Das dunkle Meer tobte, der eisige Wind pfiff der Besatzung des kleinen Schiffes ›Columbus‹ um die Ohren, meterhohe Wellen schlugen gegen die Nussschale, brachten das Deck zum Schwanken. Am kalten Arsch der Welt ließen sich nichteinmal Möwen blicken.
Matthias hing über der Reling und übergab sich. Die ganze Fahrt über war er schon seekrank, er hatte unterschätzt, welche Strapazen solch eine Reise mit sich brachte. Als sie in Rostock den Anker lichteten, hatte er noch großspurig gerufen: »Das wird doch ein Klacks!« Seitdem waren zwei Monate vergangen und er hatte sich mehr übergeben müssen als in seinem gesamten Leben.
Als sie in Kapstadt eine Zwischenstation einlegten, war er schon am Überlegen, ob er einfach dableiben und sich ein neues Leben aufbauen sollte. Doch die Erfüllung der Mission war wichtiger als sein Wohlbefinden. Außerdem war Südafrika wahrscheinlich nicht gerade der beste Ort für einen Europäer. Deshalb hieß es: weiter die Übelkeit ertragen. Sein Großvater, der in jungen Jahren ein begnadeter Seefahrer war und auf einem Zerstörer der Wehrmacht gedient hatte, schaute in diesem Moment bestimmt enttäuscht vom Himmel auf ihn herab.
Doch all die Qualen, all das Kotzen, all die schlaflosen Nächte, all der widerwärtige Konservenfraß hatten sich bezahlt gemacht. Sie waren an ihr Ziel angekommen. Ohne Verluste.
Lukas näherte sich langsam von hinten, ihm schien das Gewackel überhaupt nichts auszumachen. Er konnte auch jede Nacht in seiner Kajüte wie ein Baby schlafen. Matthias beneidete ihn dafür. Im Gegensatz zu ihm war Lukas aber auch ein ausgebildeter Schiffskapitän der bundesdeutschen Marine.
Drei Lagen Winterjacken umgaben seinen Körper. Hier draußen war es so kalt, dass ungeschützte Hautstellen in kürzester Zeit einfach einfrieren konnten. Eine Schneebrille und ein Mundschutz umgaben sein Gesicht. Mit gedämpfter Stimme sagte er: »Beeindruckend, oder? Noch mehr als auf den Bildern!« Der Wind verschluckte die Worte fast.
Matthias schaute hoch. Ja, es war definitiv beeindruckend, so etwas hatte er noch nie in seinem gesamten Leben gesehen, so etwas Vergleichbares gab es nur in den Fantasy-Büchern, die er damals als Kind förmlich verschlungen hatte. Er konnte gar nicht die Spitze sehen.
Vor dem kleinen Kahn erhob sich eine riesige Eismauer in die Lüfte. Paul, der Hobby-Geologe unter ihnen, schätzte, dass die Wand mindestens sechs Kilometer hoch war, kleiner als der Mount Everest aber immer noch ein unglaubliches Unterfangen. Es wird sehr viel Kraft, Schweiß und Tränen kosten, dort oben anzukommen. Aber dafür hatten sie monatelang trainiert. Sie erklommen den Kilimandscharo, das Himalaya-Gebirge, den Mount Everest, zelteten in der Tundra, verbrachten Stunden und Tage in Kühlkammern, wanderten durch Finnland und Norwegen. Sie waren vorbereitet.
»Die Leute dachten, wir seien verrückt. Sie haben uns ausgelacht. Doch wer ist nun der Verrückte? Wer ist jetzt der Wahnsinnige? Der Aluhut? Der Schizophrene? Gott, ich habe so viel Zeit damit verschwendet, in irgendwelchen Kommentarspalten mit Normies darüber zu diskutieren, so viele Stunden, die ich für Experimente gebraucht habe, doch jetzt … jetzt halte ich den endgültigen Beweis in meinen Händen.«
»Wie konnten die so etwas geheimhalten?«, fragte Lukas.
»Laut den streng geheimen Akten der Alphabetorganisationen, die ich in den Tiefen des Netzes finden konnte, handelt es sich bei diesem Gebiet um eine totale Schiffsverkehr- und Flugverbotszone. Eigentlich soll hier nichts eindringen können. Es ist ein Wunder, dass diese Nussschale nicht auf deren Radar erschien. Aber selbst dem Deep State scheint mal ein Fehler zu unterlaufen. Sind ja auch nur Menschen … Hoffe ich zumindest.«
»Ich hab mir jegliche Mühe gegeben, um dieses Baby hier unsichtbar zu machen. Die Funkgeräte wurden rausgerissen, ich habe das Schiff mit einem besonderen Stoff lackiert, war übrigens nicht leicht, das Zeug aus dem Labor auf Rügen zu stehlen, nur mal so zur Info. Wir haben der Küstenwache in Kapstadt ein falsches Ziel genannt und unsere Smartphones ebenso wie den Peilsender in den tosenden Wellen versenkt. Wenn es nach den Alphabetorganisationen geht, liegen wir friedlich schlummernd auf dem Grund des Meeres«, erklärte Lukas.
»Nichts und niemand wird uns jetzt noch aufhalten können.«
Paul gesellte sich zu den beiden hinzu, auch er war dick in Stoff eingemummelt. Er hatte sich noch sicherheitshalber einen Schal umgewickelt. Ihn konnte man tatsächlich kaum verstehen.
»Wann wollen wir denn aufbrechen, Boss?«, fragte er.
»Morgen«, antwortete Matthias. »Wir ruhen uns heute noch aus, schonen unsere Kräfte. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
Am nächsten Tag in aller Früh brachten sie zuerst das Schiff näher an die Eiswand und befestigten es dort sicher, sie wollten ja nicht, dass ihnen die Nussschale davonschwamm. Wie würden sie sonst wieder nach Hause kommen? Die See hatte sich wenigstens etwas beruhigt, wofür Matthias Magen sehr dankbar war. Der Himmel über ihnen war strahlendblau, nicht eine einzige Wolke ließ sich blicken. Es war ein perfekter Tag zum Klettern, trotz des sehr eisigen Windes.
Lukas überprüfte die Rucksäcke nochmal, checkte, ob bei allen die Kletterausrüstung gut saß, bei solchen Unternehmen konnte man nie sicher genug gehen. Die drei schnallten sich dann alles um, sie hatten genug Proviant und Wasser für mehrere Tage, mehrere Gewehre (die Lukas ebenfalls ›geliehen‹ hatte) für den Fall der Fälle, Schlafsäcke, Zelte, Leuchtpistolen, mehrere Schichten warmer Kleidung und Taschenlampen.
»Was glaubst du, werden wir dort finden, Matthias?«, fragte Paul.
»Wer weiß das schon … den Sitz der Illuminaten, eine verlorene Zivilisation, das Königreich Gottes, das Zuhause der Nephilim … ab diesem Punkt ist alles möglich. Allein das meine Theorien sich als korrekt erwiesen haben, ist für mich ein großer Triumph. Die ›Great Ice Ball Earth Theory‹ … nach so vielen Jahren und endlosen Verleumdungen endlich bestätigt zu sehen … Ihr könnt euch überhaupt nicht vorstellen, wie ich mich gerade fühle.«
Kurz bevor sie ihren übermenschlichen Anstieg begannen, wandte sich Matthias nochmal seinen Freunden zu: »Meine Herren, wir werden demnächst Geschichte schreiben, die ersten Menschen, die das Land hinter der Eismauer sehen werden … Wir sind wie Neil Armstrong, als er mit seinem Fuß auf die Mondoberfläche kam …«
»Aber«, wandte Lukas ein, »die Mondlandung war doch nur eine Fälschung durch die US-Regierung, eine PR-Aktion, um der Sowjetunion eins auszuwischen und das große Geheimnis zu bewahren.«
»Ja, stimmt. Ich vergaß … Gut, dann sind wir wie Christoph Columbus, als er Amerika entdeckt hat …«
»Aber waren nicht die Wikinger vor ihm da?«, entgegnete Paul.
Matthias presste seine Lippen zusammen. »Okay, dann sind wir halt wie Leif Eriksson, als er im Jahre 1021 das amerikanische Festland betrat …«
»Und was ist mit den Indianern …«
»Leute! Wir sind große Entdecker! Punkt! Fertig! Niemand hat je vor uns dieses unbekannte Land betreten! Verstanden?«
Die beiden nickten, Matthias seufzte und begann zu klettern.
Der Anstieg erwies sich schwieriger als gedacht, schon nach zweihundert Metern spürte Matthias Schmerzen in seinen Armen, der frostige Wind, der anscheinend bis zu den Knochen kam, half dabei auch nicht, und sie hatten noch mehrere Kilometer vor sich. Das Gewicht ihrer Ausrüstung zerrte an ihnen, machte das ganze Unterfangen noch schwieriger. Die drei hatten zwar Klettern und Wandern geübt und sogar das Tragen der vollgepackten Rucksäcke, doch es machte schon einen Unterschied, ob man einem Pfad entlang lief und eine ›niedrige‹ Steinwand hochkletterte, wo das Ende abzusehen war oder ob man sechs Kilometer beinahe ununterbrochen klettern musste und jedes Mal Gefahr lief, beim kleinsten Fehler in den sicheren Tod zu stürzen.
Vielleicht hatte Matthias dieses Unternehmen doch unterschätzt, doch umkehren konnte er nicht mehr, wie würde er sonst aussehen? Er hatte keine Kosten und Mühen gescheut, hatte alles hinter sich gelassen, nur um Geschichte zu schreiben. Genauso gut hätte er auch weiter in seiner Designerwohnung in Berlin-Kreuzberg leben können, mit seinem fetten Gehalt und seiner lukrativen IT-Firma, doch dieses Dasein erfüllte ihn nicht, die moderne Welt mit ihren Billig-Cappuccinos, schnellen Autos und bedeutungslosen Blockbuster-Filmen gab ihm keinen Sinn. Er war umgeben von Flachköpfen mit flachen Träumen und flachen Ambitionen, eine flache Welt … sie alle verschlossen ihre Augen vor der Wahrheit.
Sechshundert Meter – doch dann lüftete er den Nebelschleier und erkannte, zum ersten Mal in seinem Leben begann er zu erkennen. Er schluckte die bittere Pille und stieg in den Kaninchenbau hinab. Er recherchierte und recherchierte, las Unmengen von Büchern, Blog-Artikeln und Geheimdokumenten, die irgendein mutiger Whistleblower ins Netz hochgeladen hatte. Bald verbrachte er mehr Zeit in seinem Studierzimmer als in der Welt draußen, die ihm sowieso nicht bieten konnte.
Eintausend Meter – sie machten sich Sorgen um ihn. Schauten ihn mit großen, verwunderten Augen an, boten ihre mitleidige Hilfe an. Diese besorgten Hundewelpengesichter. Sie hielten ihn für verrückt, geisteskrank, gestört, wahnsinnig, schizophren und all die anderen medizinischen Fachbegriffe, die genutzt wurden, um Dissidenten zu diskreditieren. Doch das hielt ihn nicht davon ab, weiterzumachen. Er hatte all die Puzzleteile in der Hand, er musste sie nur noch zusammensetzen. Doch ihm war auch bewusst, welcher Gefahr er sich dabei aussetzte. Jeden Abend sah er die schwarzen Autos, die vor seiner Wohnung parkten. Er bekam die ominösen Anrufe, wo nur Atmen zu hören war. Eines Tages kam ein Mann in einem schwarzen Anzug auf ihm zu, wahrscheinlich einer dieser ›Men in Black‹, und sagte ihm: »Hören Sie auf, sonst wird es Ihnen noch leidtun.« Er ließ sich davon nicht abbringen, doch der Besucher jagte ihn Angst ein. Dieses Gesicht aus Wachs, diese leblosen Glasaugen, völlig haarlos … Matthias hätte schwören können, dass dieser ›Agent‹ nicht einmal geblinzelt hatte. Zu welcher Three-Letter-Organisation er wohl gehörte? Wurde er von den Deutschen, den Amerikanern oder jemand anderes geschickt? Matthias hatte nie eine Antwort darauf bekommen.
Eintausenddreihundert Meter – der Pfad, den er wählte, kostete ihm zwar seine Ehe, er würde wahrscheinlich seine Kinder nie wieder sehen, doch das war es ihm wert. Wie hieß es doch gleich? Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne. Alle großen Männer mussten Opfer bringen. Seine Frau stand ihm eh nur im Weg. Immer diese endlosen Diskussionen und Streitereien. Er wusste auch, dass sie ihn betrogen hatte. Eines der drei Kinder war nicht von ihm, das ließ er im Labor untersuchen. Also war die Ehe sowieso für die Katz. Sie verstand ihn einfach nicht, sie konnte die Wahrheit nicht erkennen, sie war zu unfähig dafür. Lieber konsumierte sie weiter Popkultur, statt ihren Horizont zu erweitern. Sie blieb ein kleines, flackerndes Licht in einem Meer aus Dunkelheit. Er hingegen war ein Flutlicht.
Eintausendfünfhundert Meter – »Können wir … Können wir kurz eine Pause einlegen?«, rief Paul von unten, der Wind trug seine Worte nach oben. Die drei waren über Seile miteinander verbunden und gesichert.
»Ein Stückchen noch, ein Stückchen noch. Wir sind nicht mal bei der Hälfte. Wenn wir jetzt eine Pause einlegen, kommen wir nie vor Einbruch der Nacht an!«, antwortete Matthias.
Lukas pflichtete ihm bei. »Ich muss ihm leider recht geben, wir können jetzt nicht schlapp machen.«
Zweitausend Meter – »Leute, Leute, ich brauch … brauch wirklich eine Pause.«
»Noch ein bisschen weiter, Paul. Wir haben es bald geschafft!«
Zweitausendzweihundert Meter – »Mir schmerzen die Arme und Beine, das glaubt ihr gar nicht, ich halte das kaum noch aus. Können wir nicht einen kurzen Zwischenstopp einlegen?«
»Nein! Noch nicht!«
Zweitausenddreihundert Meter – »Wenn ihr nicht auf mich hört, dann werde ich einfach aufhören zu klettern! Dann könnt ihr zusehen, wie ihr weiterkommt!«
Zweitausendfünfhundert Meter – »Leute … bitte …«
Zweitausendsechshundert Meter – »Okay«, gab Matthias nach. »Machen wir eine kurze Pause.« Die Wahrheit war, dass auch seine Arme und Beine schmerzten. Und noch lag solch ein langer Weg vor ihnen. Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte erreicht. Er schaute nach unten – das sollte man niemals tun. Das Boot war nur noch ein kleiner, weißer Fleck auf einem dunkelblauen Teppich. An ihm hingen Lukas und Paul wie nasse Säcke, ihre Kletterhaken waren in die eisige Mauer gerammt. Über ihnen war nichts als ein grauer Himmel. Für einen kurzen Moment überlegte Matthias, ob die ganze Aktion es wirklich wert war. Er hatte eigentlich keine Lust am Rande der bekannten Welt zu sterben. Doch eine Umkehr war nicht mehr möglich, es gab nur noch einen Weg: vorwärts, beziehungsweise weiter nach oben.
Dreitausend Meter – endlich hatten sie die Hälfte erreicht. Langsam kam die Zuversicht wieder zurück.
Dreitausendzweihundert Meter – die Zuversicht verließ ihn wieder.
Dreitausendfünfhundert Meter – »Wenn wir oben sind, will ich ein verdammtes Bier haben!«, rief Lukas.
»Wir haben kein Bier eingepackt!«
»Scheiße …«
Dreitausendsiebenhundert Meter – »Ich schwöre Matthias, ich trete dir in die Eier, wenn wir oben sind, darauf kannst du Gift nehmen!«, fluchte Paul. »Als du uns damals auf den Mt. Everest raufgeschleppt hast, dachte ich schon, das wäre hart, aber das … das hier toppt das noch um Längen!«
»Spar dir deinen Atem für den Aufstieg«, brüllte Matthias nur zurück.
Viertausend Meter – »Können wir noch eine Pause machen, bitte?«
»Nein!«
Viertausenddreihundert Meter – »Können wir bitte …«
»Ich schwöre Paul, wenn du weiter so machst, dann löse ich die Seile und du kannst deine Pause auf dem Grund des Meeres machen!«
»Vergiss mich nicht, bitte«, entgegnete Lukas. »Ich häng hier auch mit drin.«
»Ja … ich vergaß. Entschuldigung. Klettern wir einfach weiter …«
Viertausendsechshundert Meter – »Wie lange klettern wir eigentlich schon?«
»Ich hab keine Ahnung, ich hab jegliches Gefühl für Zeit verloren.«
Viertausendachthundert Meter – »Ich muss mal pissen …«
»Das hättest du dir vorher überlegen sollen.«
»Aber es drinnen zu lassen, ist schlecht für die Blase …«
»Dann piss dir in die Scheißhose!«
Fünftausendeinhundert Meter – »Ich hoffe, das ist es auch wert und wir finden irgendwas Cooles.«
»Zum Beispiel?«
»Weiß nicht, aber es wäre enttäuschend, wenn da wirklich nur eine Eiswüste und nichts weiter wäre … Das ist so, als würdest du Atlantis finden und es ist nur eine unbewohnte Insel im Meer.«
»Atlantis ist untergegangen.«
»Ja, aber du weißt, was ich meine.« Kurze Stille, nur unterbrochen vom stetigen Brechen des Eises durch die Kletterhaken. »Besseres Beispiel: Stell dir vor, du findest die Bundeslade und da drin sind nicht die Steintafeln mit den Zehn Geboten, sondern … keine Ahnung, mit Baggersteine.«
»Baggersteine?«
»Ja, Baggersteine. Stinknormale Baggersteine, die du bei jeder Baustelle findest. Ohne Gebote drauf, ohne … Heiligkeit.«
»Ich glaube, ich verstehe, worauf du hinaus möchtest.«
»Wenn wir oben sind, werde ich vom Rand der Mauer pissen«, mischte sich Paul ein.
Fünftausendsiebenhundert Meter – »Wir haben es fast geschafft, nur noch ein Stückchen … Ich kann den Rand schon sehen!«
Fünftausendneunhundert Meter – es war zum Greifen nah, die Erfüllung ihrer Träume. Matthias konnte den Sieg schon schmecken, er würde in die Geschichtsbücher eingehen, auf derselben Stufe stehen wie Christoph Kolumbus, Leif Eriksson, Amerigo Vespucci, James Cook und Marco Polo. Er war kein irrer Schizophrener, er hatte ihnen alle das Gegenteil bewiesen. Am Ende behielt er Recht. Zu gern würde er nun das Gesicht seiner betrügerischen Ex-Frau sehen. Schlussendlich würde er triumphieren.
Seine Hand erreichte den Rand der Eismauer, mit aller Kraft zog er sich hoch, dicht gefolgt von Lukas und Paul, die erst einmal keuchend am Boden lagen. Vor ihnen befand sich eine endlose Eiswüste.
Das Erste, was Paul machte, war, sich wie versprochen an den Rand zu stellen und zu urinieren.
»Ich kann es nicht fassen, ich pisse auf die Welt hinab, so müssen sich Zeus oder Odin gefühlt haben.«
»Pass nur auf, dass du nicht wie Ikarus hinunterstürzt«, mahnte Matthias.
»Gott, ich frier mir hier gleich die Hoden ab! Scheiße, ist das kalt.«
»Gut«, begann Lukas. »Und nun? Was machen wir jetzt?«
»Ich erkläre es dir: Wir marschieren fürs Erste geradeaus. Vielleicht stoßen wir ja auf etwas.«
»Vielleicht? Das klingt nicht sehr vielversprechend …«
»Hab Vertrauen … Paul, du machst währenddessen Fotos. Wir wollen das alles hier dokumentieren, ansonsten glaubt uns wieder niemand.«
»Alles klar, Boss!« Er holte die teure Kamera aus dem Rucksack, die Matthias gekauft hatte. War wirklich nicht billig das Teil, ein Preis im vierstelligen Bereich, aber er konnte es sich leisten. Wenn es eins gab, woran es ihn nicht mangelte, dann war das Geld.
»Also dann Freunde, vorwärts!«
Erstaunlicherweise war es auf der nahezu flachen Ebene windstill, das änderte aber nichts an der bitteren Kälte, die sich selbst durch drei Lagen von Kleidung fraß, wie Matthias bemerkte. Als er zum ersten Mal von der ›Great Ice Ball Earth Theory‹ hörte, war er skeptisch gewesen. Die Erde soll nur ein kleiner See auf einem gigantischen Eisplaneten sein? Das hörte sich anfangs schwachsinnig, völlig realitätsfern an. Es gab doch schließlich unzählige Satellitenbilder und die vielen Fluggesellschaften, das könnte doch niemand verheimlichen. Eine Verschwörung solchen Ausmaßes … Doch je mehr er recherchierte, desto eher überzeugte es ihn. Er begann Verbindungen zu anderen nonkonformen Theorien zu sehen. Die Mondlandung war eine Fälschung, organisiert von der US-Regierung, gedreht von Stanley Kubrick, ansonsten hätten die Astronauten die Wahrheit gesehen. Der Mond existierte wahrscheinlich nicht ein Mal, sondern war nur ein Hologramm. Die Spacestation war eine Lüge, die Menschheit hatte nie die Erde verlassen und den Weltraum betreten, die Sterne waren aufgrund der Gravitation des Superplaneten ein unerreichbarer Wunsch. Die vielen Weltraumerforschungsorganisationen dienten nur zu zwei Zwecken: Steuergelder zu verschwenden und das Geheimnis des Eisplaneten zu bewahren. Kontrolliert von den Illuminaten, die seit 1789 über die Menschheit herrschten und eine Mischrasse aus Menschen und, was auch immer in oder unter dieser Eiswüste lebte, waren. Alles ergab Sinn, man musste die Puzzlestücke nur zusammenfügen.
Seine monate- und jahrelange Arbeit trug nun endlich Früchte. Er hatte zwar seine Kinder schon lange nicht mehr gesehen, aber das war das Opfer, was er bringen musste. Hier stand er nun, inmitten einer endlosen Eiswüste, die nicht sein durfte, doch es trotzdem war. Wenn er nach Hause zurückkehrte, wäre er nicht mehr nur Matthias, der Chef eines relativ erfolgreichen IT-Unternehmens, sondern Matthias der Entdecker, Matthias der Eroberer, der im selben Atemzug mit anderen großen Männern genannt werden würde.
Es war nicht schwer, seine beiden Begleiter für die Expedition zu gewinnen. Lukas, seines Zeichens Monarchist, war von Natur aus misstrauisch gegenüber dem Mainstream und den Herrschenden. Er träumte von der Wiedereinsetzung der Hohenzoller, von der Restaurierung des Kaiserthrons, von einer Rückkehr zu einer besseren Zeit. Er besaß Verbindungen zur Reichsbürgerszene und hatte regelmäßige Treffen mit selbsternannten ›Königen‹, nebenbei hortete er Waffen und Proviant für den bevorstehenden ›Tag X‹, alles unter den müden Augen von unmotivierten Vorgesetzten, die einer Armee dienten, die unfähig war, sich selbst zu verteidigen.
Paul hingegen war nicht allzu sehr politisch motiviert, doch auch er wurde oft als ›Verschwörungstheoretiker‹ bezeichnet. Wenn er nicht gerade in einem geologischen Institut arbeitete und sich mit der Erdkruste beschäftigte, hielt er sich in 4chan-Foren auf, wo er den ganzen Tag über wilde Theorien über die ›Hohlerde‹ und Echsenmenschen verbreitete und den Holocaust leugnete, nicht weil er unbedingt selbst davon überzeugt war, von dem, was er sagte, sondern weil es ihm Spaß bereitete, Chaos zu stiften und sogenannte ›Normies‹ zu ärgern. Seine Motivation für die Expedition war pures Adrenalin. Und neuen Stoff für Greentext.
Was die drei Männer miteinander verband, war, dass sie Außenseiter der Gesellschaft waren, Parias, Ausgestoßene, getrieben von einem faustischen Geist, sie strebten nach Wissen, Entdeckung und Erlebnissen, nach Abenteuern. Sie wollten ihre Namen in die großen Geschichtsbüchern eintragen. Wobei die Motivation bei Paul weniger klar und ambitioniert war.
Die drei wanderten schon einige Zeit, vielleicht schon ein paar Stunden, ohne nennenswerte Dinge zu entdecken, als Lukas plötzlich rief: »Hey, ich seh da was!«
»Gott sei Dank«, seufzte Paul. »Ich war fast schon davon überzeugt, dass es hier absolut gar nichts gibt. Ich hab nicht einmal eine Robbe oder einen Eisbären gesehen. Nur Schnee und Eis. Auf Dauer wird das ziemlich langweilig.«
Bald schon näherten sie sich dem merkwürdigen Objekt, das sie bei genauerer Betrachtung verblüffte und erstaunte.
»Das gibt es doch wohl nicht …«, flüsterte Matthias.
Vor ihnen stand eine Messerschmitt Bf 109, ein Flugzeug der deutschen Luftwaffe aus der Zeit des Dritten Reiches. An der Zugehörigkeit gab es keine Zweifel, am Seitenruder prangte ein, wenn auch ein leicht verwittertes, schwarzes Hakenkreuz. Diese menschengemachte Maschine wirkte an diesem unmenschlichen Ort fehl am Platze, wie ein fertig gemaltes Objekt auf einer leeren Leinwand.
»Was macht denn eine Messerschmitt hier?«, fragte Paul.
Matthias ging zum Flugzeug, schaute durch die Windschutzscheibe, seine Augen weiteten sich.
»Da liegt was drin!«, rief er. »Lukas, gib mir mal die … die Axt.« Er streckte die Hand nach hinten aus, sein Freund holte das besagte schwere Werkzeug aus dem Rucksack und überreichte es.
Matthias holte weit aus und schlug dann mit der stumpfen Seite auf die Scheibe ein, die nach wenigen Hieben zersplitterte. Er wischte die scharfkantigen Glasscheiben beiseite und griff in die Kabine. Abgestandene Luft, der Geruch von alten Leder und Benzin schlug ihm entgegen. Er holte ein kleines braunes Buch heraus, auf dem Einband stand kein Titel. Es war leicht zugefroren, nur mit Mühe bekam er die Seiten auseinander. Er blätterte darin, doch seine Frustration wuchs zunehmend.
»Das kann ja kein Schwein lesen! Ein Haufen Gekritzel.«
»Gib mir das mal!« Lukas riss ihm das Buch aus der Hand. »Natürlich kannst du das nicht lesen, das ist Sütterlin. Gut, dass ich hier bin, hat sich das Geschichtsstudium doch bezahlt gemacht. Mal schauen … Das ist definitiv ein Tagebuch. Ist ein wenig schwer zu entziffern. Der Zahn der Zeit hat ordentlich daran genagt … und der werte Herr hatte eine ziemliche Sauklaue. Aber hier ist eine interessante Stelle.«
Lukas las laut vor:
- Januar 1939
Nach einem über einen ganzen Monat eingesperrt auf der ›Schwabenland‹, hatten wir endlich unser Ziel erreicht, oder so dachten wir zumindest. Die Freude war getrübt, als wir vor dieser Mauer, die nur Gott allein hätte errichten können, standen. Kapitän Ritscher war zuerst überzeugt davon, dass wir uns verfahren hätten. Er überprüfte nochmal die Karten, die Koordinaten, die Instrumente, die Messwerte, doch alles stimmte. Wir waren am Ziel angekommen, aber das hier war nicht Antarktika … es war so viel besser, so viel größer. Unser Expeditionsteam fand so viel mehr nur als nur Walöl und Robbenfett, wir fanden das sagenumwobene Hyberborea, das uralte Land erfüllt von der kosmischen Energie Vril, nicht im Norden, sondern im Süden. Wer hätte das gedacht?
Hier mussten wir auch lernen, dass wir jahrzehntelang einen Irrtum aufgesessen waren. Die germanische Rasse ist nicht arisch. Die Arier – die wahren Arier – leben hier …
Lukas schaute in die verblüfften Gesichter der beiden anderen. Matthias Ausdruck wandelte sich dann von Verblüffung zu Frustration und Wut.
»Soll das etwa heißen, wir sind nicht die Ersten, die dieses Land entdeckt haben? Die verdammten Nazis waren vor uns hier? So eine Scheiße!« Er wandte sich ab und hob dabei die Arme. »Und da dachte ich, ich hätte wenigstens einmal in meinem Leben etwas erreicht …«
Lukas schaute sich das Buch nochmal an. »Wisst ihr, was das bedeutet, Jungs?«
»Was denn?«, fragte Paul.
»Das hier ist Neuschwabenland, das Gebiet, was die Nationalsozialisten im Zuge ihrer Antarktisexpedition erobert haben. Angeblich haben sie hier tausende von Hakenkreuzflaggen verstreut, um das Land zu markieren. Und nach dem Krieg sollen einige hohe Tiere hierher geflohen sein, darunter der Führer höchstpersönlich. Danach hätte die NATO versucht, das Gebiet zurückzuerobern, sogar mit Nuklearwaffen. Aber bisher waren sie immer gescheitert.«
»Interessant … was aber noch viel interessanter ist, ist diese Stelle mit den ›wahren Ariern‹. Was damit wohl gemeint war? Sollen das die Bewohner dieses … doch sehr trostlosen Ortes sein?«
»Gute Frage, vielleicht finden wir das noch heraus.« Lukas schaute zu Matthias. »Jetzt beruhige dich doch wieder! Komm, lass uns weitergehen.« Er steckte das Tagebuch in seinen Rucksack.
Matthias kriegte sich tatsächlich wieder ein und kehrte zur Gruppe zurück.
»Gut, vielleicht finden wir ja diese ›Arier‹.«
Und so machten sie sich weiter auf den Weg, ließen das verlassene Flugzeug, dieses Relikt aus einer längst vergangenen Zeit, zurück. Matthias grübelte vor sich hin, er fühlte sich noch immer frustriert, irgendwie hintergangen und verraten. Er war davon ausgegangen, dass er und seine Freunde die ersten ›Normalsterblichen‹ waren, die diesen Ort betreten haben. Nun musste er erfahren, dass die Nazis ihn um fünfundachtzig Jahre geschlagen hatten. Es hinterließ irgendwie einen bitteren Beigeschmack in seinem Mund.
Einige Stunden später, die Gruppe fühlte sich schon sehr erschöpft, ihre Muskeln brannten und schrien, das Gewicht ihrer Rucksäcke begann an ihnen zu zerren, erschien etwas am Horizont. Sie hielten es erst für eine Halluzination, eine Fata Morgana in der Eiswüste (war so etwas überhaupt möglich?), doch je näher sie kamen, desto konkreter wurde das Objekt. Es schien sich dabei um einen gigantischen Turm zu handeln, dessen Spitze nicht zu erkennen war.
»Wisst ihr, woran mich das gerade erinnert?«, fragte Paul.
»An was denn?«
»An ›Die Berge des Wahnsinns‹ von H. P. Lovecraft. Als sie diese Stadt in der Antarktis gefunden haben. Das ist jetzt zwar keine Stadt, aber eine natürliche Formation ist das auch nicht. Vielleicht sehen wir ja ein paar Shoggothen.« Paul kicherte nervös.
»Wenn ich richtig erinnere«, erzählte Lukas, »endet die Geschichte nicht wirklich auf einer positiven Note, nicht wahr?«
»Typisch Lovecraft halt. Endet in der Regel im Tod oder im Wahnsinn.«
»Na, dann hoffen wir mal, dass unsere Reise ein besseres Ende findet«, flüsterte Matthias.
»Da kommen mir ein paar Theorien in den Sinn.«
»Hau raus, Paul.«
»Im Netz wird manchmal behauptet, dass Lovecraft ein Prophet war, also das sein Kram, den er geschrieben hat, echt sein soll. Er war wie so ein … so ein … wie erkläre ich das? Was ist das Wort? … Sprachrohr? Ein Medium? So was in der Art halt, ein Sprachrohr der alten Götter. Diese füllten seinen Kopf mit all diesen Visionen und Prophezeiungen, weshalb er auch verrückt wurde. Cthulhu? Echt, liegt tief unten im südlichen Pazifik, schläft in der Stadt R’lyeh, was quasi Atlantis sein soll. Azatoth? Echt. Durch seine Träume existieren wir überhaupt. Nyarlathotep? Genauso echt, ist unsere Inspiration für den Teufel. Mit ihm hat Faust damals den Pakt geschlossen. Shub-Niggurath? Ist jede Fruchtbarkeitsgöttin, die euch einfällt. Yog-Sothoth? Auch echt. Er ist der Schlüssel und das Tor. Alles echt. Selbst das Necronomicon hat er sich nicht ausgedacht. Im Gegenteil, er hat es gelesen, er kannte es auswendig. Er stand in Verbindung zu diesen kosmischen Wesen. Und vielleicht hat er dann auch diesen Ort hier gesehen.«
»Das klingt schwachsinnig«, entgegnete Lukas.
»Ach, komm schon.«
Matthias sagte nichts zu der Diskussion, er war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Sie standen nun direkt vor dem Turm, ein riesiger Zylinder, der aus massivem Eis bestand und sich quasi endlos in den Himmel schraubte. Der Umfang war größer als jeder Wolkenkratzer, den die Gruppe kannte. Vorne befand sich ein gewaltiges Tor, dort eingraviert war ein Hakenkreuz mit abgerundeten Balken.
»Richtig merkwürdig«, kommentierte Lukas. »Haben die Nationalsozialisten das gebaut? Ist das der legendäre Militärstützpunkt?«
»Ich bezweifle, dass irgendein Mensch das gebaut hat«, antwortete Matthias.
Der Hobby-Geologe hingegen warf ein: »Könnten auch Nephilim gewesen sein … oder Riesen. Für solch ein Bauwerk brauch man schon eine ordentliche Körpergröße.«
Paul machte ein paar Fotos von dem Turm. Er ging näher heran, er wollte das Symbol auf der Tür genauer ablichten, als das Tor sich plötzlich öffnete. Gleißendes Licht überströmte die Drei, die sofort ihre Augen schlossen, um nicht geblendet zu werden. Die erste Assoziation von Matthias war, dass es sich um ein beinahe himmlisches Licht handeln müsste. Was sonst könnte so hell strahlen? Möglicherweise war es ja gar kein Turm, sondern ein Aufzug direkt in das Paradies …
Aus dem Licht trat plötzlich eine riesige Kreatur, die die Gruppe um mehrere Köpfe überragte. Als Matthias die Augen wieder öffnete, stockte ihm der Atem. Vielleicht hatte Lovecraft doch recht gehabt. Sie ähnelte den blassen Albino-Pinguinen, die die verlorene Stadt bevölkerten, nur mit dem Unterschied, dass das Wesen, was vor ihnen stand, weitaus schlanker war, fast schon abgemagert. Die schneeweiße Haut wirkte ledrig, faltig. Sie schien nur locker über das Skelett zu hängen. Die pupillenlosen Augen und der scharfe Schnabel waren so pechschwarz wie die finsterste Dezembernacht. Die ›Hände‹ endeten in zwei langen, krallenbewehrten Fingern und einem verkümmerten Daumen. Das Wesen war wie eine Chimäre aus Pinguin und federlosen Geier. Bemerkenswerterweise trug es eine karmesinrote Robe, am Kragen prangte zweimal das Symbol, das auch an der Tür zu sehen war, kleine goldene Anstecker.
Die Kreatur verbeugte sich tief und zeigte mit seiner grässlichen Hand zum Eingang. Anscheinend bat es die Fremdlinge hinein.
Diese jedoch waren sich nicht sicher, hatten sie doch mit vielen gerechnet, nur nicht mit das. Ein mulmiges Gefühl überkam sie. Doch was sollten sie jetzt tun? Eine Umkehr war nicht möglich, wer wusste schon, zu was dieses Monster fähig war, sollten sie die ›Gastfreundschaft‹ ablehnen. Außerdem … wollten sie doch Helden sein und Helden rannten nicht feige davon.
Matthias schaute zu Lukas und Paul, schaute in ihre verhüllten Gesichter, in ihre Augen. Nach einem kurzen Moment nickten sie. Die drei Männer gingen hinein und die Tür schloss sich hinter ihnen.
Am Ende der Welt fanden sie die Wahrheit, sie fanden mehr, als sie schlucken konnten.