Ar(t)son

Der Regen prasselte auf meinen schwarzen Schirm, hinter mir brummte und dröhnte der elendige Stadtverkehr. Es wurde gehupt, Reifen quietschten, ab und an ertönte der wütende Schrei eines kurzangebundenen Angestellten aus der mittleren Einkommensklasse, der jetzt unbedingt nach Hause musste, weil er sonst seine Lieblingssendung verpasste oder das gekochte Abendbrot der frustrierten Ehefrau kalt wurde oder das billige Fastfood auf den hinteren Sitzen. Zumindest stellte ich mir das so vor, wissen konnte ich es ja nicht.
Ich hatte es bildlich vor Augen. Ein viel zu kleiner Kopf auf einem viel zu massigen Körper, eines dieser halslosen Geschöpfe, die des Öfteren die niedrigen Ebenen von mittelgroßen Unternehmen bevölkerten. Die Stirn war so hoch, dass man ein Frachtflugzeug dort hätte landen können. Das Gesicht rot angeschwollen wie eine gen-manipulierte Tomate. Kleine Orkaugen hinter dicken Gläsern, der Mund zu einer Fratze des Zorns entstellt wie ein Dämon, direkt aus Dantes ›Göttlicher Komödie‹ entsprungen. Noch ein paar Pulsschläge mehr und ein Gefäß im Gehirn würde platzen, der Fahrer fiele auf sein Lenkrad und das Hupen würde gar nicht mehr aufhören.
Ich stand vor einem großen, stattlichen Gebäude im spätklassizistischen Stil, es ähnelte eher einer prunkvollen Villa oder einem Regierungsgebäude, doch in seinem früheren Leben war es schlichtweg ein Bahnhof, aus der Zeit in der die Industrialisierung erst richtig ins Rollen kam und der Bedarf an Zwischenstationen für das neuentstehende Eisenbahnnetzwerk wuchs. Heutzutage befand sich darin ein Museum, trotzdem hieß es weiterhin ›Freiensteiner Bahnhof‹, obwohl Freienstein ein paar Dutzend Kilometer entfernt lag.
Der Bahnhof wurde jedoch kurz nach Kaiserreichsgründung stillgelegt und das Gebäude in ein Verkehrs- und Technikmuseum umgewandelt. Nach der Novemberrevolution wurde es genutzt, um berühmte brandenburgisch-preußische Ingenieure auszustellen, darunter auch ein paar jüdische. Die Nationalsozialisten konnten damit nichts anfangen, also stellten sie Statuen von halbnackten, muskulösen Männern und Gemälden des Führers rein, nachdem sie die ganzen Ausstellungsobjekte auf dem Platz vor dem Museum auf einem Haufen gepackt und verbrannt hatten, nur um dann festzustellen, dass doch nicht alles von Juden gemacht wurde. Die Sowjets konnten damit nichts anfangen, also sprengten sie das Museum und schafften die Gesteinsbrocken und Stahlreste zur Weiterverarbeitung ins Mutterland.
Das Grundstück blieb die gesamte Lebenszeit der DDR über leer, das Politbüro konnte sich nicht einig darüber werden, ob man denn nun ein weiteres antifaschistisches Denkmal oder ein Arbeiterdenkmal oder ein Neubau oder einen Truppenübungsplatz hinpflanzt, also entschieden die hohen Genossen, nichts zu tun. Es gab schließlich wichtigere Angelegenheiten, wie zum Beispiel den Bau eines Raumtrenners aus Beton und Stacheldraht.
Erst nach der Wende kaufte ein westdeutscher Investor, der auf den Namen Friedrich Siegfried Wilhelm von Rhein-Sieg-Kreis-Siegburg hörte, das Gelände, baute den ›Freiensteiner Bahnhof‹ wieder auf und stellte dort seine Kunstsammlung zur Schau. Die Einweihung erlebte der Herr von Rhein-Sieg-Kreis-Siegburg leider nicht mehr, auf dem Weg zur Zeremonie wurde er auf offener Straße niedergeschossen. Der Mordfall konnte nie ganz aufgeklärt werden. Die Polizei vermutete dahinter entweder die damals neugegründete, aus der ehemaligen SED hervorgegangenen ›Neuen Sozialistischen Partei Ostdeutschlands‹ oder die ›Sozialnationalistische Deutsche Arbeiterpartei‹. Vielleicht war es auch eine Querfrontaktion, die beiden Parteien fusionierten nach dem Vorfall und verschwanden danach unter der Fünfprozent-Hürde. Heutzutage wurde die Partei nur noch durch dubiose Gelder aus den Kassen des Inlandgeheimdienstes am Leben gehalten.
Nach dem Attentat gab es noch einen Brandanschlag, wodurch die Sammlung vollkommen zerstört wurde. Seitdem war das Museum ein Zuhause für, um es mit den Worten der momentanen Betreiber zu sagen ›zeitgenössische, internationale, multikulturelle Kunst, die das diverse Spektrum moderner Kunstschaffender darstellen soll‹.
Eigentlich wollte ich auch heute gar nicht das Haus verlassen, doch in meinem Heim fand ich nur eine schweigende Muse. Meine Kunstblockade hielt mich weiter eisern im Griff. Und was half besser bei einer Blockade, als sich inspirieren zu lassen? Eine gute Freundin von mir empfahl das Museum, sie schwärmte besonders über die ›postkoloniale‹ Ausstellung, die von jungen ›pakistanisch-syrischen Künstler:innen aus Nord-Ost-Kenia‹ organisiert wurde und einen Schwerpunkt auf die Darstellung der Schrecken und Grausamkeiten des dortigen Bürgerkriegs, der seit sechzig Jahren andauerte, legte.
Ich klappte meinen Regenschirm zusammen, versuchte, die Tropfen ein wenig abzuschütteln, und ging dann in das große Museum hinein. Zuerst betrat ich eine gigantische weiße Halle, der Empfangstresen, wo vier Damen unterschiedlicher Altersklassen (von jung bis alt) saßen, wirkte nahezu winzig und irgendwie fehl am Platze, wie ein Souvenirshop vor einer Kirche. Zu meiner linken Seite befand sich dann auch der Souvenirshop, in dem ich kurz stöberte, aber nichts fand, was mich wirklich begeisterte. Abgesehen von allerhand billigen Plastikzeug gab es Unmengen von pseudo-philosophischen, post-postmodernen, neo-linksliberalen Büchern, die, trotz ihres rebellischen Image und revolutionären Gehabe, völlig dem Zeitgeist entsprachen und wie am Fließband von großen Verlagen ausgespuckt wurden (Hier eine kleine Auswahl: ›Wie man mit Weißen spricht‹, ›Warum ich nicht mehr mit Weißen spreche‹, ›Zehn Gründe, warum Weiße von der Redefreiheit ausgeschlossen werden sollten‹, ›Surviving White Supremacy – Ein Handbuch für BIPoC zum Überleben im weißen, rassistischen Umfeld‹, ›White Lives Don`t Matter‹, ›UltraFem – ein Ratgeber für den Kampf gegen das Patriarchat‹ und ›Sexy Pol Pot – Warum Frauen im kommunistischen Kambodscha besseren Sex hatten‹). Eins hatten diese Werke der neumodernen Literatur gemeinsam: Sie hatten nichts, aber auch gar nichts mit Kunst zu tun. Aber vielleicht war das Absicht, vielleicht war das eine Art Meta-Kommentar.
Ich ging schließlich zu der Ticketverkäuferin und kaufte mir ein Ticket sowohl für das Museum als auch für die Sonderausstellung. Die junge Dame teilte mir dann mit, dass Karten für die Ausstellung leider nicht mehr erhältlich waren. Sie musste spontan abgebrochen werden, da sich herausstellte, dass Nord-Ost-Kenia gar kein echtes Land war.
Nun gut, ich kaufte ein Ticket für fünfundzwanzig Euro und ging die Treppe zum ersten Ausstellungsobjekt runter, der Eingang wurde dabei von zwei Sicherheitsleuten flankiert. Links stand ein dunkelhäutiger Mann mit Rastalocken, rechts ein grauhaariger Rentner. Beiden lächelte ich freundlich zu, keiner von beiden erwiderte es.
Beim ersten Objekt handelte es sich um eine große, schwarze Box, mindestens zwanzig Meter hoch, aus der brummende Geräusche kamen. Ich war mir nicht sicher, was es genau darstellen sollte, es erinnerte mich an den dunklen Monolith aus ›2001 – Space Odyssey‹ oder an etwas aus Lovecrafts verdrehter Mythologie. Ich ging einmal um die Installation herum und wurde einfach nicht schlau daraus. Es war eine riesige Box, die Geräusche von sich gab. Aber vielleicht übersah ich ja etwas.
Daneben stand ein Pärchen – er trug eine weiße Bluse, eine schwarze, enganliegende Hose und eine Brille mit kreisrunden Gläsern, seine lockigen Haare sahen ungepflegt aus, zwischen Nase und obere Lippe befand sich ein Pornobalken; sie hingegen trug eine weite Schlaghose und ein zu kurz geratenes, wahrscheinlich in der Wäsche eingegangenes, Hemd, worauf das Logo irgendeiner unbekannten Metal-Band zu sehen war, ihr Gesicht bestand aus mehr Metall als die Kasse vorne am Tresen. Beide standen in gewisser Entfernung zum Objekt und nickten so, als hätten sie die Geheimnisse des Universums entschlüsselt.
»Magnifique«, sagte der Lockenkopf in billiger Imitation des Französischen.
»Wahrlich ihr größtes Meisterwerk«, entgegnete seine gepiercte Freundin.
»Fürwahr, ich dachte schon ihr vorheriges Kunstwerk ›White Box with quiet Sounds‹ wäre ihr Höhepunkt gewesen, doch das! Das übertrifft alles.«
»Ich bin schon gespannt, was sie uns als Nächstes präsentieren wird. Aber ich glaube ›Black Box with humming Sounds‹ wird für lange Zeit unübertroffen bleiben.«
Ich schüttelte den Kopf und ging in den nächsten Raum, vielleicht fand ich ja dort etwas, was ich zumindest in Ansätzen begreifen konnte. Doch das nächste Areal machte die Sache auch nicht besser. Es handelte sich wieder um eine Installation, diesmal waren Lautsprecher an der Decke montiert, die in unregelmäßigen Abständen Störgeräusche von sich gaben. Wieder standen Leute in den Raum herum und staunten, es handelte sich sowohl um Touristen als auch um ein ähnliches Klientel wie das Pärchen, das nickend vor dem schwarzen Kasten gestanden hatte. Vielleicht war ich zu dumm dafür, denn ich begriff nicht, was das sollte. Aber allen gefiel es.
Ich sah eine Gruppe von Asiaten, ein typischer Anblick in der Nähe von irgendwelchen Tourismusattraktionen und anderen ›Points of Interest‹, mit großen Apparaturen, die umher schwärmte, wild Fotos schoss und laut zwitscherte. Jede Kleinigkeit musste abgelichtet werden. Wahrscheinlich handelte es sich um mittelständische Chinesen aus der kommunistischen Republik, die das Geld dazu hatten, den Westen zu besuchen. Anscheinend gab es solche Kunst nicht in der Heimat. Wobei ich mal gelesen habe, dass es bei diesen Urlaubsreisen nicht darum geht, die Ästhetik und Kultur fremder Länder zu betrachten, sondern darum, so viele Fotos wie möglich zu machen, um dann Zuhause damit angeben zu können.
Irgendwann war ich von dem ganzen Lärm nur genervt und ging zum nächsten Raum, musste aber zuvor durch einen langen Gang, wo an den Wänden Graffiti angesprüht wurde. Und nicht einmal gutes, es waren bloß nicht erkennbare Namen, die mit billigen Spraydosen gesprüht worden sind, als wären die Künstler gelangweilte Jugendliche gewesen, die den örtlichen Supermarkt verunstalten wollten. Wem mache ich hier etwas vor, es waren sicherlich gelangweilte Jugendliche, wahrscheinlich irgendein Sozialisierungsprojekt von einem überambitionierten Schulbetreuer. Wir hatten auch so einen an der Schule, weißer Rauschebart, Großvaterbrille, trug immer Sandalen, egal zu welcher Jahreszeit und sprach ständig in einer flüsternden Stimme. Mir fiel nebenbei auch auf, dass dieses Museum nur eine Aneinanderreihung von großen Räumen und schmalen Gängen war. Wie einfallslos.
Die nächste Halle war mit mehreren Objekten gefüllt. Ich sah zerfetzte Schallplatten, die jemand an Schnüren aufgehängt hatte. Eine Videokamera, die einen Porzellanhund in einem Glaskäfig filmte, was dann auf einen alten Röhrenfernseher übertragen wurde. In schwarzen Vitrinen lagen ausgebreitet Fotobänder mit in schwarz-weiß abgelichteten erigierten Penissen und geschwollenen Vaginas. Schwarze und Weiße trieben es in allen möglichen Posen miteinander. Manche Bilder zeigten Narben und offene Wunden oder Spermaflecken, die an Holzwänden klebten. Es gab keinen Kontext, keinen zusammenhängenden Sinn, die Bilder waren einfach nur da.
Der Höhepunkt dieses grausigen Spektakels, welches sich frevelhaft ›Kunst‹ nannte, war eine komplette Wand voll mit kleinen, bunten Bildern, die alles Mögliche darstellten: John Lennon, Marylin Monroe, Harry Truman, Mao Zedong, ein Glas eingelegter Essiggurken. Alle im selben Stil. Der chinesische Kommunistenführer war sogar in riesengroßer Ausführung links nochmal abgebildet, daneben eine Dose Oliven, gleich groß. Nichts weiter als purer Nihilismus. Diese Kunst sagte nichts aus, nichts sagte hier irgendetwas. Nichts hatte Bedeutung. Keins dieser ›Kunstwerke‹ hatte irgendeine Form von Seele. Und alle gafften und schauten und staunten.
Eine junge Frau mit blauen Haaren, wahrscheinlich eine unterbezahlte Mitarbeiterin des Museums, die Kunstgeschichte studiert hatte, kam vorbei, im Schlepptau hatte sie eine Schulklasse, die meisten von den Schülern türkischstämmig, die Ignoranz, Langeweile und Desinteresse in reinster Form ausströmte. Ich konnte es den Jugendlichen ehrlich gesagt nicht verübeln. Die Frau stellte sich neben den Vitrinen und hielt einen Vortrag.
»Kommen wir nun zu etwas wirklich Spannenden, das habt ihr so wahrscheinlich noch nicht gesehen. Hier seht ihr die gesammelten Werke von Robert Klaus Stemmelheim, einen deutsch-österreichischen Künstler, der für seine provokanten Auftritte bekannt war. Während der sechziger Jahre gründete er eine Künstlergruppe namens ›Radikalakt‹, ihre erste Performance bestand darin, die Fahne der Bundesrepublik auszurollen, sich zu erleichtern und alles darauf zu schmieren. Und damit meine ich wirklich alles: Fäkalien, Sperma, Urin, Erbrochenes, all die widerlichen Körperflüssigkeiten. Die Fahne wurde dann selbstverständlich aufgehangen und ausgestellt. Ein starkes Statement gegen den Ultranationalismus der Bundesrepublik und eine Absage an jeglichen Patriotismus. Ein zweiter Stunt war das Sezieren eines lebenden Schweines in den Hallen der Universität Pritzwalk. Mit dem Blut des Tieres wurden dann die Wände bestrichen. Stemmelheim soll sich sogar die Gedärme um den Hals gehangen haben. Stellt euch das mal vor.« Sie kicherte, die Klasse schaute lustlos drein. »Wie dem auch sei, die Gruppe wurde von den psychoanalytischen Forschungen Siegmund Freuds inspiriert, die sie mit den philosophischen Lehren von Karl Marx kombinierten Sie gingen davon aus, dass eine Enthemmung der inneren Urinstinkte zu einer Revolution führen würde, an deren Ende dann die klassenlose, kommunistische Utopie stehen würde. Die Gruppe löste sich später auf, sie zerbrach an der Frage, ob sie nun auf der Seite von Israel oder von Palästina stehen sollte. Stemmelheim zog sich später in seine Villa im bayerischen Allgäu zurück, wo er sich vollends seinen Fotografien und der Verstümmelung seines Körpers, oder wie er es sagte: ›seines größten Kunstwerkes‹, zuwandte. 1984 starb er dann an Blutverlust, verursacht durch das Abtrennen seines Gliedes. Gehen wir nun weiter …«
Ich hatte genug, mir war übel, ich konnte nicht mehr zuhören. Ich konnte mir diesen Schwachsinn nicht mehr anhören. Was hier getan wurde, war keine ›Kunst‹, es war eine Vergewaltigung. Es war Totschlag! Es war Mord! Es war ein Genozid an der Ästhetik, und ich hatte nicht einmal die Hälfte des Museums gesehen! Nietzsche sagte eins, dass Gott tot sei und wir ihn umgebracht hätten. Es wurde immer als ein Bekenntnis zum Atheismus gedeutet, doch im Gegenteil, es war ein trauriger Ausruf, ein Schmerzensschrei! Seitdem ging alles den Bach hinunter. Mit Gott starb auch langsam die Kunst und übrig blieb der verkümmerte Schmutz, den sie hier ausstellten. Schund! Müll! Bedeutungslosigkeit! Ohne jeglichen Sinn für Schönheit und Ästhetik! Alles, was je mit dem Namen ›Kunst‹ assoziiert wurde, wurde hier mit Füßen getreten!
Ich ging hinaus, hinaus in den Regen, schockiert und angeekelt, schaute nicht zurück, doch in meinem Kopf begann sich schon bald ein Plan zu formen, wie ich der Sache ein Ende bereiten könnte.
Am nächsten Tag kehrte ich zurück. Es war ein leichtes für mich, an dem Sicherheitsdienst vorbeizukommen, die werten Herren von gestern waren zu sehr damit beschäftigt, auf ihre Smartphones zu glotzen und dem ›Infinite Scrolling‹ ihre Aufmerksamkeit zu opfern.
Schwer beladen ging ich zum Ausstellungsraum, wo sie diesen Schrott, den sie als ›Kunst‹ verkauften, ausstellten. Ich riss die aufgehängten, zerfetzten Schallplatten ab, brach die Vitrinen auf und schmiss die ekelhaften Fotobände raus, zertrümmerte den Glaskäfig und schleuderte den billigen Porzellanhund, dem man in jeden Ramschladen kaufen konnte, auf den Boden, wo er in Dutzende Teile zerbrach, dasselbe tat ich mit der Kamera und dem Schrottfernseher. Ebenso riss ich diese dummen, bunten, nichtssagenden Bilder von der Wand. Alles warf ich auf einen großen Haufen, dann holte ich meine Geheimzutat aus dem Rucksack heraus: zwei Kanister voll Benzin. Ich verteilte die beißend-stinkende Flüssigkeit auf dem Müll, es sollte sich schön vollsaugen. Währenddessen versammelte sich bereits eine Menge um mich herum, die neugierig glotzte.
»Seht her! Seht her! Seht her, ihr Affen! Seht her, was ich mit eurem Affront gegen die Kunst tue!«, schrie ich. Meine Stimme überschlug sich fast.
Ich holte ein Streichholz hervor, zündete es an und schmiss es auf den durchnässten Haufen. Sofort kam es zu einer Reaktion, eine Flamme schoss hoch, verzehrte den Plunder, den Müll, den Schrott, diese Gotteslästerung. Ich schaute in das Feuer, das orange Licht verwandelte mein Gesicht wahrscheinlich in eine Fratze des Wahnsinns.
Die Menge begann zu klatschen, sie jubelte. Entgeistert drehte ich mich um.
»Was für eine Performance!«, rief einer.
»Ich wusste gar nicht, dass für heute so eine Show angesagt war.«
»Was der Künstler uns wohl damit sagen möchte? Wahrscheinlich handelt es sich um ein Kommentar zu den postkolonialen Bewegungen im Nahen Osten, die gegen die weiße Vorherrschaft des Westens kämpfen.«
»Nein, er will uns zeigen, dass unsere Kunst zu weiß ist, zu kolonialistisch und die einzige Möglichkeit, daran etwas zu ändern, ist es, unsere Kunst zu vernichten!«
»Ich persönlich halte es für eine Allegorie auf die Bücherverbrennung der Nationalsozialisten und die Zerstörung sogenannter ›entarteter Kunst‹.«
»Vielleicht ist es auch ein mutiges Statement gegen ›Cancel Culture‹.«
»Das heißt nicht ›Cancel Culture‹ sondern ›Consequence Culture‹, abgesehen davon, dass es so etwas überhaupt nicht gibt.«
Ich konnte es nicht fassen, diese geistlose Masse hielt mein Tun für einen Akt, für eine Performance, als würde ich zu denen gehören!
Immer mehr Leute kamen, tuschelten, diskutierten, analysierten, sprachen intensiv über meine angeblichen Vordenker und verglichen meine Tat mit ähnlichen Ereignissen. Irgendeiner sprach von einem Meteorologen, der sich wegen des Klimawandels vor den Treppen des Klimaministeriums verbrannte. Eine Frau mit Regenbogenhaaren erinnerte sich an einen transsexuellen Iraner, der sich während einer Bundestagssitzung anzündete. Ein anderer zog den Vergleich zu der Achtundsechziger-Bewegung, wo junge Feministinnen ihre BHs auszogen und als Protest verbrannten.
Traurig schaute zu dem brennenden Haufen. Es hatte keinen Sinn mehr. Jetzt blieb mir nur noch eine Sache zu tun. Ich nahm den zweiten Kanister und schüttete mir den Inhalt über den Kopf. In solch einer nihilistischen Welt, umgeben von Letzten Menschen, wollte ich nicht leben. Das Streichholz flammte auf und ich ließ es in die Pfütze unter mir fallen.
Die Menge jubelte und tobte, sie war kaum noch zu halten.
»Was für ein Höhepunkt!«, rief eine junge Frau begeistert.
Unter tosenden Applaus verzehrten die Flammen den sterblichen Körper und zurück blieben meine Gedanken als Asche.

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