Verfasser gewesen ist, er schien keine Zeit gehabt zu haben … oder er stand unter Druck. Der Brief hatte auch keinen Absendernamen und seine Zieladresse war … die Große Postzentrale. Sehr ungewöhnlich, sehr besorgniserregend. Normalerweise wurden hierhin keine Briefe direkt geschickt, denn niemand außerhalb des Postbeamtenkreises kannte die genaue postale Anschrift der Zentrale.
›An denjenigen, der dies gerade liest‹, so begann der ominöse Text. Und ich las und las und las, doch die Wörter wollten nicht so richtig in meinen Kopf gelangen. Es ergab einfach keinen Sinn, was dort stand. Es durfte keinen Sinn ergeben. Es sollte nicht einmal möglich sein, dass dieser Brief überhaupt existierte. Doch, entgegen aller Gesetze des Kosmos, tat er das. Er lag direkt vor meiner Nase. Die Tinte, das Papier, der Umschlag, das alles war echt. Doch der Inhalt … der Inhalt war das Problem. Ich las ihn nochmal, nur um mich zu vergewissern.
Normalerweise würde das Prozedere nun so ablaufen: Ich lese den Text durch, stufe ihn als ›zu gefährlich‹ ein, packe meinen Stempel drauf (›Vernichten‹), schicke ihn ab, jemand fertigt eine Kopie an und zerstört das Original. Die Kopie wird in das Archiv gelegt, die Briefträger-Garde wird alarmiert und in wenigen Stunden haben sie den Verfasser ausfindig gemacht und … tun was auch immer mit ihm.
Es gab aber ein paar Probleme. Erstens, der Name des Verfassers sowie sein Aufenthaltsort waren unbekannt.
Zweitens, woher kannte diese mysteriöse Person die Postalanschrift der Zentrale? War sie einer von uns? Hatte sie Verbindungen zu einem oder mehreren Postbeamten? Hatten wir einen Maulwurf?
Drittens, der Inhalt des Briefes. Das Wissen, das vermittelt wurde, überstieg das des durchschnittlichen Bürgers bei weitem. Zusätzlich wurden einige Dinge beschrieben, die ich noch nicht einordnen konnte. Dinge, die unmöglich erschienen. Die nicht wahr sein konnten und durften.
Besonders brisant waren diese Zeilen: ›Am Nationalen Tag der Revolution, wenn die Festlichkeiten ihren Höhepunkt erreichen, werden ich und meine Getreuen unseren geliebten Stadtstaat mit Kopien dieses Briefes fluten. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind wird dann erfahren, was sich hinter den heiligen Gemäuern der Zentrale abspielt. Alle Lügen, alle Täuschungen, alle Illusionen werden wie ein Kartenhaus jämmerlich zusammenbrechen. Die Tage des Siegelträgers Moorwell und seiner gesamten verbrecherischen Familie sind nun an einer Hand abzählbar.‹
Der Tag hatte so gut angefangen und nun war ich in einem moralischen Dilemma gefangen, ich befand mich in einer Sackgasse. Der Verfasser schrieb auch: ›Verehrter Leser, du bist nun ein Mitwisser. Du weißt nun auch über die Verbrechen unserer Nation Bescheid, kennst ihre Lügen und ihre dreckigen Spielchen. Während du diese Zeilen liest, formt sich um deinen Hals eine Schlinge aus Stacheldraht und mit jedem Wort wird sie enger. Deine Aufgabe besteht darin, diesen Brief zu vernichten, doch das wird dich von deinem Todesurteil nicht befreien. Du weißt nun zu viel. Du gehörst somit auch zum engeren Kreis. Es tut mir leid, wenn ich dich damit überrumple, aber ich habe keine andere Wahl. Die Zeit drängt und ich befinde mich im Zugzwang. Jetzt oder nie. Sie werden dich jagen und sie werden dich töten wollen, denn jetzt bist eine Gefahr, ein unberechenbares Element. Selbst wenn du deine Pflicht erfüllst, selbst wenn du versuchst, es zu vergessen, es zu ignorieren, dir nichts anmerken zu lassen, wird es nicht helfen. Du trägst das Mal des Biests. Ob du es willst oder nicht.‹
Ich hob vorsichtig meinen Kopf und schaute mich im Büro um. Niemand beachtete ich mich, sie alle saßen an ihren Schreibtischen, tippten, lasen, kritzelten, öffneten, verschickten. Jeder war in seiner eigenen kleinen Blase gefangen.
Ich sank auf meinen Stuhl zurück, ich schwitzte, gleichzeitig verließ mich jegliche körperliche Wärme. Was sollte ich nur tun? Wie der Verfasser schon sagte, ich war verloren … Selbst wenn ich meine Pflicht erfüllte.
Während mein Kopf ratterte und versuchte, einen Ausweg zu finden, arbeiteten meine Hände bereits von allein. Sie falteten die drei Zettel zusammen und legten sie in den Umschlag vorsichtig zurück. Meine rechte Hand begann, sich dem ›Vernichten‹-Stempel zu nähern. Es fühlte sich an, als hätte jemand die Kontrolle übernommen, als wäre ich nun auf Autopilot. In mir tobte ein Kampf.
Meine Hand umschloss den Stempel, sie hob ihn hoch, doch bevor sie hinabsausen konnte, packte ich sie und hielt sie mitten in der Bewegung auf.
»Was mache ich da gerade?«, flüsterte ich leise zu mir selbst. Ich kämpfte gegen die mir antrainierten Instinkte an. Jahrelang durch die Akademie verinnerlichte Handlungsweisen kamen plötzlich stotternd zum Stehen. Und es gefiel mir nicht. Ich weiß nicht, ob ein Restfunken meines Gewissens plötzlich aufflammte, aber entgegen meines beruflichen Verstandes legte ich den Stempel weg, nahm den Brief und packte ihn in meine Aktentasche.
»O Gott«, stieß ich nur hervor. Mir war übel. Ich verstieß gerade gegen mehrere dienstliche Vorschriften. Die Konsequenzen konnte ich nicht einmal erahnen. Ich schaute mich noch einmal um. Niemand hatte mich beobachtet, zum Glück. Hätte es jemand gesehen, wie ich einen Brief, der eigentlich vernichtet werden sollte, einsteckte und mit nach Hause nahm, dann wäre ich dran gewesen.
»Habe ich den Verstand verloren?«, fragte ich mich selbst. Die Antwort wäre ja offensichtlich.
Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Die Arbeit … Die Arbeit musste getan werden. Der ominöse Brief wurde in die hinteren Areale meines Gehirns verlegt, ich musste jetzt an die Gegenwart denken.
Die Zeiger der Uhren krochen im Schneckentempo voran. Jede Sekunde fühlte sich wie eine halbe Ewigkeit an. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich musste ständig an … an das Ding in meiner Aktentasche denken. Als wäre es eine Bombe, die jeden Moment hochgehen könnte. Na ja, technisch gesehen, war es eine Bombe, zumindest im übertragenden Sinne. Sollte dieser Brief wirklich in der Öffentlichkeit verteilt werden, dann würde das weitreichende Konsequenzen für das System, für den Staat, für unsere Zukunft haben.
Die Glocke, die die Mittagspause einläutete, riss mich aus meinem Gedankenstrudel. Sofort erhob ich mich ruckartig, was auf Außenstehende wahrscheinlich ziemlich verdächtig wirken musste. Jetzt dachten sie bestimmt, dass ich etwas zu verbergen hatte.
Ich starrte auf den Boden und vermied jeglichen Augenkontakt. Ich wollte die Sache einfach so schnell wie möglich hinter mich bringen. Der Arbeitstag hatte nur noch fünf Stunden übrig, das sollte ich doch überstehen können, oder? Ich durfte mir nichts anmerken lassen …
Von hinten schlug mir irgendjemand auf die Schultern. Ich zuckte zusammen und schrie auf. Jetzt haben sie mich, jetzt haben sie mich erwischt, raste es durch meinen Kopf. Ich drehte mich um, die Angst musste mir förmlich im Gesicht stehen. Jetzt war es aus mit mir.
Doch zu meiner Überraschung (und Erleichterung) stand dort kein Briefträger-Gardist, sondern Alex, der mich etwas verdutzt anschaute. Ich bemerkte auch, dass mich mehrere Kollegen anstarrten, wahrscheinlich wegen meines schrillen Schreies, doch nach wenigen Augenblicken schüttelten sie den Kopf und strömten weiter in die Essenshalle.
»Alles okay mit dir, William? Hab ich dich erschreckt?«, fragte er im besorgten Ton.
Ich atmete tief durch, sammelte mich wieder. »Ja … Alles gut, alles bestens … Ich … Ich hatte nicht damit gerechnet, das ist alles«, stammelte ich vor mich hin.
Alex hob seine linke Augenbraue. »Ist das so? Du hast ziemlich laut geschrien. Du siehst auch ziemlich blass und verschwitzt aus, ist wirklich alles in Ordnung? Hast du dir was eingefangen? Fieber oder dergleichen?«
»Nein, nein … es ist wirklich, alles in Ordnung, alles bestens. Ich hab … Ich hab nur schlecht geschlafen, ja. Schlecht geträumt, ziemlich übel. Jetzt bin … bin ich quasi ein nervöses Wrack. Schreck bei jeder Kleinigkeit auf, kennst du wahrscheinlich ja.« Gott, das kaufte mir doch niemand ab.
»Ja? Was hast du denn geträumt, dass du so schreckhaft bist?«
»Ach, ich war … ich war in einem Geisterhaus.«
»Einem Geisterhaus?«
»Ja, ja … alte Kindheitserinnerung. Ich war mal in einem alten, verlassenen Wohnblock zusammen mit ein paar anderen Kindern. Das war … war eine ziemlich gruselige Erfahrung.« Was für eine absurde Notlüge. Fiel mir denn nichts Besseres ein?
»Wirklich? Musst du mir demnächst unbedingt mehr erzählen. Klingt auf jeden Fall sehr interessant, sehr spannend. Ich liebe diese ganzen kitschigen Geistergeschichten. Bei der Party wirst du ja Gelegenheit dafür bekommen, das alles im Detail zu berichten. Ich will unbedingt mehr erfahren«, erklärte Alex freudestrahlend. Er schien mir zu glauben.
Scheiße, ich hatte das völlig verdrängt. Die Party, die war ja heute.
»Du kommst doch, oder? Neunzehn Uhr?«
»Ja, sicher. Klar. So etwas lasse ich mir doch nicht entgehen.« Ich versuchte, ein Lächeln aufzusetzen. Hoffentlich wirkte es überzeugend.
Alex schlug mir gegen die Schulter. »Sehr cool. Ich freue mich. Wollen wir dann essen gehen?«
Ich nickte und folgte ihn.
Während der Mittagspause war ich nicht sehr redselig. Ich stocherte lustlos in meinen Spaghetti mit Tomatensauce herum. Mir war der Appetit gründlich vergangen. Thomas, Benedikt und Manfred waren auch wieder da. Sie unterhielten sich lautstark über … keine Ahnung, Sport? Ich hörte nicht wirklich zu. Alex schaute mich besorgt an. Ich hoffte, dass er keinen Verdacht schöpfte.
Bald kehrten wir alle zu unseren Arbeitsplätzen zurück. Noch immer konnte ich mich nicht richtig konzentrieren. Eine Wolke der Furcht und Verzweiflung hing über meinen Kopf. Die unzähligen Wörter der unzähligen Briefe verschwammen vor meinen Augen, wurden zu einem unidentifizierbaren Wortbrei, ein Buchstabenmonster aus den Tiefen meiner Alpträume.
Ich bekam es nicht mit, aber irgendwann rückte der Feierabend an. Ich wusste nicht, wie viele Briefe ich heute bearbeitet oder ob ich überhaupt irgendeine Form von Arbeit vollbracht hatte. Geistesabwesend verließ ich zusammen mit allen anderen das Büro. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich hatte das Gefühl, dass meine Aktentasche Wärme ausstrahlte, so als würde sich darin glühendes Eisen befinden. Ich schwitzte, meine Haut juckte, meine Augen zuckten nervös von links nach rechts. Hoffentlich bemerkte es niemand. Ich sah Alex, aber ich entschied mich, mich von ihm fernzuhalten. Ich wollte nicht, dass er mich so sah. Er würde Verdacht schöpfen.
Aber irgendwie … hatte ich das Verlangen mit ihm darüber zu reden. Ich wusste nicht wieso, aber ich wollte mich nicht so einsam fühlen. Und gerade in diesen Moment fühlte ich mich, als wäre ich der letzte Mensch auf Erden. Ich entschied, das Risiko später einzugehen. Vielleicht konnte er mir ja helfen, vielleicht wusste er einen klugen Ratschlag.
Ich war unten in der Halle. Über den Eingang war in großen Lettern der folgende Schriftzug eingraviert worden: FÜR POST UND STADTSTAAT, flankiert von zwei Rutenbündeln. Noch nie hatten sich Worte so erdrückend angefühlt.
Die Heimreise war ein völliger Fiebertraum. Ich stieg in den Zug ein und im nächsten Moment saß ich ohne Uniform in meinem Sessel in meiner Wohnung. Ich hatte keinerlei Erinnerungen an die Fahrt. Ich hielt sogar die heutige Ausgabe des ›Herolds‹ in der Hand, doch die Lust nach Lesen war mir gründlich vergangen.
Ich schaute auf die Uhr: siebzehn Uhr dreißig. Ich müsste mich bald fertig machen und zur Party gehen. Schließlich hatte ich zugesagt und jetzt plötzlich abzusagen, wäre sehr unhöflich. Und das wollte ich Alex auch nicht antun.
Ich holte den verdammten Brief aus der Aktentasche und betrachtete ihn, las ihn noch einmal. Der Inhalt hatte sich nicht auf magische Weise geändert. Was hatte ich auch erwartet? In mir kroch das Verlangen danach hoch, den Brief in tausend kleine Stücke zu zerreißen. Es fühlte sich an, als würde kochend heiße Magensäure meine Speiseröhre hochklettern. Doch ich unterdrückte es.
Ich legte ihn beiseite und begann mich für die Party fertigzumachen. Schnell unter die Dusche schlüpfen, meine Haare machen, etwas bequemes anziehen. Ich entschied mich für ein schlichtes weißes Hemd ohne Krawatte und eine schwarze Hose. Es war recht warm draußen, deswegen war eine Jacke unnötig.
Ich schaute noch einmal in den Spiegel. Mann, sah ich fertig aus. Die Haut blass, vereinzelte rote Stresspunkte, Augenringe traten lila-blau hervor, ein Dreitagebart. Es waren nur ein paar Stunden vergangen seit der Entdeckung dieses Briefes und schon jetzt machte er mich fertig.
Ich versuchte dieses ›Ärgernis‹ fürs Erste zu vergessen und mich auf die Party zu konzentrieren, Spaß zu haben, zu leben. Trotzdem überkam mich plötzlich ein starkes Gefühl der Angst und der Paranoia. Ich schnappte den Brief und steckte ihn in meine Hosentasche. Ich wusste nicht wieso, aber mir war es lieber, wenn er in meiner Nähe war. Ich wollte ihn nicht offen und unbeaufsichtigt in meiner Wohnung liegenlassen.
Da Alex in derselben Gegend wie ich wohnte, war es nicht nötig, mit der Bahn zu fahren. Ich brauchte bloß ein wenig zu laufen, wenn auch nicht weit, Alex seine Wohnung befand sich vielleicht zehn Minuten von mir entfernt. Aber nichtsdestotrotz wäre es ein netter kleiner Spaziergang, der mich auf andere Gedanken bringen würde. Und bei Gott, ich hatte es bitternötig, an der frischen Luft zu sein.
Ich verließ meinen Wohnblock und ging die Straße nach links. Ich würde die Gegend, in der ich wohnte, nicht als hübsch bezeichnen. Zum größten Teil waren es riesige, graue Wohnblöcke, die das Straßenbild dominierten. Hier lebten die niederen Postbeamte mit ihren Familien. Sobald man den Job antrat, bekam man vom Staat eine Wohnung zugeteilt. Der Vorteil: Man zahlte nur ein Drittel des Mietpreises und musste sich, solange man im Dienst war, keine Sorgen mehr machen.
Die höheren Beamte hatten das Privileg, direkt in der Nähe der Zentrale zu wohnen, in luxuriöseren Wohnungen als die unseren. In der Regel handelte es sich um fünf- bis sieben-Zimmer-Apartments (je nach Rang). Auch die Abgeordneten der Berufskammer und des Großrates ebenso wie die Minister bekamen eigene Wohnungen, wobei ich keine genauen Kenntnisse über die Größe und die Ausstattung habe. Ich hatte mal Gerüchte darüber gehört, dass sie noch nobler aussahen als die Behausungen der höheren Beamten. Aber wie schon einmal gesagt wurde: An diesen Ort gelangte man nur durch Verbindungen in die richtigen Kreise.
Bald gelangte ich zum Block, wo sich Alex seine Wohnung befand. Wieder standen am Eingang zwei Briefträger-Gardisten, wieder spielte sich dieselbe Szene wie vor meiner Wohnung ab. Ich musste ihnen nur erklären, dass ich zu einer Party eingeladen war. Der eine Gardist, er war etwas größer als sein Kamerad und sah weitaus grimmiger aus, betrachtete mich zuerst skeptisch und legte seine Hand auf seinen Schlagstock, so als könnte ich irgendeine Bedrohung für ihn darstellen. Seien wir ehrlich, das wäre schon sehr absurd. Meine Physique war bei weitem nicht so ausgeprägt wie bei einem Briefträger-Gardisten.
Ihre Körper waren durch ständiges Training gestählt, die Uniformen konnten kaum die vor Muskeln protzenden Arme verschleiern. Theoretisch benötigten sie keine Waffen, ihre Fäuste würden ausreichen, um einen den Schädel zu zertrümmern. Und sollte man für sie eine Gefahr darstellen, dann würde sie auch keine Sekunde zögern, das zu tun. Direkte Tat hieß ihr Eid.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ließen sie mich aber doch passieren und ich durfte eintreten. Erleichtert atmete ich aus. Es gab, Gott sei Dank, keine Leibesuntersuchung. Ich glaube, dann wäre ich auf der Stelle gestorben.
Ich ging die vielen Treppen hoch und klopfte an Alex seiner Tür. Ich konnte bereits laute Geräusche, Gelächter und Musik vernehmen. Nach einem kurzen Augenblick öffnete mein Kollege die Tür. Wie immer sah er sehr herausgeputzt aus. Er hatte sich die leicht silbernen Haare zurückgekämmt und sie mit Gel gebändigt. Er trug ein lässiges, ungebügeltes Hemd, natürlich war es nicht in die schwarze Hose gesteckt. Sein Lächeln, seine elfenbeinfarbenen Zähne strahlten mich an. Wieder einmal ging mir die Frage durch den Kopf, wie er das anstellte.
»Brief und Siegel, William«, begrüßte er mich freundlich.
»Brief und Siegel, Alex«, entgegnete ich.
»Nun steh nicht so wie ein steifes Brett rum, sondern komm rein! Alle anderen sind auch schon da.« Er zog mich in seine Wohnung. »Hat dich was aufgehalten?«
Ich schaute auf meine Uhr und sah, dass es zehn nach sieben war.
»Ja, ja. Unten. Der Gardist wollte mich nicht reinlassen, dachte wohl, ich bin ein Terrorist oder so.« Ich kicherte nervös. Die Wahrheit war näher, als mir lieb war.
Alex lachte. »Ach, ist das so? Wahrscheinlich hatte dann Henry heute Dienst. Stämmiger Typ, absolut humorlos. Hab ihn noch nie lächeln sehen. Sein Gesicht ist wie ein Betonblock. Grau, hart und fast unzerstörbar.«
»Ja, ich glaube, den hatte ich heute.«
»Mach dir nichts draus. Einmal wollte er mir auch mein Gesicht neu modellieren.«
»Wieso?«, fragte ich.
»Ach, dumme Geschichte. Ich hatte meinen Ausweis in der Wohnung vergessen und Henry wollte mich, auf Teufel komm raus, nicht reinlassen. Gott sei Dank, kam gerade ein anderer Gardist und erkannte mich wieder. So ging die gesamte Sache doch glimpflich aus«, er lachte immer noch.
Ich war bisher nur wenige Male in Alex Wohnung gewesen. Er war auch nur ein- oder zweimal bei mir zuhause zu Besuch. Wenn man sich nahezu jeden Tag auf der Arbeit sah, war das Verlangen nach gegenseitigen Treffen doch sehr gering.
Seine Wohnung war sehr schön eingerichtet, schöner als meine. Da Alex mit Hannah verheiratet war und Kinder hatte, bekam er auch eine größere Wohnung, nämlich ganze vier Zimmer, zur Verfügung gestellt. Sein Zuhause war mit weitaus mehr Kleinkram und Möbel ausgestattet, lag wahrscheinlich am weiblichen Einfluss.
Im Wohnzimmer standen eine komplette Sofagarnitur und ein großer Holztisch. An den freien Wänden befanden sich Bücherregale, vollgestopft mit unzähligen Schinken. Ich war ziemlich beeindruckt, Alex besaß die kompletten Werke von George Sorel (in französischer Sprache wohlgemerkt, keine Ahnung, wie er daran rankam), eine zweibändige Originalausgabe von Oswald Spenglers ›Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte‹ und einige geschichtsphilosophische Abhandlungen von Francis Parker Yockey. Ich erblickte gar eine Ausgabe von Karl Marx ›Das Kapital‹, dabei dachte ich, dass dieses Buch während der ›Bleiernen Jahre‹ vollständig vernichtet wurde. Wahrscheinlich handelte es sich um eine historisch-kritische Version zu Studienzwecken.
Ebenso sah ich eine Monographie von Oswald Moorwell mit dem Titel ›Der Zyklus von Krieg und Revolution. Eine philosophische Betrachtung der drei Großen Kriege und ihrer Auswirkungen‹. Dort formulierte er den Leitspruch: »Der erste Große Krieg zerbrach die Aristokratie und gebar den Faschismus. Der zweite Große Krieg ermordete unsere Vorväter und gab den Weg frei für die globale Achse Marxismus-Liberalismus. Der dritte Große Krieg fegte die janusköpfige Herrschaft hinfort und entfachte das Feuer der Revolution. Und wie der sagenumwobene Phönix stieg der Faschismus aus der Asche erneut empor.«
In einem der Regale sah ich eine lebensgroße Büste von Benito Mussolini, dem Begründer des sogenannten ›italienischen Faschismus‹. Er war einer der ersten, der faschistische Ideale mit dem Postbotentum verknüpfte. Die alten Quellentexte besagten, dass er während des ersten Großen Krieges über die zerbombten Schlachtfelder sprintete und Briefe an seine demoralisierten Kameraden verteilte. Er gab ihnen neuen Mut und ließ die Gemeinschaft wieder zusammenwachsen. Wie die Postboten aus den alten Zeiten verband er über weite Strecken entfernte Existenzen miteinander, überbrückte die unvorstellbaren Entfernungen und ließ die vereinzelten Seelen, sich wie ein Volk fühlen.
Über Alex sein Sofa hing ein gewaltiges Gemälde, das Gabriele D`Annunzio in seiner aristokratischen Uniform porträtierte. Ein Weggefährte Mussolinis, galt er als einer der Urväter des Faschismus. Er war der Begründer des ›militanten Briefträgers‹ und seine Republik von Fiume war das inspirierende Vorbild unseres Stadtstaates Kardia.
Ich sah ein paar bekannte Gesichter, Benedikt und Manfred standen zusammen und redeten miteinander. Thomas war bei einem jungen Mann, der, soweit ich mich erinnern konnte, der älteste Sohn von Alex war.
Hannah kam zu mir. Sie war eine bildhübsche Frau, ein wenig jünger als Alex, mit blonden, lockigen Haaren. Für die Feier hatte sie sich ein schwarzes, langes Kleid angezogen. In der linken Hand hielt sie einen Teller, auf denen sich kleine, zurechtgeschnittene Sandwiches befanden.
»Hey, William. Schön, dass du kommen konntest. Schnittchen gefällig?«
»Dazu sag ich nicht nein«, und nahm mir eins. Es war mit Salami, Salat und Ei bestückt.
Ich blickte in die Runde, da waren auch ein paar Leute, die ich gar nicht kannte, wahrscheinlich Freunde von Alex.
»Und wie mundet es dir?«, fragte der Gastgeber.
Ich schluckte den Bissen hinunter. »Sehr vorzüglich.«
Alex schlug mir gegen die Schulter und lachte dabei herzlich. »Sag ich doch. Die sind vortrefflich. Nun denn, haben wir etwas Spaß. Nimm dir ruhig ein Bier aus der Kühlbox und genieß den Abend.«
»Danke, mach ich.« Leichter gesagt als getan.
Thomas kam auf mich zu und redete mit mir. Aber ich verstand ihn nicht wirklich oder ich hörte nicht richtig hin, er sprach von irgendwelchen Dingen, war schwer, ihn zu folgen. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab, kreisten in meinem Kopf, drehten sich. Der Brief in meiner Hosentasche pulsierte, sendete förmlich Hitzewellen aus. Egal wie sehr ich mich anstrengte, ich konnte mich nicht konzentrieren, ich kam immer wieder zum Brief zurück.
»Alles okay, William?« Thomas Worte kamen endlich bei mir an.
»Hä? Was?«
»Ich habe gefragt, ob alles okay bei dir ist?«
»Ja … wieso?«
»Du schwitzt sehr stark und bist so blass. Hast du schlecht geschlafen? Oder bricht bei dir ein Fieber aus?«
»Nichts dergleichen … Ich hab … Ja, schlecht geschlafen. Das ist alles, einfach schlecht geschlafen.«
Thomas schaute mich skeptisch an. Er wollte gerade etwas sagen, doch dann rief jemand seinen Namen und er entschuldigte sich.
Ich atmete erleichtert aus. Doch es stellte sich keine Entspannung ein. Ich musste mit jemanden darüber reden. Ich musste es einfach, es brannte mir auf der Seele und wenn ich nicht aufpasste, würde das Feuer mich bei lebendigem Leibe verzehren.
Ich schlich zu Alex, der gerade mit Benedikt sprach, und tippte ihn auf die Schulter. Überrascht drehte er sich um, das Lächeln war noch immer auf seinem Gesicht zu sehen.
»Ja? Gibt es etwas, William? Brauchst du was?«, fragte er im heiteren Ton.
»Ja, tatsächlich gibt es etwas. Ich muss mit dir reden. Gibt es einen ruhigen Ort?«
Er überlegte kurz. »Ja, im Schlafzimmer. Um was geht es? Deine Geistergeschichte?«
»Nein, nein. Etwas anderes.«
»Na, dann komm mal mit.«
»Treibt es nicht zu wild!«, rief Benedikt hinterher.
»Ach, halt doch die Klappe, Ben«, entgegnete Alex lachend.
Das Schlafzimmer war ebenfalls sehr schön eingerichtet. Ein großes, gemütliches Bett für zwei Personen. Darüber hing ein Gemälde von Umberto Boccioni, ein wildes, geometrisches Zusammenspiel aus Formen und Farben, was eine Art von abstrakter, chaotischer Straße darstellen sollte. In der Mitte des Weges schien sich der Schlund zur Hölle zu öffnen, die reduzierten menschlichen Figuren standen vor einem feurigen Abgrund. Die Gebäude waren verzerrt, wirkten wie aus einem Alptraum. ›Simultanvisionen‹ hieß das Bild, glaube ich. So wie es aussah, beschrieb es meine Situation eigentlich ganz gut.
»Über was möchtest du denn mit mir sprechen?« Alex riss mich aus meinem Gedankenstrom. »Es ist schwierig, zu erklären …«, stammelte ich.
»Sag es einfach. Ich werde dich schon nicht verurteilen.«
»Nun …«, ich kramte in meiner Hosentasche herum und zog den zerknitterten Brief hervor. »Ich habe bei der Arbeit heute …«
Alex Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er wich einen Schritt zurück. Mit zitterndem Finger zeigte er auf die Blattsammlung.
»William, du hast doch nicht etwa … Das kann doch nicht … Sag mir, dass das nicht …«
»Doch, doch ist es. Es ist ein Brief von der Arbeit, ich habe ihn mitgenommen …«
Alex fuhr sich durch seine Haare. Jetzt waren sie völlig verwuschelt. Seine Augen zuckten hin und her, er schaute besorgt zur Tür.
Mit flüsterndem Ton sagte er zu mir: »Das kann doch nicht dein Ernst sein, oder? Hast du deinen Verstand verloren? Du kannst doch nicht … Du kannst doch keine Post mit nach Hause nehmen! Hast du überhaupt eine Vorstellung, was die mit dir machen, wenn sie dich erwischen sollten?«
»Aber …«
Er ging aufgeregt auf und ab. »Und dann bringst du es auch noch in meine Wohnung. Ich glaube es nicht, ich kann es nicht glauben. Willst du mich in Gefahr bringen?«
»Nein, gar nicht …«, versuchte ich mich zu verteidigen.
»Willst du meine Familie in Gefahr bringen? Was hast du dir dabei gedacht? Und warum ausgerechnet heute?«
»Aber Alex, sieh ihn dir doch mal an …«
Sofort schloss er die Augen, als ich ihn den Brief zeigte, als wäre es ein verfluchtes Objekt.
»Nein, nein, nein! Ich will es gar nicht sehen! Das bringt nur Unheil, nur Ärger! Ich will nicht wissen, was da drinsteht, ich will es nicht wissen! Ich will das Ding gar nicht meiner Nähe haben!«
»Alex, hör doch …«
Er ließ mir keine Chance. »Nein, nein und nochmals nein! Geh mit diesem Ding von mir weg! Ich will damit nichts zu tun haben. Du bringst uns damit noch alle in Teufels Küche, verstehst du das denn nicht? Tu mir einen Gefallen und verschwinde damit. Entsorge es! Vernichte es! Und dann vergiss es! Das rate ich dir als dein Freund.«
»Alex …«
»Bitte, bring dieses Teil von hier weg. Du bringst uns in Gefahr.« Er seufzte. »Ich muss dich leider bitten, die Party zu verlassen. Solange du diesen Brief bei dir hast, will ich dich nicht hier haben.«
»Was soll ich denn tun?«
»Keine Ahnung. Wie gesagt, zerstör den Brief. Zerreiße ihn kleine Stücke und spül sie die Toilette hinunter. Mir egal, es ist nicht mein Problem, sondern deins! Kümmere dich darum! Aber zuerst: Verschwindest du von hier!«
Ich war geknickt und ließ den Kopf hängen. Für einen kurzen Moment hatte ich geglaubt, dass Alex mir helfen könnte. Aber ich war wohl doch zu naiv. Ich hätte es mir eigentlich auch denken können, was ich getan hatte, war ein sehr schweres Vergehen. Und ich hatte ihn und seine Familie damit unnötig in Gefahr gebracht.
Ich entschuldigte mich und verließ die Wohnung. Jemand fragte nach mir und ich hörte, wie Alex sagte: »Ach, William geht es gerade nicht gut. Irgendetwas mit dem Magen«, und dann fiel die Tür zu und ich war von der Party, von meinen Freunden abgeschnitten. Um mich herum war nur bedrückende Stille und das Summen der Neonröhren.
Ich ging den leeren Gang, völlig in Gedanken versunken und bemerkte gar nicht die Person, die sich mir näherte. Ehe ich reagieren konnte, kollidierten wir beide miteinander. Ich war völlig in sie reingelaufen, wir beide stolperten etwas, doch keiner fiel hin. Ich sah, dass es sich um einen Briefträger-Gardisten handelte. Sofort nahm ich Haltung an und rief: »Brief und Siegel, der Herr! Entschuldigen Sie, wegen des Zusammenstoßes. War keine Absicht.«
Seine Schirmmütze war tief ins Gesicht gezogen, wodurch ihn nicht wirklich erkennen konnte. Die schummrigen Lichtverhältnisse halfen dabei auch nicht. Er richtete seine Jacke, strich sie glatt und ging seines Weges weiter, als wäre nie etwas passiert.
Als ich mich wieder gefasst hatte, sah ich durch einen Zufall nach unten und erblickte einen kleinen, weißen Zettel. Wahrscheinlich war er aus der Tasche des Gardisten gefallen. Ich hob ihn hoch, drehte mich um und rief: »Entschuldigung, Sie haben da etwas verloren …«, doch der Gang war leer, der Gardist war wie vom Erdboden verschluckt.
Aus Neugier faltete ich den Zettel auf, darauf standen mehrere Wörter geschrieben:
›Ezra-Pound-Straße
Wohnblock 2
Dritte Etage
315
Dreimal‹
Ich wurde nicht wirklich schlau aus dieser Notiz, es handelte es sich eindeutig um eine Adresse, aber wofür? Und was bedeutete dieses ›dreimal‹? Eine Art von Code? Eine verschlüsselte Nachricht? Ein geheimes Zeichen?
Ich steckte den Zettel vorerst in meine Hosentasche, ich wollte mir später darüber Gedanken machen. Zuallererst war meine Priorität, nach Hause zu kommen, der Tag war lang und erschöpfend, die Konfrontation mit Alex hatte mich ziemlich fertig gemacht. Ich brauchte mein Bett … und vielleicht einen Tee.
Am nächsten Tag ging ich wie gewohnt zur Arbeit. Eigentlich verlief auch alles ganz normal, bis ich etwas sehr Gravierendes entdeckte. Alex war heute nicht erschienen, was recht ungewöhnlich war, da er seinen Job mehr als nur ernst nahm. Seit ich ihm kannte, hatte er nie einen Tag krank gemacht oder in irgendeiner anderen Form gefehlt, er kam auch nie zu spät.
Am Mittagstisch fragte ich in die Runde, ob einer wusste, was mit Alex los war. Doch keiner von ihnen konnte mir etwas sagen. Sie erzählten mir, dass die Party nach zweiundzwanzig Uhr vorbei war und dann alle nach Hause gingen. Da hatten sie Alex zuletzt gesehen. Benedikt wohnte im selben Wohnblock wie er und er sagte mir, dass er auch nicht im Zug gewesen war. Normalerweise saßen sie nebeneinander, quatschen miteinander und rauchten noch eine vor der Arbeit. Doch heute …
Nach der Arbeit entschied ich mich, zu Alex seiner Wohnung zu fahren. Vielleicht ging es ihn nicht gut, vielleicht war er doch krank. Zumindest hoffte ich, dass es etwas Harmloses war.
Ich stand vor der Wohnung und klingelte. Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet und ich sah das verheulte Gesicht von Hannah, sie war blass und ihre Augen waren gerötet. Sofort verkrampfte sich mein Herz.
»Ja?«, fragte sie mit schwacher, brüchiger Stimme.
»Entschuldigung, Hannah … ich wollte fragen, ob bei Alex alles in Ordnung ist. Er war heute nicht bei der Arbeit.«
»Nein … ich meine, ja, ja, ihn geht es gut … Es ist alles in Ordnung, alles bestens, könnte nicht besser sein.« Ihr Gesicht erzählte eine andere Geschichte.
»Kann ich mit ihm sprechen?«
»Nein, nein. Er ist … Er ist nicht da.«
»Wo ist er denn?«
»Ich weiß … Er ist weg … weg. Er musste … musste weg.«
»Weißt du …«
»Hör zu … Ich weiß … Ich kann nicht … Er ist …«, sie schluchzte. »Ich muss mich um die Kinder kümmern. Ich kann nicht sprechen. Nicht hier. Keine Zeit. Bitte, frag nicht mehr.« Hannah schloss die Tür und ließ mich im schummrigen Gang alleine zurück.
Die Sache stank gewaltig zum Himmel. Erst tauchte Alex nicht bei der Arbeit auf und jetzt wusste nicht mal seine Frau, wo er war. Und ihr Gesicht, ihre Augen … sie musste die ganze Zeit geweint haben. Irgendetwas war vorgefallen.
Und dann schlug mir die Erkenntnis mitten ins Gesicht. Der Brief! Oh mein Gott, der Brief! Was habe ich getan! Ich hatte Alex von dem Brief erzählt und ihn zu einem Mitwisser gemacht. Und sie haben ihn geschnappt. Sie waren zu seiner Wohnung gekommen und haben ihn einfach weggeschleppt.
Ich zog den kleinen Zettel aus meiner Hosentasche raus und faltete ihn auf. Ich wusste nicht wieso, aber meine Intuition verriet mir, dass die Adresse, die dort geschrieben war, sehr wichtig sein musste. Vielleicht fand ich dort ein paar Antworten. Was blieb mir auch anderes übrig? Wenn sie sich bereits Alex geholt hatten, dann bedeutete das … wahrscheinlich ich der Nächste auf der Liste war.
Ich stützte mich an der kalten Betonwand ab, plötzlich war mir speiübel. Die Realität meiner Situation war mir bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht so bewusst gewesen. Aber … ich hatte einen Anhaltspunkt, wohin ich als Nächstes gehen sollte. Die Adresse auf dem Stück Papier … sie wird mir helfen. Vielleicht finde ich dort Antworten auf meine vielen Fragen.
Ich machte mich sofort auf den Weg und stieg in den nächsten Zug. Die Ezra-Pound-Straße befand sich im Armenviertel von Kardia und das merkte man auch gleich. Die Wohnblöcke waren heruntergekommener, die Straßen dreckiger und man sah weniger Gardisten auf Patrouille. Die meisten Leute die hier lebten, waren Individuen, die nicht mehr in der Lage oder nicht willig waren, zu arbeiten (und auch keine Verwandten hatten, die sich um diejenigen kümmerten). Der Staat kannte da kein Erbarmen. Tüchtige Arbeit war das Fundament unserer Gesellschaft, ohne Arbeit würde hier nichts funktionieren, alles würde zusammenbrechen.
In diesem Viertel lebten die Armen, die (vornehmlich psychisch) Kranken, die Schwachen, abgeschottet vom Rest der Gesellschaft, als wäre ihr Zustand eine Krankheit. Der Staat gab ihnen das bloße Existenzminimum – eine magere Sozialhilfe und eine winzige Wohnung, gerade genug zum Überleben. Die meisten starben einsam in ihren Gefängnissen aus Beton.
Das Viertel diente auch als Abschreckung. Ich konnte mich daran erinnern, was meine Mutter immer zu mir sagte, wenn ich mit einer schlechten Note nach Hause kam: ›Mach nur weiter so und du landest im Armenviertel. Und niemand wird dich von dort retten.‹ Die Schule und die Lehrer propagierten dasselbe.
Das erste, was mir auffiel, als ich das Viertel betrat, war der Gestank von Fäkalien und Pisse, der in meine Nase eindrang. Mir wurde übel, es roch nach Verfall, Verwesung und Abfällen. Wie konnten die Menschen hier bloß leben? Wie konnte man sie hier leben lassen?
Ich suchte den Wohnblock 2 und begab mich in die dritte Etage. Die meisten Neonröhren funktionierten hier überhaupt nicht, die Gänge waren streckenweise in purer Finsternis versunken. Ab und an hörte ich Weinen, feucht-schleimiges Husten und Geschrei. Alles durch den grauen Beton gedämpft. Überall lagen ranzige Müllsäcke, Ratten huschten in den dunklen Ecken umher, ich vernahm ihren kleinen Tapse-Schritte. Es war wie in einem Alptraum.
Ich erreichte die Wohnung Nr. 315 und klopfte, wie auf dem Zettel geschrieben stand, dreimal an die Tür. Augenblicklich riss sie jemand auf, packte mich am Arm und zerrte mich hinein. Auch hier war der Gestank übel, wenn nicht sogar noch schlimmer als draußen.
Durch die Überraschung war ich völlig desorientiert, mein verwirrter Blick fiel zuerst auf die Wände der Wohnung. Sie waren von oben bis unten zugekleistert mit Zeitungen, Dokumenten, Fotos, Papieren mit Texten und Statistiken. Viele der Zettel waren mit schwarzen Markern bekritzelt oder mit roten Fäden verbunden worden. Auf dem Boden lagen überall Notizen und Tagebücher verstreut. Ich konnte ein paar Dinge in diesem Wirrwarr aus Buchstaben und Tinte erkennen: Geburten- und Sterberaten, Vermisstenanzeigen, Ergebnisse von Sterilisationsexperimente, Vermisstenanzeigen, Bilder von Leuten (beschriftet mit: ›spurlos verschwunden‹), aufgezeichnete Aktivitäten der Brief- und Paketuntersucher, angebliche Sichtungen von riesigen Kakerlaken in der Kanalisation des Staates, Verwicklungen der Familie Moorwell und Fotos von Bäumen und Wiesenlandschaften (sie sahen nicht so künstlich wie die Parks oder Baumschulen von Kardia aus).
Dann erst schaute ich mir die Person an, die mich in ihre Wohnung reingezogen hatte. Es handelte es sich um einen schmutzigen, alten Mann mit grauen Rauschebart und fleckiger Glatze. Er trug einen zerfransten roten Pullover und löchrige Hosen. Seine gelblichen Fingernägel waren lang und ungepflegt. Sein Blick wirkte fiebrig, seine Pupillen wackelten leicht. Er malmte mit seinen verfaulten Zähnen.
Mit zitterndem Finger zeigte er auf mich. Er sprach mit einer hohen, heiseren Stimme: »Du … Du … Du bist ja gar nicht … Eigentlich sollte doch, hab ich vielleicht, aber ist ja, ist ja eigentlich egal.« Er fuhr sich mit der Hand über seinen kahlen Schädel. »Egal, egal. Du bist hier, du hast die Adresse gefunden, das ist das, was zählt, ja, ja. Schön, schön, schön. Du bist dem weißen Kaninchen bis in den Bau gefolgt, herrlich, herrlich.«
Ich schaute ihn irritiert an und sagte erstmal nichts. Er machte einen Schritt auf mich zu und guckte mir tief in die Augen, sehr unangenehm. Ich glaube, ich konnte in dem Moment nicht mal blinzeln.
»Was schaust du so wie ein toter Fisch? Du hast die Adresse gefunden, du kanntest das Zeichen, du bist nicht der, den ich erwartet habe, aber du genügst. Sag, sag, du hast den Brief, nicht wahr? Nicht wahr? Sag schon, sag schon.«
Ich kramte unbeholfen in meiner Tasche herum und holte den zerknitterten Umschlag hervor. Sofort grapschte mir der alte Mann den Brief aus meiner Hand, schneller als ich irgendwie reagieren konnte, schneller als ich erwartet hatte.
Seine feurigen Augen wanderten über das Stück Papier, seine knochendünnen Finger betatschten es, als wäre es irgendeine Art von heiliger Reliquie.
Er schaute mich wieder direkt an. »Komm raus mit der Sprache, wer bist du? Wer bist du? Sag schon, sag schon!«
Zu sagen, dass ich überwältigt war, wäre eine Untertreibung gewesen. Es war wie im Delirium, aber nach einiger Zeit fand ich meine Sprache wieder: »Mein … Mein Name ist William, ich arbeite als C5-Briefuntersucher für die Postzentrale und …«
Der alte Mann gab einen Freudenschrei von sich, stürmte auf mich zu und umarmte mich. Man mochte es nicht glauben, aber der Sack hatte ordentlich Kraft in den Armen. Er schrie und schrie, hüpfte auf und ab.
»Haha! Haha! Es hat funktioniert, ich wusste es doch, wusste es doch! Sie nannten mich verrückt, ja, ja, das taten sie, aber ich habe nie daran gezweifelt, dass unser Plan klappt. Und es hat geklappt! Ja, ja! Und wie es geklappt hat!«
»Entschuldigung, aber … Wer sind Sie überhaupt?«
Er ließ mich wieder runter. »Ach ja, ja, ja. Ich vergaß, das tat ich. So viel habe ich vergessen, viel zu viel.« Er starrte für einen Moment in die Leere, schien sich aber wieder zu fassen. »Ach ja, mein Name ist … ist ja, nenn mich Dominique … Nein, nein, besser, besser. Nenn mich, ja nenn mich Richard. Das ist gut, das ist gut.«
»Okay …« Anscheinend hatte ich es mit einem Schizophrenen zu tun. »Und Sie haben diesen Brief geschrieben?« Ich nahm ihn den Umschlag vorsichtig aus der Hand.
»Ja, ja. Das habe ich, hab ich. Mit meinen eigenen Händen gar«, er hielt sie hoch und zeigte sie mir. So genau wollte ich sie gar nicht sehen.
»Und … alles darin ist wahr?«
»Wahr? Natürlich ist es wahr! Wahrer als wahr! Es ist wahr und noch so viel mehr, nur die Spitze des Eisberges. Du kannst dir gar nicht, überhaupt nicht vorstellen, wie weit das ganze verdammte Netz reicht. Bis nach ganz oben, bis zu Oswald Moorwell, er und sein Clan stecken mittendrin, sie sind das Zentrum. Alles, was passiert, passiert durch ihren Willen und das schon seit Jahrzehnten.«
Mein Blick musste mich verraten haben, denn plötzlich sagte er leise: »Du glaubst mir nicht, nicht wahr? Nicht wahr? Denkst, ich hab ein paar Schrauben locker? Nicht alle Sicherungen drin, nicht alle Tassen im Schrank, das denkst du, oder? Oder?«
»Nun«, begann ich vorsichtig, »es ist ein bisschen schwierig, das alles zu glauben. Als ich den Brief in den Händen hielt und mir den Inhalt durchlas, war ich geschockt. Ich konnte es nicht glauben, ich wollte es nicht glauben. Aber dann … verschwand mein Freund, als ich ihn den Brief gezeigt habe. Sie haben ihn geschnappt … also muss ja irgendetwas dran sein.«
Er legte seine Hand auf meine Schulter. Für einen kurzen Moment sahen seine Augen klar aus, als würde sich der Nebel in seinem Kopf lüften. Seine Stimme wurde ruhiger. »Ich verstehe dich. Ich verstehe, dass es schwierig ist. Ich war auch mal in deiner Position. Ich habe auch gute Freunde verloren. Genau genommen habe ich alles verloren«, das Zittern kehrte zurück, »aber du musst mir glauben, ja, ja. So viele Jahre forsche ich schon, du denkst, ich sei irgendein dementer alter Sack, aber der alte Dominique, ich meine Jefferson, ich meine Richard, der kennt sich aus. Ich habe Kontakte, von denen du nur träumen kannst.« Er ging in seiner kleinen Wohnung auf und ab.
»Ja, ja, ich kenne sie alle, sie alle, ich habe Verbindungen in die Berufskammer, in den Großrat, in die höheren Verwaltungsebenen, ich kenne sogar eure kleinen Briefuntersucher, ich kenne sie in- und auswendig. Mein kleines Netzwerk ist größer als von jeder Spinne, sogar Gardisten beliefern mich mit wertvollen, ja so wertvollen Informationen.«
»Warum sollten sie?«
»Warum? Warum? Ja, darum! Sie sind unzufrieden! Der Stadtstaat stagniert, nichts geht mehr voran. Seit dreihundert Jahren steckt unser kleines Zehn-Millionen-Reich unter einer Glaskuppel, die so sehr von Staub bedeckt ist, dass man gar nicht mehr den Himmel sehen kann, ja, ja. Sie wollen raus, raus! Die Mauern draußen und die Mauern in ihren Köpfen sind zu eng. Sie fühlen sich eingesperrt. Die Großratsmitglieder wollen mehr sein, als nur ein Organ, das dazu da ist, das Gesagte vom Siegelträger abzunicken. Die Berufskammer verlangt mehr Rechte, mehr Einfluss. Sie wissen um den Zustand unserer Nation und wollen sie verbessern. Und von der großflächigen Überwachung, damit kennst du dich ja am besten aus, nicht wahr, wollen wir gar nicht erst reden. Und die Mauern nicht zu vergessen, die Mauern! Sie wollen raus, raus!«
»Aber … draußen ist doch nichts …«
Er fixierte mich mit seinem Blick. »Wer sagt das? Wer behauptet das? Der Staat? Hast du es denn mit eigenen Augen gesehen? Frag dich doch, woher wir all diese Ressourcen herhaben. Wo die Erze herkommen. Das Holz. Die Kohle, das Gas, das Öl. Die wertvollen Mineralien. Der Sand, den wir nutzen, um den Beton für unsere Gebäude herzustellen. Sag, woher kommt das alles? Ich habe unsere Anbauflächen gesehen, ich habe die Menge berechnet, wieder und wieder, es reicht nicht, um zehn Millionen Menschen zu versorgen. Und die Minen, ja die Minen unter der Stadt spucken schon lange nichts mehr aus. Und da hört es mit den Wahrheiten nicht auf. Der Staat macht uns allen etwas vor, mein Junge.«
»Aber unser System …«
Wieder dieser fiebrige Blick, dieses Starren, als könnte er direkt in die Tiefen meiner Seele hinabblicken. »Das System? Welches System? Hahaha, er spricht von System, ja, ja. Das heutige Regime hat nichts mehr mit dem aus den Tagen der Revolution gemeinsam. Es ist dekadent geworden, eingerostet. Kein Vergleich zu den feurigen, fluiden Anfangstagen. Unser faschistisches System ist zu einer konservativen Monarchie verkommen, mit einer kleinen Clique an der Spitze der Macht, ja, ja. Aber das ist nur natürlich, ja, nur natürlich, besonders nach zweihundertfünfzig Jahren. Auf jede Hochkultur folgt eine niedere, schwächere Kultur. Nach jedem Hoch kommt ein Tief, und letztlich der Verfall und der Tod. Eine jede Gesellschaft wird nach langem Wachstum sich selbst überdrüssig, sie wird dekadent, überheblich, befallen von einem niederen Geist, bis sie in sich zusammenbricht und stirbt. Wir haben es nun oft genug erlebt, ja, ja.«
Das war für mich eine Menge Input, den ich erst einmal verdauen musste. Mir wurde schwindlig, ich stolperte ein wenig umher, bis mich Richard zu seinem Bett manövrierte. Ich spürte, wie die Bettwanzen sich unter der Decke bewegten. Es müssten tausende sein, aber vielleicht sollte ich auch einfach nicht darüber nachdenken.
»Ich habe Ihren Plan gelesen … Sie wollen den Brief zur Nationalfeier verteilen, nicht wahr?«, fragte ich ihn.
»Ja, ja, ja. Das ist der Plan, das ist der Plan.«
»Haben Sie denn einen Kopierer?«
Er schaute mich irritiert an. »Was glaubst du denn, wer ich bin? Krösus? Ich lebe in einer Besenkammer und du denkst, ich kann mir so etwas leisten? Ich bin froh, ja, ja, wenn an drei Tagen in der Woche Wasser fließt.«
»Entschuldigung …« Irgendwie fühlte ich mich jetzt mies.
»Nein, nein, nein. Ich erkläre es dir, erkläre es dir. Ich habe Bekannte, Freunde, Mitstreiter, wenn man so sagen will, sie wollten sich unten in der Rohrpostanlage treffen, dort steht der Kopierer, ja, ja. Sie werden den Brief schön kopieren, kopieren, und dann verteilen. In der gesamten Stadt! Auf dem Höhepunkt des Feiertages! Und dann, dann werden alle die Wahrheit erfahren!«
»Unten in der Rohrpostanlage? Da wollen Sie sich treffen?«
»Nicht ich, nicht ich. Du, du mein Freund. Du wirst dort hingehen!«
»Wieso ich denn?«, ich war empört.
»Du bist ein Mitwisser, ein Mitstreiter, du hast den Brief gelesen, bist zu mir gekommen, lebend kommst du aus der Sache wahrscheinlich nicht mehr raus, nein, nein. Du bist nun Teil der Verschwörung, ja, ja.«
»Ich habe nie danach gefragt …«
»Ach, niemand sucht sich sein Schicksal aus. Das Schicksal findet uns, da können wir nichts dagegen machen, nein, nein …«
Plötzlich hämmerte jemand an der Tür. Eine laute Stimme rief: »Aufmachen! Sofort aufmachen! Hier ist die Briefträger-Garde! Aufmachen!« Dem Ton nach zu urteilen, waren sie nicht auf Kaffee und Kuchen aus.
Richard erstarrte, seine Bewegungen froren förmlich ein. Er schaute mich an und flüsterte: »Ist dir jemand gefolgt?«
Ich schüttelte den Kopf, unfähig auch nur ein Wort aus meinem Mund zu pressen. Richard schaute sich nervös um, er zog mich hoch und schubste mich in sein Bad. »Schnell, schnell, da rein, da rein, und sei still, ja, sei still. Ich kümmere ich darum, vertrau mir, vertrau mir! Und … falls etwas passiert, wir treffen uns im Zentrum der Rohrpostanlage, dort wirst du uns finden, ja, ja, wir werden da sein, da sein.« Er lehnte die Tür an, machte sie aber nicht richtig zu, im selben Augenblick flog die Wohnungstür aus ihren Angeln, ein lautes Krachen, das Bersten von billigem Holz war deutlich, zu vernehmen. Drei große Hünen in Gardistenuniform fluteten das kleine Zimmer. Vom Türspalt aus konnte ich das ganze Spektakel beobachten.
Richard ging ein paar Schritte zurück, in seinem wilden Blick konnte ich keine Furcht erkennen. Einer der drei Gardisten ging auf ihn zu, er überragte ihn mindestens um zwei Köpfe.
»Guten Tag, schönen guten Tag, Herr Wachtmeister, ja, ja. Was kann ich, was kann ich denn für Sie tun? Suchen Sie etwas? Bestimmt, oder? Oder? Was es auch ist, es …«, plötzlich krachte ein Knüppel mitten auf Richards Kopf ein und unterbrach sein Gestammel schlagartig. Er taumelte und fiel hin, seine linke Seite blutete. Schwer angeschlagen, aber dennoch bei Bewusstsein.
»Schnauze!«, bellte der Riese im barschen Ton. Er gab seinen beiden Kollegen ein Zeichen, woraufhin diese Richard wieder auf die Beine zerrten. Er schwankte, es fiel ihm schwer, aufrecht zu bleiben. Die beiden anderen Gardisten stützten ihn, indem sie seine dünnen Arme festhielten.
Der Anführer der Truppe legte seinen Schlagstock unter das Kinn von Richard. Ich konnte sein sadistisches Lächeln deutlich erkennen.
»Ihr bekommt nichts aus mir …«, wieder der Schlagstock. Diesmal von der anderen Seite.
»Stellt schon eure dämlichen Fra…« Der Hüne zertrümmerte Richards Kiefer, Zahnstücke flogen wie wild durch die Gegend, Blutspritzer verteilten sich am Boden und auf die sauberen Uniformen der beiden Gardisten. Der Große beließ es nicht bei den beiden Schlägen, er holte nochmal aus und nochmal und nochmal. Er schlug ihn ins Gesicht, in den Brustkorb, in die Magengegend, brach ihm die Kniescheiben. Nach jedem Schlag zuckte ich zusammen, nach jedem Schlag wurde das Stöhnen von Richard leiser und das Knacken seiner Knochen lauter. Der Anführer schlug ihn ein letztes Mal von oben, woraufhin er leblos wie eine Puppe in sich zusammensackte.
Wieder gab er den beiden ein Zeichen. Sie nahmen Richard hoch und trugen ihn aus der Wohnung. Der Große schaute sich noch einmal um und ging dann auch.
Zurück blieb nur ich. Als die Luft rein war, kam ich aus dem schmutzigen Bad raus und begutachtete den Tatort. Blutstropfen auf dem Holzboden, einige zerbrochene Zähne, mehr blieb von Richard nicht übrig.
Ich zitterte am ganzen Körper, ich konnte nicht glauben, was ich da eigentlich gesehen hatte. Ging so die Briefträger-Garde vor? War das, das Schicksal, was Dissidenten blühte? Mein Gott … Was habe ich all die Jahre nur getan?
Mir wurde schlecht, richtig schlecht. Ich übergab mich, verteilte meine verdauten Essensreste auf dem kalten, dreckigen Boden. Der Kopf drehte sich, genauso wie mein Magen.
All die Jahre, all die Jahre habe ich Leute zu solchen Schicksalen verdammt. Erst Alex … und jetzt Richard. Ich fasste mir an die Stirn und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Was hatte Richard erzählt? Die Rohrpostanlage … das Zentrum. Ich wusste so ungefähr, wo das war.
Okay, ich kannte mein Ziel. Ich musste dorthin. Ich schuldete es allen Seelen, die ich so willentlich verdammt hatte. Es war Zeit, die Sache wieder ins Lot zu bringen.
Mit gestärkter Motivation und eisernem Willen verließ ich das Armenviertel und begab mich zum Aufzug, der direkt in die Rohrpostanlage hinab fuhr. Mittlerweile war der Abendhimmel über Kardia gekommen, die hohen Gebäude wurden in schummriges Licht getaucht.
Am Eingang befand sich ein kleines Wachhäuschen, ein einzelner Gardist saß im Inneren und blätterte gelangweilt in einer Zeitung. Ich klopfte an seine Scheibe und erklärte ihn, während ich gleichzeitig meinen Ausweis vorzeigte, dass ich eine wichtige Lieferung nach unten zu den Jungs bringen musste. Er warf mir einen müden Blick zu, würdigte meinen Papieren keine Sekunde lang irgendeine Form von Aufmerksamkeit, öffnete die Schranke und ließ mich durch. Danach widmete er sich wieder seiner Zeitung.
Das war erstaunlich einfach über die Bühne gelaufen. Ich ging in den Aufzug hinein, drückte einen Knopf und fuhr nach unten. Die Fahrt dauerte einige Zeit. Dünne Lichtstrahlen wanderten über mein Gesicht hinweg, als ich die verschiedenen Etagen passierte.
Unten angekommen, öffneten sich die schweren Metalltüren und ich trat in die Rohrpostanlage ein. Von allen Wundern, die unsere Nation hervorgebracht hatte, war diese Anlage wahrscheinlich eine der größten. Ein gewaltiger Komplex, vielleicht sogar größer als die Postzentrale selbst, kilometerlange Rohre, die sich beinahe durch den gesamten Stadtstaat zogen. Es war das zweite große Projekt unserer Gründerväter gewesen, eine Möglichkeit die gesamte Bevölkerung mit einem Netz aus Stahlrohren zu verbinden, von denen aus Post ganz einfach verschickt werden konnte. Jedes Haus, jede Wohnung, jedes Zimmer sollte an diesem Netzwerk angeschlossen sein. Jeder Bürger sollte frei und ohne Grenzen mit jedem kommunizieren können. Man schrieb einen Brief, steckte ihn in eine Rohrpostbüchse und dann wurde sie losgeschickt. Ein automatisches Verteilersystem hätte die Post dann sortiert und sie zu ihrem Ziel gebracht. Keine Kontrolle, keine Überwachung, keine Brief- oder Paketuntersucher, keine Postbearbeiter.
Aber aus diesem utopischen Projekt wurde leider nichts. Stattdessen formte sich unser System und von der mächtigen Rohrpostanlage blieben nur die Verbindungen innerhalb der Postzentrale und die schier unendlichen Rohre, die in die Dunkelheit führten und einfach aufhörten.
Ich schlich zum Zentrum der Anlage, achtete darauf, dass mich keiner erwischte, was eigentlich nicht notwendig war, denn die meisten Rohrpostmonteure hatten entweder Feierabend oder waren in den weiten Gängen des Komplexes in ihrer Arbeit vertieft.
Das Zentrum, wenn man es denn so nennen konnte, war ein großer Knotenpunkt, wo sich viele Rohre trafen und verzweigten. Komplizierte Mechanismen und Maschinen kümmerten sich um die Verteilung und Steuerung der Rohre, des Weiteren hielten sie den Druck aufrecht. Während meiner Ausbildung auf der Akademie hatten wir einmal eine Exkursion zu dieser Anlage gemacht. Mitten in der Arbeitszeit war hier dann Hochbetrieb, die Rohre summten, es zischte und brummte ständig. Früher gab es Leute, die sich darum gekümmert haben, dass die Rohrpost sicher ankam. Heute übernahmen das Maschinen.
Ich stand vor diesem Wirrwarr aus Zahnrädern, Schrauben, Federn und Getrieben, quasi dem Herz unserer Nation, wenn die Zentrale das Gehirn war. Es war wirklich beeindruckend, eine gewaltige Meisterleistung an Ingenieurfähigkeiten.
»Brief und Siegel, William«, sagte eine Stimme plötzlich hinter mir.
Ich drehte mich erschrocken um. Mein Herz rutschte mir bis zu meinen Füßen hinunter, das Blut verließ mein Gesicht. Vor mir stand Maximilian Moorwell höchstpersönlich, der Oberbefehlshaber der Briefträger-Garde, der älteste Sohn des Siegelträgers Oswald Moorwell. Wenn es je so etwas wie einen Übermenschen gab, dann verkörperte Maximilian dieses Ideal. Er war groß, seine edle Uniform konnte seinen muskulösen, wohl definierten Körper kaum umschließen. Er hatte dichtes, schwarzes Haar, sein Gesicht war das Abbild eines jungen Gottes, makellose Wangen und ein nahezu perfektes Kinn. Er war die Personifikation all unserer Ideale. Stark, zäh, überaus gebildet.
In diesem Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Mein Mund war eine Wüste, meine Zunge schlapp.
»Hat es dir die Sprache verschlagen, William. Hast wohl nicht mit uns gerechnet«, sprach er mit tiefer, sanfter Stimme.
»Ich, ähm, nein, nein, Eure Exzellenz …«, stammelte ich wie ein Idiot.
Er lachte herzhaft. »Eure Exzellenz? Ach, bitte. Ich bin doch nicht mein Vater, also noch nicht. Wir sind hier unter Freunden. Also lassen wir doch die Förmlichkeiten.« Ich sah, dass sich hinter ihm eine Truppe von Gardisten befand, mindestens zehn Stück. Ich erblickte sogar den Hünen von vorhin.
»William, du hast etwas, was uns gehört.« Er zeigte auf meine Hosentasche.
»Ich weiß nicht, wovon …«
»Erspar mir das bitte«, schnitt er mich ab. »Ich weiß von dem Brief. Ich weiß von deiner kleinen Odyssee. Du hast eine Menge Schaden angerichtet. Ist dir das überhaupt bewusst?«
»Ich … Ich, ähm …«
»Weißt du, wie viele Existenzen du zerstört hast?« Er ging auf mich zu. Ich fühlte mich eingeengt, es gab keine Möglichkeit zu fliehen.
»Wir sind dir durch die ganze Stadt gefolgt. Wir waren immer hinter dir.« Er kam näher.
»Dachtest du wirklich, du kommst damit davon? Dachtest du, du könntest irgendetwas erreichen? In dem Moment, wo du deine Entscheidung getroffen hast, hatten wir dich bereits auf dem Radar.« Nun stand er direkt vor mir, überragte mich wie ein Scharfrichter.
»Sag mir, William«, sein Gesicht kam nah an meins, »willst du wirklich unsere Gesellschaft in den Abgrund werfen? Unser System zerstören?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Gedanken rasten in meinem Kopf. Verschiedene Gefühle kämpften um den Vorrang. Doch dann sah ich die Gesichter von Alex, von Richard, ich erinnerte mich an die Namen der vielen Leute, an den Brief und dann platzte es aus mir nur so hinaus: »Ein System, das auf Schandtaten beruht!« Ich hörte die Gardisten hinter ihrem Oberbefehlshaber scharf Luft einziehen.
Maximilian jedoch blieb ruhig. Er baute sich vor mir auf und sprach mit ruhiger Stimme: »Diese angeblichen ›Schandtaten‹ sind der Preis, den wir für unsere heile Welt zahlen. Was glaubst du, warum es kaum noch Verbrechen gibt? Warum die Menschen in Wohlstand und Frieden leben können? Unser System verleiht dieser Stadt Stabilität. Seit zweihundertfünfzig Jahren regieren wir und seit zweihundertfünfzig Jahren herrscht hier Ordnung und Sicherheit. Wir opfern einen Teil unserer Freiheit, damit wir in Ruhe leben können! Begreifst du das denn nicht?«
»Aber … ich habe gesehen, was Ihre Gardisten mit Richard getan haben. Sie haben ihn umgebracht! Diesen alten Mann einfach erschlagen!«
Er seufzte. »Ein alter Mann, sagst du? Er war ein Lügner, ein Verrückter. Völlig geistesgestört. Er lief sorglos durch die Gegend und verbreitete sein teuflisches Gift. Auch dir tröpfelte er es ins Ohr. Er spie ungehindert seinen Wahnsinn aus, das mussten wir unterbinden. Es hätte zu Unruhen geführt, besonders jetzt, wo doch die großen Festlichkeiten bevorstehen …«
»Aber er erzählte mir, dass es noch andere gäbe …«
»Wem? Hast du jemanden gesehen?« Ich schüttelte ungewollt den Kopf.
»Ganz richtig. Weil es niemand Weiteres gibt. Dieser … Richard, wie du ihn nennst, war ein einsamer Wolf, ein irrer Einzelgänger, der sich in seinen Wahn verlief.«
Ich schwieg.
»Darüber hinaus, ich habe dich das schon mal gefragt, möchtest du wirklich das System, deine Nation zerstören? Möchtest du wirklich, zu den schlechten Zeiten vor der Revolution zurückkehren? Zu der Armut? Der Unsicherheit? Der ausufernden Kriminalität? Zu den Hungersnöten? Den ständigen Vergewaltigungen? Den Morden? Zu sexueller Perversion? Möchtest du, das alles zurückhaben?«
»Nein«, sagte ich kleinlaut.
»Liberalismus, Hedonismus, Demokratie und Kapitalismus haben diese Welt geknechtet. Gier und Arroganz haben sie ermordet. Wie der sagenumwobene Phönix sind wir aus der Asche emporgestiegen und haben eine neue, eine bessere Welt erschaffen. Wen stören ein paar Ungereimtheiten, wenn das Gesamtbild doch stimmig ist?«
Mein Kopf war wie leergefegt. Ich war mit der Einstellung gekommen, zu kämpfen, mich zu verteidigen, doch davon … blieb nichts übrig. Die Ausstrahlung des Oberbefehlshabers war einfach zu stark für mich, ich war nicht darauf vorbereitet. Ich war auf nichts von dem allem hier vorbereitet. Ich bemerkte meine Müdigkeit, die Erschöpfung in meinen Knochen. Ich wollte nur noch nach Hause.
Maximilian streckte seine Hand aus. »Gib mir den Brief, wir kümmern uns um den Rest«, sagte er leise.
Widerwillig griff ich in meine Hosentasche und holte den zerknitterten Umschlag hervor und überreichte ihn dem Oberbefehlshaber. Sofort nahm er sich ihn und zerriss ihn in viele kleine Stücke. Danach ging er zum Rand des Zentrums und schmiss sie hinunter, wie kleine weiße Schmetterlinge flogen sie den dunklen, bodenlosen Abgrund entgegen, wo sie bis ans Ende aller Tage niemand finden würde.
Zufrieden schaute Maximilian mich an.
»Was passiert nun mit mir?«, fragte ich völlig eingeschüchtert. Ich stellte mich auf das Schlimmste ein.
Er legte seine Hand auf meine Schulter und sprach in väterlichem Ton: »Mach dir keine Sorgen. Du hast kooperiert. Und kaum einer weiß von deinen kleinen Fehltritten. Ich würde dir aber dazu raten, die letzten Tage einfach zu vergessen und nie wieder darüber zu sprechen. Ansonsten könnte ich mich umentscheiden. Haben wir uns verstanden?«
Ich nickte steif.
»Gut. Schön, dass wir einer Meinung sind. Dann hab noch einen angenehmen Abend. Wir sehen uns bei den Festlichkeiten. Ich werde da sein.« Und mit diesen Worten verließ er mich, seine Truppe folgte ihn, ohne auch nur ein Wort zu sagen.
Ich alleine blieb zurück, erhellt von einigen wenigen Lichtern, umgeben von kalter Maschinerie.
Ich sank auf meine Knie und weinte.

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