Der endlose Krieg

Der endlose Krieg (Bild: Roland R. Maxwell)

Unter dem glutroten Himmel brannte das Gewehrfeuer, schwarzer Rauch stieg aus den aschebedeckten Schlachtfeldern empor. Gewaltige Geschütztürme ratterten unermüdlich, fleißige Hände fütterten sie stetig mit neuer, frischer Munition, die alten Hülsen bedeckten den Boden. Die Hitze in den Maschinenräumen war kaum auszuhalten. Der Lärm zerriss einem die Trommelfelle. Ratter-ratter-ratter-ratter, sollte dieses Geräusch verstummen, würde das den Tod bedeuten.
In den Gräben kämpften unzählige Männer gegen die unerbittliche Flut von Feinden. Jeder gefallene Soldat wurde in der Regel sofort durch einen neuen ersetzt. Unter dem einprasselnden Feuer versuchten die Leichengräber ihre getöteten Kameraden fortzuschaffen. Sie packten die zerstückelten, verbrannten, zerstörten, verätzten, verstümmelten Körperteile auf ihre Wagen und brachten sie zurück zum Komplex, der wie ein Fels in der Brandung hinter ihnen stand. Es war eine Sisyphusarbeit. Kaum hatten sie eine Ladung weggebracht, wuchsen die Berge erneut. Ständig liefen sie Gefahr, von Bombeneinschlägen getötet zu werden. Doch ihre Aufgabe war von besonderer Bedeutung, schließlich durfte nichts verschwendet werden. Die Uniform eines toten Soldaten passte noch einem lebenden.
In der ersten Reihe der Gräben standen Männer mit Flammenwerfern, die wie ein vielmäuliger Drache Feuer ausspuckten. War die Hitze in den Geschütztürmen bereits beinahe unerträglich, erreichte sie hier unmenschliche Ausmaße, stark genug um Sand in Glas zu verwandeln, stark genug um jedes Metall zu schmelzen.
In der zweiten Reihe saßen Soldaten mit Gewehren, die mit spitzen Bajonetten bestückt waren. Sobald den Flammenwerfern die Puste ausging, war es ihre Zeit, voranzustürmen. Dann rückte die vordere Reihe nach hinten und sie sprinteten nach vorn, sich der Welle entgegenschmeißend. Sie hatten genau fünf Sekunden, um zu reagieren, ansonsten würden sie überrannt werden.
Heinrich fiel das Atmen durch die Gasmaske schwer, seine Lungenflügel hoben und senkten sich, versuchten so viel Luft wie möglich einzusaugen. Er hoffte, dass sich keine Panikattacke anbahnte. Seine zitternden Hände umklammerten das Gewehr so fest, dass das Weiße an den Knöcheln hervortrat. In Gedanken ging er nochmal sein Training durch, zählte seine Munition. Für einen Einzelnen war es nicht viel, doch die Masse war das entscheidende. Sein individuelles Leben war nichts wert im Angesicht des Kollektivs. Es war wie in einem höllischen Orchester, dirigiert vom Teufel höchstpersönlich, sein Gewehr war die Violine und wem interessierte schon ein einzelnes, kleines Instrument?
Heinrich holte sein selbstgeschnitztes Kreuz hervor, ein Relikt aus besseren Zeiten und betete leise und in schneller Abfolge zu dem, der ihn erhören mochte. In einem anderen Leben, als er noch in der Geborgenheit des Komplexes lebte, was in seinen Augen bereits mehrere Zeitalter her war, brachte ihn seine Mutter ein paar Gebete bei, Überbleibsel einer vergessenen Religion, die die Weitergabe von Generation zu Generation wie durch ein Wunder überlebt hatten. Er sah nach links, dort saß Thomas. Sie waren beide in derselben Ausbildungseinheit gewesen, eine dreimonatige Tortur, um sie auf den Krieg vorzubereiten, damals in einem anderen Leben. Im Nachhinein betrachtet, war es das Paradies auf Erden.
Sein Nachbar zitterte wie Espenlaub am gesamten Körper. Durch die beige Gasmaske konnte Heinrich nicht das Gesicht seines Freundes erkennen, doch er konnte sich ungefähr vorstellen, wie es in diesem Moment aussah. Starr. Bleich. Zu einer Maske des Grauens verzerrt. Mehr Ähnlichkeiten mit einer der vielen Leichen, die sich hier tummelten, als mit einem lebenden Menschen.
Ein hochgewachsener Offizier im langen, grauen Mantel schritt die Reihen entlang. Er blieb direkt vor Heinrich und Thomas stehen und hob seine rechte Hand, in der er einen Gegenstand hielt, zum Mundloch seiner Maske. Den beiden Soldaten sank das kalte Herz bis in die Gedärme hinunter.
Der Offizier blies hinein und sofort ertönte ein schrilles Geräusch, der Anpfiff zum Sturm. Hunderte Male hatten sie es geübt, die Bewegung war regelrecht in sie hineingeprügelt worden. Heinrich drehte sich um, das Gewehr in der einen Hand, mit der anderen umklammerte er den Rand des Grabens. In seinem Augenwinkel konnte er sehen, dass sich sein rechter Nachbar nicht erhob, sondern zu einer Kugel zusammengerollt am Boden lag. Der Offizier zögerte nicht, er zog seinen Revolver und schoss. Das Signal war mehr als nur deutlich: Der einzige Weg führte nach vorn.
Heinrich schaute nach links, Thomas war ebenfalls kampfbereit. Ein Stein fiel ihm regelrecht vom Herzen.
Nun musste alles schnell gehen, fünf Sekunden, nicht mehr. Heinrich atmete so tief wie möglich ein. Und dann ging es los. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Innerhalb dieser Zeitspanne hatten die Flammenwerfer und die Infanterie Plätze getauscht. Alles lief wie in einem Uhrwerk. Zwanzigtausend Mann stürmten voran. Begleitet wurden sie dabei von ihrer eigenen Artillerie als auch von der des Feindes, wobei man im Eifer des Gefechtes selten den Unterschied bemerkte. Heinrich sah, wie die Einschläge seine Kameraden zerfetzten. Er war nicht imstande, zu sagen, von welcher Seite sie kamen. Es spielte in diesem Moment auch keine Rolle. Er versuchte einfach so gut wie möglich, die qualvollen Schreie der Sterbenden auszublenden.
Alles lief wie in Zeitlupe ab. In seinem Gewehr befanden sich genau zehn Schuss, vierzig Patronen waren als Reserve in seiner Tasche. Die Frage war nur, ob er sie brauchen würde. Er zielte, wichtig war, dabei nicht allzu sehr nachzudenken, und schoss. Treffer, einer der Feinde ging zu Boden. Das Spiel wiederholte sich. Zielen. Schießen. Treffen. Die Ausbilder brachten den Kadetten bei, wie man den Feind mit möglichst einen genauen Schuss ausschalten konnte. Sollte jemand zwei oder mehr Schüsse benötigen, hatte er bereits sein Todesurteil unterzeichnet. Und wenn die Munition verschossen war, kamen Schaufel, Bajonett und Messer zum Einsatz. Der Kampf endete erst mit dem Tod des Soldaten oder mit dem Abschwächen der feindlichen Angriffe.
Heinrich lud nach. Nur noch dreißig Patronen als Reserve übrig. Thomas ging zu Boden, einer der feindlichen Fußsoldaten hatte sein Bein gepackt und zermalmte es. Weitere folgten und zerrissen ihn in Stücke. Im Getöse der Schlacht ging sein bemitleidenswertes Kreischen völlig unter.
Wie gebannt schaute sich Heinrich das Geschehen an. Als er seinen Fehler bemerkte, war es schon zu spät. Einen Moment nicht aufgepasst, schon sah man nicht die einschlagenden Geschosse. Der junge Soldat wurde in die Luft geschleudert, sein linkes Bein und seine beiden Arme lösten sich von seinem Körper. Wenige Augenblicke später schlug er auf dem harten Boden auf. Das Furchtbarste war, dass es ihn nicht getötet hatte.
Er drehte seinen Kopf nach rechts, die Augenfenster seiner Gasmaske waren zerbrochen. Die Feindeshorden rückten immer näher. Er sah ihre schwarzen Krallen, ihre geifernden Kieferklauen. Am Horizont standen Ungeheuer in Reih und Glied, aus ihren Rücken ragten gewaltige Kanonenrohre, bei jedem Schuss bebte die Erde. Er schaute nach oben, riesige fliegende Schatten hoben sich vom roten Himmel ab, warfen ihre tödlichen Ladungen auf die Erde hinab. Er hörte das Dröhnen und Brummen ihrer Flügel. Zuletzt schaute er nach links und Hoffnung baute sich in ihm auf.
Die dritte Welle, bestehend aus Panzern und Mechs, rückte näher. Sie schafften es, die übriggebliebenden Soldaten zu retten und die angreifenden Horden zu dezimieren.
Heinrich lächelte. Er spürte das Gewicht des hölzernen Kreuzes auf seiner Brust liegen.
»Gar nicht so schlecht für den ersten Tag«, flüsterte er.
Die Schlacht war für heute gewonnen.

Freihängende, verstaubte Glühbirnen, die schon bessere Tage gesehen hatten, illuminierten schwach die grauen Betonwände des Komplexes. Die schnellen Schritte von Markus hallten durch den gesamten Gang. Es konnte doch nicht sein, dass er gleich am ersten Tag seiner soldatischen Ausbildung verschlafen hatte. Dabei war er sich so sicher gewesen, den Wecker richtig eingestellt zu haben. Aber entgegen allen Erwartungen klingelte er heute Morgen einfach nicht, nun war er spät dran und rannte mit einem Affenzahn durch die Gänge. Es half auch nicht, dass fast alles im Komplex ungefähr gleich aussah.
Ausbilder Antonius wird ihn sicher den Kopf abreißen und seinen Hals als Latrine missbrauchen. Der alte Mann rümpfte sowieso bereits die Nase über das ›Frischfleisch‹. Seiner Ansicht nach waren die jüngeren Generationen einfach nicht mehr aus demselben Holz wie die früheren geschnitzt. Laut ihm seien alle Kadetten ›faule Kadaver‹, die nicht einmal ›als Kanonenfutter taugen würden‹.
Vor einer Woche war Markus vierzehn Jahre alt geworden und somit ins reife Mannesalter eingetreten. Nun standen ihm drei Karrierewege im Komplex offen: Arbeiter, Bauer oder Soldat. Und da er den bäuerlichen Weg von seinem Vater, der täglich von sechs Uhr morgens bis zwanzig Uhr abends auf den Pilzfeldern schuftete und den proletarischen von Erzählungen seiner Altersgenossen, deren Väter entweder in dunklen Minen oder heißen Fabriken arbeiteten, kannte, entschied er sich für den militärischen Pfad und folgte dabei den Schritten seines vier Jahre älteren Bruders. Und wie durch ein Wunder waren noch Kapazitäten in den Rekrutierungsschulen offen. Anscheinend hatte die letzte Schlacht doch mehr Verluste gefordert, als berechnet wurde.
Die Menschheit, oder zumindest was davon noch übriggeblieben war, befand sich seit … nun, niemand konnte sich mehr daran erinnern, wann der Krieg eigentlich begonnen hatte. Dafür ging er einfach schon zu lange.
Gekämpft wurde gegen eine Rasse von monströsen Insekten, über die selbst nach so langer Zeit nicht viel bekannt war. Weder ihre Motive (außer eventuell die Vernichtung der Menschheit) noch woher sie kamen oder was sie eigentlich genau waren. Es war nicht bekannt, ob es sich um eine einzelne Spezies oder um einen Zusammenschluss verschiedener Rassen oder um einen Superorganismus ähnlich einer Portugiesischen Galeere handelte. Fest stand nur: Der Feind war hochspezialisiert und auf einem ähnlichen Organisationslevel wie der Mensch, wenn nicht gar noch höher. Er besaß Infanterie, Panzer, eine Luftwaffe, chemische Waffen, Kavallerie, Arbeiter und eigene Stützpunkte. Jede Aufgabe wurde dabei von einem anderen Organismus übernommen.
Seit ungefähr achtzig Jahren befand sich dieser Komplex in einem Stellungskrieg gegen den Feind, keine der beiden Parteien schaffte es, irgendwelche nennenswerten Landgewinne zu erzielen. Alle paar Wochen oder Monate kam es zum Schlagabtausch – die Insekten griffen an, die Menschen verteidigten, die jeweilige Seite zog sich dann mit blutender Nase zurück und leckte ihre Wunden. Manchmal waren die Angriffe heftiger, manchmal schwächer. Manchmal gingen die Verluste in die zehntausende, andere Male gingen nur ein paar Geschütztürme zu Bruch. Keiner schaffte es, den Gegner zu vernichten.
Beim angesprochenen ›Komplex‹ handelte es sich um eine gewaltige Festung aus Stahlbeton, die sich im Herzen des alten Kontinents Europa befand. Angeblich soll es überall auf der Welt verteilt solche Festungen gegeben haben, doch laut dem Generalstab waren die Funkkanäle seit Jahrzehnten stumm. Es wurde das Schlimmste befürchtet.
Von oben betrachtet sah der Komplex wie ein überdimensionierter, rechteckiger Bunker aus. Das meiste Leben spielte sich unterirdisch ab. Dort gab es Fabriken, Farmen, Werkhallen, Minen, Ausbildungsstätten, Gemeinschaftssäle, Kantinen und Quartiere. Die Population dieses Komplexes bestand ungefähr aus vierzig Millionen Menschen, es waren alle Altersklassen vertreten und die Geschlechter waren fünfzig zu fünfzig aufgeteilt.
Um den Komplex herum befanden sich neun Kreise von Schützengräben, die vor Urzeiten angelegt worden waren. Der Radius vom Komplex zum letzten Schützengraben betrug fünf Kilometer, multiplizieren wir diese Zahl mit zwei und mit Pi, kommt nach Adam Riese eine Fläche von circa zweiunddreißig Quadratkilometern heraus. Das war das Territorium, über das die Menschheit herrschte.
Markus stand nun vor der Ausbildungsstätte Nummer vierunddreißig. Er öffnete die Tür und betrat einen großen, grauen Raum, gefüllt mit Bänken und Stühlen aus kaltem Stahl, angeordnet wie in einem Vorlesungssaal. Ungefähr sechshundertein Augen richteten sich auf ihn. Er sah bleiche, kahlgeschorene Köpfe, alle trugen die grauen Kadettenuniformen. Markus hatte seine Gott sei Dank nicht vergessen.
Am unteren Ende des Zimmers stand eine hohe Figur in einem weiten Mantel, unzählige Orden zierten die stolze Brust, auf dem weißen Schädel saß eine mit Gold verzierte Pickelhaube. Es handelte sich um seinen erbarmungslosen Ausbilder, Hauptmann Antonius, Veteran unzähliger Schlachten. Zeugnis dafür war die Narbe, die quer über sein Gesicht ging. Eine Augenklappe verdeckte die rechte Seite. Trotz seines hohen Alters von fünfundvierzig Jahren war er noch immer eine respektable, furchteinflößende und aufrecht stehende Gestalt. Ein gepflegter grauer Vollbart verdeckte die Hälfte seines Gesichts und damit auch seine vor Zorn zusammengepressten Lippen. Er holte seine Taschenuhr hervor.
»Kadett Markus!«, rief er mit erboster Stimme, die über den gesamten Raum hallte. Sofort drehten sich alle Köpfe erschrocken zu ihm. »Wie ich sehe, sind Sie zehn Minuten zu spät! Lassen Sie sich gesagt sein, ich dulde keine Unpünktlichkeit während der Ausbildung! Unpünktlichkeit führt zu Unverlässlichkeit und Unverlässlichkeit führt unweigerlich zum Tod! Haben Sie das begriffen?«
»Ja, es tut mir leid …«, nuschelte Markus.
»Nehmen Sie die Watte aus dem Mund und sprechen Sie vernünftig!«
»Ja, es tut mir leid!«
»Ich habe Sie immer noch nicht richtig verstanden«, Antonius hielt seine Hand an sein Ohr.
»Ja, es tut mir leid…«, rief Markus lauter.
»Anscheinend sind Sie etwas begriffsstutzig. Hat Ihre Mutter Sie einmal zu oft vom Wickeltisch fallen gelassen? Das letzte Wort eines jeden Satzes, der aus ihrem ungewaschenen Knabenmaul kommt, hat gefälligst mit ›Herr Hauptmann‹ zu enden! Haben Sie das jetzt verstanden?«
Markus verbeugte sich mehrmals. »Ja, das habe ich, Herr Hauptmann. Es tut mir aufrichtig leid, Herr Hauptmann.«
Zufrieden schaute Antonius den zitternden Kadetten an. »Gut. Und jetzt pflanzen Sie Ihren nutzlosen Arsch auf einen der freien Plätze. Nach dem Unterricht kommen Sie zu mir.«
»Verstanden, Herr Hauptmann. Das mache ich, Herr Hauptmann.« Er setzte sich auf dem Stuhl neben ihn. Papier und Stift lagen schon bereit.
Antonius wandte sich wieder seiner Tafel zu. Markus las den Schriftzug, der in großen Lettern darüber angebracht war: ›Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?‹, der Leitspruch dieser speziellen Ausbildungsstätte. Angesichts des endlosen Krieges und der ständigen Gefahr der kompletten Auslöschung waren Geburtstitel oder ›blaues Blut‹ nichts wert. Nur durch harte Arbeit konnten Erfolge erzielt, Ränge erklommen und das Überleben gesichert werden.
Soldaten, Arbeiter und Bauern bildeten das Rückgrat der Gesellschaft, nicht Edelmänner, Adlige und andere reiche Faulpelze. Es spielte keine Rolle, aus welcher Familie man stammt. Ob der Vater nun Infanteriesoldat, Schweinezüchter oder Fabrikant war, der Krieg machte alle gleich. Der Schlamm der Schützgräben und der anrückende Feind werden auch die letzten sozialen Unterschiede aus den Köpfen der Kadetten fegen. Und erst wenn sie durch die Hölle gehen, werden sie ihren gesellschaftlichen Wert erhalten.
Oder um es mit den Worten von Hauptmann Antonius zu sagen: »Hier seid Ihr alle gleich wertlos!« Der alte Veteran mochte streng wirken, und in der Tat, das war er auch, doch er war ebenso ein gerechter Mann, der den Leitspruch ernst nahm. Für ihn waren die Herkunft und das Aussehen seiner Kadetten irrelevant, es zählten nur ihre Taten.
»Wie ich bereits sagte, bevor ich so rüde unterbrochen wurde«, der alte Ausbilder setzte seinen Unterricht fort, dabei warf er einen wütenden Seitenblick auf Markus, »eine der wichtigsten Grundlagen des Krieges ist es, zu wissen, wer der Feind und zu was er in der Lage ist. Und unser gemeinsamer Feind kommt in vielen verschiedenen Formen.«
Antonius nahm sich ein Stück Kreide und begann etwas an der Tafel zu zeichnen.
»Beginnen wir mit dem niedrigsten Rang in der Armee des Gegners, den einfachen Fußsoldaten. Die Eierköpfe nennen sie ›Formicidae bellum‹, also Kriegsameise. Ich persönlich bevorzuge den Begriff ›Beinknacker‹, ich erkläre Ihnen gleich warum. Die Fußsoldaten mögen nur ungefähr hüfthoch sein, aber lassen Sie sich davon nicht täuschen! Sie sind zäh, schnell und kommen in Massen. Sie sind die zahlenmäßig stärkste Einheit, die Sie auf dem Schlachtfeld sehen werden. Einen Moment nicht aufgepasst, schon werden Sie von ihnen überflutet. Und jetzt erkläre ich den Spitznamen, die Größe der Ameisen ist perfekt, um Ihnen Ihre schwächlichen Beine abzutrennen. Die Mandibeln, das sind Mundwerkzeuge, für die Ungebildeten unter Ihnen, sind stark genug, um Metall aufzubrechen. Sie können sich vorstellen, was diese mit Ihren Knochen anstellen.«
Er zeichnete einen Punkt direkt in der Mitte des Kopfes der Ameise ein.
»Dem Schöpfer sei Dank, dass er diese Mistviecher mit einer Schwachstelle ausgestattet hat. Ein gezielter Schuss vermag die Ganglien zu zerstören und das Insekt kampfunfähig zu machen. Voraussetzung ist, dass Sie treffen. Aber keine Sorge, ich werde Ihnen schon einprügeln, wie man zielt und trifft. Darauf können Sie Gift nehmen. Des Weiteren scheinen die Biester allergisch auf Feuer und auf unsere Artillerie zu reagieren. Aber verlassen Sie sich nicht darauf!«
Er ging einen Schritt nach rechts und zeichnete das nächste Ungeheuer.
»Gehen wir die Karriereleiter eine Stufe nach oben. Bei diesem netten Herrn handelt es sich um die Kavallerie des Gegners: den Laufkäfer. Wesentlich schneller als die normalen Fußsoldaten und doppelt bis dreimal so groß. Für gewöhnlich halten sie sich an den Seiten der Angriffsarmee auf und greifen unsere Flanken stoßweise an. Wenn solch ein Biest auf Sie zu gerannt kommt, dann beten Sie. Es wird Sie in nur wenigen Sekunden zerfleischen. Aber die Geschwindigkeit dieser Monstrosität ist auch ihr größter Nachteil. Sie können nur geradeaus sprinten und müssen nach einiger Zeit anhalten, um sich neu zu orientieren. Das können Sie zu Ihrem Vorteil nutzen, also wenn Sie schnell genug sind. Schaffen Sie es, unter diese Viecher zu gelangen, sollten Sie in der Lage sein, entweder Sprengsätze anzubringen oder den verwundbaren Unterbauch aufzuschlitzen. Nutzen Sie dazu entweder Ihre Schaufel, Ihre Messer oder Ihr Bajonett. Von mir aus können Sie auch versuchen, das Teil mit Ihren bloßen Händen aufzureißen. Sollte das nicht möglich sein, haben Sie vielleicht Glück und einer der Jungs von den schweren Geschützen schafft es, das Teil wegzusprengen. Aber wie ich schon einmal gesagt habe, verlassen Sie sich nicht darauf!«
Wieder ein Schritt nach rechts, wieder eine anatomisch korrekte Zeichnung.
»Kommen wir zu einem wirklich üblen Kerl, dem Bombardierkäfer oder auch das ›wandelnde Säurefass‹. Diese Einheit scheint sehr selten eingesetzt zu werden. In meinem langen Leben habe ich sie vielleicht zwei- oder dreimal gesehen. Aber ich kann nicht oft genug betonen: Lassen Sie sich nicht täuschen! Diese Kröten haben es faustdick hinter den Ohren. Sie mögen träge wirken und vielleicht auch nicht so zäh wie die Ameisen oder die Laufkäfer, aber diese Defizite machen sie durch ihre chemischen Waffen mehr als nur wett. Die Viecher sind in der Lage, einen extrem heißen Chemiecocktail aus ihrem Arsch abzufeuern. Das Zeug ätzt alles weg! Ich habe Kameraden gesehen, die davon getroffen wurden, da hilft meistens nur noch der Gnadentod. Gut für uns, die Käfer sind nicht sehr widerstandsfähig. Ein gezielter Gewehrschuss auf ihr Abdomen oder eine präzise geworfene Granate reichen aus, damit sie selber explodieren. Passen Sie aber auf den Fallout auf! Die Säure verteilt sich auf einem Radius von mehreren Metern.«
Er schaute in die Runde. »Gibt es bis hierhin irgendwelche Fragen? Nein? Dann können wir weitermachen.« Er zeichnete wieder. Markus war erstaunt, wie gut der Ausbilder das konnte. Nicht nur, dass es schnell ging, nein, er zeichnete sie auch so lebensecht. In einem anderen Leben wäre er vielleicht Künstler geworden.
»Kommen wir zur vorletzten Kreatur dieser abscheulichen Monsterarmee«, fuhr der Hauptmann fort, »dem König der Lüfte, besser bekannt als Kriegslibelle oder auch ›Drachenfliege‹. Sollten Sie sich dafür entscheiden, in die Luftwaffe einzutreten, werden Sie es vornehmlich mit diesen Bastarden zu tun bekommen. Weitaus größer als der Laufkäfer und ausgestattet mit einem noch viel fieseren Vorteil: der Fähigkeit zum Fliegen. Diese überdimensionierten Schmeißfliegen düsen mit unfassbaren Geschwindigkeiten über die Schlachtfelder. Dabei legen sie Manöver an den Tag, von denen unsere Doppeldecker nur träumen können. Vorwärts, rückwärts, nach oben, nach unten, mitten im Flug abrupt bremsen und in der Luft schweben. Sie müssen schon ein Ass im Umgang mit der Bordkanone sein, um diese Drachen vom Himmel zu holen. Wichtiger Tipp: Greifen Sie niemals allein an, sondern immer in der Gruppe. Das erhöht Ihre Erfolgschancen ungemein! Und wenn Ihnen die Flugfähigkeiten der Libelle noch nicht genug waren, sind sie darüber hinaus auch in der Lage, eine explosive Substanz aus ihrem Schwanzleib abzuwerfen, die dann auf die Schlachtfelder hinunter regnet. Also, müssen Sie nicht nur nach vorne schauen, sondern zu jeder Zeit auch nach oben. Es sei denn, Sie wollen, dass wir Ihrer Mutter Ihre Leiche als Puzzlestück präsentieren. Sollten Sie hierzu Fragen haben, bitte ich Sie, einen von der Luftwaffe damit zu nerven.«
Antonius schaute in die mehr oder weniger interessierten Gesichter der jungen Kadetten. Markus machte sich eifrig Notizen. Vielleicht hatte der alte Hauptmann ihn falsch eingeschätzt, vielleicht war er doch zu etwas zu gebrauchen. Es war ein schlechter Start, mehr nicht. Für einen kurzen Moment flammte in Antonius die Erkenntnis auf, dass gerade dreihundert Kinder vor ihm saßen, die in weniger als drei Monaten, in den Fleischwolf geschickt werden. Sie wurden geopfert, um das Überleben des Komplexes für ein paar weitere Wochen zu sichern. Zu was war diese Welt nur verkommen?, fragte er sich. Wie lange würde die Menschheit noch Bestand haben? Wie lange kann es so noch weitergehen? Antonius schüttelte den Kopf, wischte die trostlosen Gedanken beiseite. Er musste sich wie auch alle anderen auf seine Aufgabe konzentrieren. Im Moment blieb kein Platz für sentimentale oder gar zweifelnde Gedanken. Sie alle mussten ihren Teil leisten.
»Gut«, begann er und zeichnete das nächste Insekt an die Tafel, »kommen wir zum letzten Geschöpf im Arsenal der Feindesarmee. Bei diesem Monstrum handelt es sich um eine relative Neuerscheinung. Unseren Aufzeichnungen zufolge erschien es vor ungefähr neunzig Jahren, also kurz vor dem Einfrieren der Front. Der Name lautet ›Panzerkäfer‹, es ist die größte Einheit, über die der Feind verfügt, größer als die Laufkäfer und Libellen. Sie ähneln unseren eigenen Panzern, was zur Vermutung geführt hat, dass der Gegner über eine gewisse Intelligenz verfügt und in der Lage ist, unsere Truppen bewusst wahrzunehmen und sich dementsprechend anzupassen und weiterzuentwickeln. Diese These konnte aber bisher nicht überprüft werden, weil keiner dieser Sechsbeiner für ein Interview bereit war.« Verstreutes Kichern war im Plenum zu vernehmen.
»Der Panzerkäfer mag noch träger sein als der Bombardierkäfer, aber das ist für ihn nicht weiter schlimm. Er brauch keine Geschwindigkeit oder Mobilität. Sein fetter Arsch sitzt gemütlich ganz weit hinter der Armee und dort hat er alle Zeit und Ruhe, die er braucht. Aus seinem Thorax wächst ein gewaltiges Rohr und daraus feuert er eine Substanz, die der Libellen stark ähnelt, also ein hochexplosiver Stoff, stark genug um mehr als ein Dutzend Männer in kleine Stücke zu sprengen. Und im Gegensatz zu Ihnen können sie tatsächlich auch zielen und treffen. Wenn es zum Sturm kommt, sollten Sie nicht allzu lange auf einer Stelle verweilen, nur mal so als Tipp. Geben Sie sich auch nicht der Illusion hin, dass Sie diesen Viechern irgendeinen nennenswerten Schaden zufügen können. Dafür ist die Panzerung einfach zu dick. Überlassen Sie das, falls Sie zu diesem Zeitpunkt noch am Leben sind, den Jungs mit den schweren motorisierten Einheiten.«
Der Ausbilder schaute nochmal in die Runde. »Gibt es bis hierhin irgendwelche Fragen?«
Eine einzelne Hand erhob sich schüchtern in der letzten Reihe.
»Ja, Kadett Markus?«
»Wann können wir die Theorie in die Praxis umsetzen, Herr Hauptmann?«
Antonius lächelte. Vielleicht habe ich dich wirklich falsch eingeschätzt. »Noch früh genug, Kadett. Noch früh genug … Gut, das soll es fürs Erste gewesen sein. Sie sind für heute entlassen, wir sehen uns morgen zu alter Frische wieder.« Die Kadetten klopften auf die Metalltische und erhoben sich.
»Kadett Markus!«, rief der Ausbilder. Markus drehte sich sofort zu ihm. »Wie versprochen, bleiben Sie noch hier.«
»Ja, Herr Hauptmann.«
Antonius nahm einen Schwamm und warf ihn jemanden zu. »Kadett Virgil! Sie haben Tafeldienst! Ich will mich nachher darin spiegeln sehen. Verstanden?«
Der junge Kadett fing den Schwamm ungeschickt auf, salutierte steif und rief: »Jawohl, Herr Hauptmann!«
»Kadett Markus, Sie kommen mit mir in das hintere Zimmer.«
Er tat, was ihm befohlen wurde und folgte dem hochgewachsenen Mann in sein Büro hinter dem Ausbildungssaal. Es war ein spartanisch eingerichteter Raum, ein verbeulter, verrosteter Tisch aus Metall am anderen Ende, eine einzelne hängende Glühbirne, flankiert von zwei Regalen, vollgestopft mit unpersönlichen Aktenordnern, die vor vergilbten Papieren überquollen. Nichts in diesem Zimmer sagte etwas über die tiefer gehende Persönlichkeit des Bewohners aus. Genauso gut hätte es sich auch um eine Abstellkammer handeln können.
Antonius schloss die Tür hinter Markus zu und befahl mit barscher Stimme: »Oberteil ausziehen!«
Mit zitternden Fingern öffnete der Kadett die Knöpfe seines Hemdes, währenddessen kramte der Ausbilder in seinem Schreibtisch. Als er gefunden hatte, was er suchte, rief er: »Umdrehen! Gesicht zur Tür!«
»Jawohl, Herr Hauptmann«, antwortete Markus schwach.
Danach folgten fünf schnelle Peitschenhiebe. Jeder einzelne Schlag brannte mehr als der zuvor. Markus krümmte sich vor Schmerzen, doch er weigerte sich, aufzuschreien, er wollte es wie ein echter Mann ertragen. Und bei Gott, es war schwer, Tränen füllten seine Augen, ein Schrei kroch den Hals hoch, doch bevor er seinem Weg hinausfand, war die Bestrafung auch schon wieder vorbei. Markus Rücken fühlte sich an, als hätte ihn jemand glühendes Eisen übergekippt.
Antonius legte seine Hand auf die Schultern des jungen Kadetten und sagte mit ungewöhnlich sanfter Stimme: »Gut gemacht. Sie sollen nicht glauben, dass es mir Freude bereitet, die Auszubildenden zu bestrafen oder ihnen wehzutun. Nichts läge mir ferner. Doch Strafe muss sein, um die Disziplin aufrechtzuerhalten, ansonsten fällt alles, was wir so mühsam aufgebaut haben, irgendwann auseinander.«
Markus nickte mit dem Kopf, er verstand, worauf der Ausbilder hinauswollte.
»Ausgezeichnet. Dann gehen Sie auf Ihr Quartier und ruhen sich aus. Wir sehen uns dann morgen wieder. Diesmal aber … Pünktlich!«, sagte er mit erhobenem Zeigefinger.
»Jawohl, Herr Hauptmann!« Markus salutierte und verschwand dann in den endlosen Gängen des Komplexes.

Später am Abend befand sich Antonius in seinem Zimmer, eine beinahe exakte Spiegelung seines Büros. Ein kleiner, leerer, persönlichkeitsloser Raum, ausgestattet mit dem nötigsten. Nur ein kleiner Flecken Seele, ein Hauch von individueller Identität hing an der Wand: eine Vitrine mit verstaubten Orden und Auszeichnungen.
Antonius saß allein auf seinem Bett, eine Flasche Kartoffelschnaps hing lustlos in seiner Hand. Sein verbliebenes Auge starrte in die Leere. Die Pickelhaube lag auf seinem Schreibtisch, die Orden überall verteilt (nur ein kleiner Teil seiner Kollektion), der Mantel war achtlos über den Stuhl geworfen worden. Er würde sich morgen darum kümmern, jetzt fehlte ihm die Energie dafür. Er trank einen Schluck, das war bereits seine zweite Flasche. Wenn die leer war, würde er umfallen. Das Zeug schmeckte grässlich, aber es erfüllte seinen Zweck. Es betäubte den Körper. Es brachte die Stimmen zum Schweigen. Nach der zweiten Flasche umgab einen nichts als Stille und wohlige Wärme. Der Alkohol hielt die Dämonen fern. Leider schien es heute nicht zu funktionieren.
Antonius fiel in einen bodenlosen Abgrund. Bald schon stand er vor sieben Gestalten in schwarzen Roben, die sich ihm auf steinernen Thronen sitzend, wobei einer höher als der andere war, präsentierten. Ihre Gesichter verbargen sie hinter grauen Masken, nur die schwarzen Augenlöcher waren zu sehen. Sie blickten auf ihn herab, ihre stummen Blicke schienen ihn zu verurteilen. Sie wussten genau, welche Schuld er trug. Die Szene löste sich auf und formte nun vor ihm ein braunes, verdorrtes Gesicht, eine ausgefranste Gasmaske, ewig zu einem Schrei verzerrt. In den leeren Augen und den weit klaffenden Mund befanden sich wiederum Gesichter, ausgemergelte Fratzen, und das Spiel wiederholte sich, bis nur noch bleiche Totenköpfe zu sehen waren, die den Hauptmann höhnisch angrinsten.
Unter ihm öffnete sich der Schlund der Hölle, doch statt Glut und Feuer, kamen Schlamm und Stacheldraht heraus, er versank darin, ertrank in einem Meer aus braunem Matsch, während sich metallene Würmer um seinen Körper windeten, seine sich wehrenden Gliedmaßen umschlungen und ihn weiter in den Abgrund zehrten.
Mit einem Keuchen wachte er auf, er befand sich wieder auf dem Schlachtfeld, wo er beinahe dreißig Jahre seines Lebens verbracht hatte. Raketen und Bomben schlugen überall ein, wirbelten Dreck in die Luft. Antonius trug wieder seine feldgraue Uniform und die beige Gasmaske. Hinter ihm erhob sich der Komplex, dieser graue Koloss, vor ihm waren die Bauten des Feindes, Wolkenkratzer aus Sand, Stein und Speichel.
Seine Kameraden starben, wo sie standen. Zerfetzt und zerstückelt von den endlos anrückenden Insektenhorden. Antonius hörte ihre Schreie, ihre Klagen, die nicht enden wollten.
Er blickte nach links und sah dort einen alten Freund, mit dem er die Ausbildung machte. Cornelius war sein Name gewesen, wenn er sich richtig entsann. Die obere Gesichtshälfte seines Kameraden fehlte vollständig, trotzdem schlängelte noch immer die Zunge wie ein glitschiger Regenwurm. Der Unterkiefer bewegte sich auf und ab, versuchte irgendwie Worte, zu formen, doch es kam nur blutiges Gurgeln heraus.
Hinter ihnen baute sich der Offizier auf, ein untotes Monster, dessen Gasmaske und Stahlhelm mit seinem Gesicht verschmolzen waren, aus seinem Brustkorb ragten Metallrohre, Drähte, Bajonette und verbogene Gewehrläufe heraus. Aus seinem verunstalteten Mund kam das schrille Trillern der Offizierspfeife. Der Anpfiff zum Sturm. Sofort erhoben sich die Leichen der gefallenen Soldaten und rannten blindlings den Feind entgegen.
Antonius blieb am Boden liegen, er weinte. Er konnte sich nicht aufrichten, er schaffte es einfach nicht. Er fühlte sich schwach und hilflos. Scham stieg in ihm auf, vermischte sich mit der Angst.
Plötzlich sah er ein Paar dreckiger Stiefel in sein Blickfeld treten. Er hob den Kopf, vor ihm stand ein unbekannter Soldat, das Gesicht hinter einer uralten Gasmaske versteckt, der dreckige Schlauch war um den Hals wie ein Schal oder eine Schlinge gewickelt. Der Oberkörper wurde von einem zerfetzten Umhang verdeckt, darunter schien der Mann einen Staubmantel zu tragen. Seine Arme wurden von Stacheldrähten umschlungen. Er reichte ihm eine helfende Hand, Antonius griff zögernd zu.
Jemand klopfte an der Tür. Der Hauptmann schrak hoch, völlig außer Atem, die Schnapsflasche lag in einer klaren Pfütze zerdeppert auf dem Boden. Sein Kopf dröhnte, mit einer Hand wischte er sich über das schmerzende Auge. Er schaute auf die Uhr. Ein neuer Tag war angebrochen.

Nach der Bestrafungsmaßnahme ging Markus mit den anderen Kadetten in ihre Quartiere. Dreißig junge Männer zwängten sich in den kleinen Fahrstuhl, der sich mit Ächzen und Stöhnen nach unten begab. Niemand sagte etwas, alle starrten auf die Stockwerkanzeige. Dicht an dicht gedrängt, waren sie wie Ölsardinen in der Dose. Er roch ihren intensiven Schweißgeruch, diesen ständig präsenten unterschwelligen Gestank, den pubertierende Jungs ausströmten. Er hörte ihr Keuchen, ihr schweres Atmen, manche von ihnen rasselten beim Luftholen. Wahrscheinlich litten sie an Asthma, nicht ungewöhnlich, wenn man im Komplex lebte. Viele hatten in irgendeiner Form Atemwegserkrankungen. Die staubige, asbestverseuchte Luft, die verschimmelten Betten und Wände, der schwarze Rauch, der aus den Fabriken unten kam – all das zerfraß die Lungen, machte sie langsam aber sicher unbrauchbar. Jahrelang konnten die Menschen damit leben, bis sie eines Tages einfach zusammenbrachen und mit einem letzten verzweifelten Atemzug starben. Hier unten konnte ihnen nicht geholfen werden, hier gab es diese speziellen Medikamente nicht. Die Wirtschaft des Komplexes war für immer auf Kriegsproduktion eingestellt.
Das soll nicht heißen, dass es keine Medikamente gab. Aber in der Regel betäubten sie nur die Schmerzen, wenn überhaupt. Manchmal ließen sie einen sogar halluzinieren. Markus konnte sich noch daran erinnern, als er ungefähr sieben Jahre alt war und an einem schlimmen Fieber litt. Es hatte sich angefühlt, als würde sein Kopf jeden Moment in Flammen aufgehen. In ihrer Verzweiflung gab seine Mutter ihn einen besonderen Pilz, der eigentlich nur für Soldaten bestimmt war. Er sah Dinge, die ihm bis heute in seinen Träumen heimsuchten. Grässliche Kobolde, die auf sein Bett krochen. Spindeldürre Gestalten, die aus den Wänden kamen, ihre leeren Gesichter auf ihn gerichtet. Die Tortur dauerte drei Tage, aber danach ging es ihm wesentlich besser. Ihm hätte es auch schlimmer treffen können, seine kleine Schwester starb an Fieber, als sie gerade mal drei Monate alt war.
Der Fahrstuhl hielt an, die Metalltüren öffneten sich und die Kadetten strömten auf den Gang hinaus. Es wartete bereits ein weiterer Ausbilder auf sie. Ein hochgewachsener Mann mit kantigem Gesicht, buschigen Augenbrauen und einem dünnen Oberlippenbart. Er war auch nicht so alt wie Hauptmann Antonius, vielleicht Anfang dreißig. Er trug einen feldgrauen Waffenrock und hohe schwarze Stiefel. Auf den Schultern befanden sich Achselstücke, die aus acht nebeneinanderliegenden silbernen Plattschnüren bestanden. Seine Halbglatze wurde durch eine Schirmmütze verdeckt.
Er wartete noch auf ein paar andere Gruppen, dann sprach er mit fester Stimme zu den neuen Kadetten: »Hergehört, ihr Maden! Vor euch steht Leutnant Julius! In den nächsten drei Monaten werde ich euer Aufpasser und Vertrauensmann sein! Sollte es Ärger oder Probleme geben, werde ich mich darum kümmern. Und ich schwöre euch, das wollt ihr nicht!« Er schaute in die Gesichter der jungen Männer. »Ihr scheint verstanden zu haben. Gut. Folgt mir, ich bringe euch zu euren Quartieren.«
Sofort setzte sich der Haufen in Bewegung. Leutnant Julius drehte sich erbost um und rief: »Sind wir denn hier im Kindergarten? Im Gleichschritt marschieren, verdammt nochmal! Ihr seid hier nicht mehr bei euren Eltern! Hier herrscht Ordnung!« Nach einigen Versuchen klappte es dann auch mit dem geordneten Marschieren.
Markus seufzte. Sein Rücken brannte noch immer wie Feuer. Aber er wollte sich auch nicht beschweren. Was hatte er denn erwartet, wie es werden würde? Wie es war, ein Soldat im Dienste der Menschheit zu sein? Natürlich war es hart, natürlich wirkte es grausam. Aber nur die Harten, die Abgehärteten und die Grausamen überlebten in dieser Welt. Wenn er bei seiner ersten Schlacht nicht als Madenfutter enden wollte, musste er sich anstrengen. Er durfte sich nicht unterkriegen lassen. Was waren schon ein paar Peitschenhiebe und ein bisschen Geschrei, angesichts von der Gefahr sich von messerscharfen Mandibeln zerstückeln zu lassen? Sein Ziel war es, zu überleben und seine Pflicht als Soldat zu erfüllen.
Bald erreichte die Kolonne ihr Ziel. Der Leutnant schloss zwei große Türen auf, die Kadetten (es waren ungefähr dreihundert) strömten in den Schlafsaal hinein. Es war ein relativ großer Raum, darin befanden sich mehrere Reihen von Doppelstockbetten aus Metall. Die Matratzen waren sehr dünn, und mit weiß Gott was gefüllt, auf jeden Fall weder Stroh noch Federn. Vor jedem Bett stand eine große Kiste.
»Meine Herren, dies ist euer Königreich für die nächsten drei Monate. Sucht euch euer Bett aus und macht es euch bequem. Aber bevor das passiert, erkläre ich noch schnell die Hausordnung und die Regeln: Es wird hier kein Lärm veranstaltet, die Betten und Decken sind in Ordnung zu halten, kein Rumgerenne (es sei denn, es gibt einen Notfall), aufgestanden wird um fünf Uhr morgens, ob ihr wollt oder nicht, Bettruhe ist um einundzwanzig Uhr, danach möchte ich keinen Mucks mehr hören! Die Gemeinschaftsbäder sind den Rang runter, auch diese sind blitzblank zu halten! Morgen werdet ihr in den Putzplan eingeteilt, und wehe ich sehe dann auch nur einen Schmutzfleck, wenn ihr Dienst habt! Eine Etage unter euch bekommt ihr Zahnbürsten, Unterwäsche und Wechselkleidung. Die Waschbretter und Leinen befinden sich ebenfalls unten. Jeder Kadett ist für die Sauberkeit seiner Uniform zuständig! Die Kantine befindet sich über uns. Dort treffen wir uns zum Frühstück, Mittag und Abendbrot, jeweils um acht Uhr, zwölf Uhr und achtzehn Uhr. Bei diesen Gemeinschaftsveranstaltungen habt ihr gefälligst anwesend zu sein! Freizeit, wenn ihr es denn so nennen könnt, habt ihr von fünfzehn bis siebzehn Uhr dreißig! Hab ich noch irgendetwas vergessen? Denke nicht. Alles verstanden?«
»Jawohl, Herr Leutnant!«, riefen sie alle gemeinsam im Chor.
»Gut, dann … Wegtreten!«
Markus suchte sich das Doppelbett nahe der Türen aus. Bei ungefähr dreihundert Leuten war es vom Vorteil nahe am Ausgang zu sein, dadurch stieg die Chance, rechtzeitig den Raum zu verlassen.
Er fasste die Decke, die Matratze und das Kissen an und war sich immer noch nicht sicher, mit was sie gefüllt waren. Auf jeden Fall fühlte es sich merkwürdig an. Aber immerhin bekamen sie Bettzeug.
Ein anderer Kadett suchte sich ebenfalls dieses Doppelbett aus. Als Markus ihn anschaute, lächelte er. Ihm fehlten einige seiner Zähne und die, die ihm noch übriggeblieben waren, hatten eine schwarze Farbe angenommen. Auf seiner bleichen Haut waren kleine braune Punkte zu sehen. Seine grünen Augen wirkten freundlich.
»Wie es aussieht, sind wir jetzt Bettnachbarn«, sagte er.
»Scheint so.«
»Mein Name ist John, kannst mich aber auch Johnny nennen«, er reichte ihm seine Hand. Markus schüttelte sie. Der Junge hatte einen erstaunlich festen Griff.
»Grüß dich. Ich bin Markus.«
Nachdem alle ihre Betten gemacht hatten, holten sie ihre Wechselkleidung und Zahnbürsten, danach ging es zum gemeinsamen Abendessen. Wie alle anderen militärischen Räumlichkeiten war auch die Kantine ein gigantischer Raum, wo unzählige Menschen Platz finden konnten. Und genauso wie alle Räume des Komplexes bestand auch dieser Ort aus grauem Beton und war schlecht beleuchtet.
Wie alle anderen, stellte sich Markus an und holte sich sein Essen, es gab ein paar Kartoffeln, ein graues Pilzschnitzel und so etwas, was wie Soße aussah, aber mehr einer weißen, geleeartigen Plörre glich. Er setzte sich dann an dem Tisch, wo auch Johnny saß, der absolut kein Problem mit dem Essen zu haben schien.
»Besser als das Zeug, was ich zuhause bekommen habe«, sagte er schmatzend. Für einen Moment hörte er auf, sich das Essen in die Futterluke zu schieben, und zeigte mit der Hand auf seine Tischgenossen.
»Wenn ich vorstellen darf, dass hier ist Jack«, er zeigte auf einen Jungen mit einem quadratischen Schädel und einer rechteckigen Nase. Er erinnerte Markus an einen heruntergefallenen Zementblock, den er vor vielen Jahren in einen der unzähligen Gänge mal gesehen hatte. Der Block hatte einen Soldaten erschlagen.
»Der hier heißt Daniel«, grimmiger Blick, buschige Augenbrauen, ein Gesicht wie eine zusammengeballte Faust, dazu noch dieser überdimensionierte Unterkiefer. Wahrscheinlich stammte er aus den sehr tiefen Ebenen des Komplexes. Gerüchte zufolge, die Markus vernommen hatte, betrieben die Menschen unten intensiven Inzest.
»Und dieser feine Kerl heißt Jeremy«, blass, sehr blass, noch blasser als der an sich schon blasse Rest der Kadetten. Markus konnte förmlich die blauen Adern und Venen unter seiner Haut sehen. Seine Augen waren stark gerötet … Wahrscheinlich war er krank. Ein Wunder, dass er aufgenommen wurde.
Mit diesen Menschen würde er die nächsten drei Monate zusammenleben, sie näher kennenlernen und wahrscheinlich auch Freundschaften schließen. Irgendwie freute er sich darauf, es war eine aufregende Zeit. Doch ein ungutes Gefühl blieb. Er schaute in ihre Gesichter und für einen Moment, wenn auch nur für einen sehr kurzen, sah er ihre weißen Schädel, ihre plappernden Totenschädel, das Essen war verrottet, grün-blauer Schimmel breitete sich über den Tisch aus, die Wände der Kantine waren mit krebsartigen Geschwüren bedeckt, es roch nach Tod und Verwesung, und die Schädel plapperten und plapperten, ihr klägliches Gelächter klingelte in Markus Ohren. Er schloss seine Augen und öffnete sie, alles war wieder normal.
Johnny schaute ihn besorgt an. »Alles okay mit dir? Du schwitzt sehr doll …«
Markus schüttelte seinen Kopf, er hatte sich wieder gefasst. »Ja … Alles okay. Alles gut, bin nur müde. War ein anstrengender Tag.«
»Das kannst du aber laut sagen«, entgegnete Daniel mit vollem Mund. »So viel Zeug passt doch gar nicht in mein Hirn.«
»Besonders nicht in so ein Kakerlakenhirn wie deins«, kicherte Jack.
»Maul halten, Quadratschädel … sonst poliere ich dir die Fresse.«
»Spuckst große Töne für jemanden von unten. Was macht dein Papa? Befruchtet er Schweine? Grunzt er schön?«
»Sehr witzig. Ja, er ist Schweinehüter …«
Jack begann laut zu lachen.
»Aber wenn er nicht wäre, hättest du keine warme Mahlzeit auf dem Tisch. Was macht denn dein Alter?«
Das Lachen blieb in Jacks Hals stecken.
»Er … äh … schuftet in den Kraftwerken. Ganz unten.«
»Siehst, genauso wichtig. Wir alle tragen unseren Teil dazu bei, dass die Maschine wie geölt läuft. Wir alle sind wichtig. Egal ob Soldat, Schweinehüter, Fabrikant, Minenarbeiter, Pilzfarmer, Kraftwerkarbeiter, Mutter, Erzieher, Lehrer … Fällt eine Gruppe weg, bricht alles zusammen.« Er pikste Jack auf die Brust. »Aber wir Kadetten, wir müssen unseren Wert erst auf dem Schlachtfeld beweisen. Also, wie wäre es, wenn du, statt über die Väter anderer herzuziehen, dich lieber nützlich machst?«
Jack schaute beschämt weg und aß still weiter.
Anscheinend hatte Markus den Jungen falsch eingeschätzt, er schien mehr drauf zu haben, als der äußere Schein hergab.
Die nächsten drei Monate vergingen wie im Flug. An einem Tag zeigte Hauptmann Antonius (diesmal ohne komplette Uniform, die wahrscheinlich nur zeremoniellen Zwecken diente) ihnen die anderen Zweige der Armee. Sie machten eine Exkursion in die Werkhallen, wo die Panzer und Mechs des Komplexes gehalten wurden. Große, grobschlächtige, brutale Maschinen, zusammengeschustert aus Metallresten und Schrott, immer und immer wieder repariert, nur zusammengehalten durch Kleber, Rost und Glaube. Das älteste Gefährt wurde vor einhundertsiebzig Jahren gebaut, ein Wunder, dass es nicht bei der kleinsten Bewegung auseinanderbrach. Der Komplex verfügte momentan über zwanzig Panzer und sieben Mechs. Jede dieser Maschinen wurde wie ein Kronjuwel gehegt und gepflegt. Genauso wie die Flugzeuge der Luftwaffe gehörten sie zu den wertvollsten und mächtigsten Waffen, deren Nachproduktion fast schier unmöglich war. Sollte eine Maschine vollständig kampfunfähig werden, würde das einen großen Verlust für den Komplex bedeuten.
»Machen Sie sich aber keine großen Hoffnungen darauf, hinterm Lenkrad eines dieser Biester sitzen zu können. Nur wer seine Feuertaufe überstanden hat, kann den Maschinenkorps oder der Luftwaffe beitreten. Aber vorerst muss derjenige noch eine besonders harte Ausbildung absolvieren. Die Teile sind zu wertvoll, als das wir jeden dahergelaufenen Rekruten reinsetzen können«, erklärte Antonius. »Die Maschinen sind unser Ass im Ärmel, sie sind die letzte Verteidigungslinie zwischen den Insekten und dem Komplex. Und bisher wurden sie auch immer mit den Angreifern fertig.«
Am nächsten Tag stand Waffentraining oben auf der Prioritätenliste, genauso wie an allen anderen Tagen der kommenden Wochen. Sie lernten den Umgang mit Gewehren, Pistolen, Granaten, Schrotflinten, Maschinengewehren und Flammenwerfern, das Kämpfen im Team und als Einzelgänger. Die Pflege der Waffen sowie der Munition wurde ihnen ebenfalls beigebracht. Auch im Nahkampf wurden sie geschult, Bajonett, Schwert, Säbel, Speer, Lanze, Axt, Degen, Schaufel. Alles durften sie ausprobieren. Es war eine harte, körperlich sehr anstrengende Zeit, doch Markus müsste lügen, wenn er sagen würde, dass es kein Spaß gemacht hätte. Die blauen Flecke und Narben werden ihn noch eine lange Zeit daran erinnern.
Bald erreichten die Kadetten ihren letzten Tag. Ihnen wurde mitgeteilt, dass sie sich in eine der vielen Hallen treffen und in einer geordneten Schlange aufreihen sollen. Markus marschierte zusammen mit Johnny, Jack, Daniel und Jeremy zum Sammelpunkt. Das Training hatte ihre Körper gestählt, von der einst kindlichen Ausstrahlung war nichts mehr vorhanden, sie hatten ihre Knabenhülle abgeworfen und waren nun zu vollwertigen Männern geworden.
In der Halle reihten sie sich hintereinander auf, sie bekamen ihre Uniformen ausgehändigt. Niemand sprach, niemand wackelte nervös mit seinen Beinen, es gab kein Geschubse und kein Gedrängel. Solch kindisches Verhalten hatte man ihnen gehörig ausgeprügelt.
Als Markus an der Reihe war, nahm er seine graue Uniform lächelnd entgegen. Endlich hatte er es geschafft. Seine Fröhlichkeit und sein Stolz wurden aber leicht getrübt, als er die Kleidung näher in Augenschein nahm. Auf der Innenseite stand ein Name in schwarzen Buchstaben geschrieben: Heinrich.
Als alle ihre Uniformen erhalten hatten, teilte ihnen Hauptmann Antonius (diesmal wieder in voller zeremonieller Ausstattung) mit, dass sich nun in das oberste Stockwerk begeben sollen, wo ihre Ausbildung ein endgültiges Ende finden wird und sie als Soldaten vereidigt werden.

Nun standen sie in der großen Halle, tausende und abertausende von Kadetten, alle in ihren grauen Uniformen, den Helm auf dem Kopf, stramm wie junge Eichen. Vor ihnen befand sich ein gewaltiges Podest mit einem Pult. Laute Marschmusik ertönte, die Hymne des Komplexes, ein Fossil aus vergangenen Jahrtausenden. Markus spürte ein Gefühl der Ehre in seiner Brust aufschwellen.
Hauptmann Antonius erschien und rief mit lauter Stimme: »Kadetten! Stillgestanden!« Sofort ging ein Ruck durch die Menge.
»Es spricht nun: Generalissimo Prignitz!«
Ein älterer Herr mit weißem Schnurrbart, buschigen Augenbrauen und einer von Altersflecken übersäten Glatze trat an das Pult. An seiner königlich wirkenden Uniform hingen Dutzende von goldenen Orden und Medaillen. Seine laute Stimme donnerte über die Menge hinweg.
»Meine verehrten jungen Kadetten! Nach drei langen, harten und erbitterten Monaten haben Sie nun endlich Ihre Ausbildung abgeschlossen und dürfen sich nun, Soldaten unserer Heimat nennen und in der glorreichen Schlacht zum Schutze der Menschheit kämpfen! Sie sind nun keine Kadetten mehr, sondern Krieger! Priester des Todes, die für Krieg und Vergeltung beten. Sie sind die Speerspitze gegen einen Feind, der die Menschheit seit unzähligen Jahren plagt! Ihre Mütter und die Väter, Ihre Geschwister, die Arbeiter und Bauern, sie alle zählen auf Sie! Auf das wir noch weitere Jahrzehnte und Jahrhunderte überleben können. Im Namen des Generalstabs möchte ich Ihnen meinen Dank und meinen Stolz überbringen, dass Sie diese gefährliche, doch leider notwendige Arbeit übernehmen! Nun heißt es: Wegtreten!«
»Jawohl!«, rief die Menge zurück.
Hauptmann Antonius übernahm das Reden: »Ich habe eine gute Nachricht, meine verehrten Kameraden! Laut unseren Spähern befindet sich gerade ein Heer des Feindes zu uns auf dem Weg! Welch glorreiche Gelegenheit für eine Feuertaufe! An die Waffen, Soldaten! Schnappen Sie sich Ihre Gasmasken und Ihre Gewehre und heizen Sie dem Feind ein!«
Markus war aufgeregt. Zuerst die Feier und jetzt gleich eine Schlacht?
»Jetzt geht es richtig los, nicht wahr?«, flüsterte Johnny neben ihn.
Ein jeder schnappte sich seine Waffe und seine Maske, um in der toxischen Atmosphäre draußen überhaupt atmen zu können. Tausende von jungen Soldaten standen bereit, Offiziere brachten sich an den Seiten in Stellung. Die großen Stahltore des Komplexes öffneten sich langsam. Markus sah zum ersten Mal in seinem Leben den blutroten Himmel. Das Licht blendete seine Augen. Die Offiziere bliesen zum Marsch! Seine Truppe bewegte sich wie ein gigantischer Organismus, sechstausend Mann marschierten zur Schlacht.
Markus hatte den Ablauf deutlich verinnerlicht. Sie würden sich in den hinteren Gräben positionieren und darauf warten, dass die vorderen Flammenwerfer aufhörten, ihren heißen Atem auf die Gegner zu sprühen. Dann käme der Pfiff der Offiziere und schlussendlich der Sturm auf den Feind. Er betrachtete seine Kameraden, Johnny, Daniel, Jeremy und Jack, die neben ihn marschierten. Ihre Körper waren wie Bögen gespannt. Er konnte die Gesichter hinter den Gasmasken nicht erkennen, aber er war sich sicher, dass ihre Augen mit Kriegslust und Blutdurst gefüllt waren.
Markus sah die große Feuerwand, die ihn von dem Feind trennte. Über sich hörte er das Brummen der Flugzeugmotoren und das Rattern ihrer Maschinengewehre. Links und rechts donnerten die Artillerie und die Geschütztürme.
Sie brachten sich alle in Stellung. Markus beobachtete den vorbeimarschierenden Offizier, wartete auf sein Zeichen. Der hochgewachsene Mann schaute durch sein Fernglas und wollte gerade seine andere Hand heben, um zum Sturm anzupfeifen, Markus machte sich schon bereit, als der Offizier plötzlich mitten in der Bewegung einfror. Etwas stimmte nicht, etwas stimmte ganz und gar nicht. Markus schaute sich um, schaute seine Kameraden an, die ebenfalls von der Situation verwirrt waren. Im Ablauf schien ein Fehler zu stecken.
Der Offizier ließ seine Pfeife fallen. Der junge Soldat blickte ihr hinterher, es war wie in Zeitlupe. Als sie den Boden erreichte, war es das lauteste Geräusch, was Markus je gehört hatte.
Langsam drehte er sich um und schaute auf die vordere Frontlinie. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, das Undenkbare war geschehen. Der Feind hatte die Wand aus Feuer durchbrochen, metzelte nun die Flammenwerfer nieder und marschierte auf den Komplex zu! So etwas sollte nie passieren!
Etwas schien von Markus Besitz zu ergreifen, wie in Trance kletterte er über den Grabenrand, das Gewehr im Anschlag. Eine laute Stimme, die nicht die seine war, aber aus seinem Mund kam, rief: »Sturm!«
Seine Kameraden schauten ihn erst verwundert hinterher, doch dann begannen sie sich ebenfalls zu erheben. Die Offiziere versuchten gar nicht erst, sie aufzuhalten. Sechstausend junge Soldaten schmissen sich wie eine Sturmflut dem unerbittlichen Feind entgegen. Gestern waren sie noch Kadetten, nun waren sie Soldaten, die sich mutig in die Feuertaufe stürzten. Hinter ihnen war der Komplex, vor ihnen die gegnerische Horde, die auf ihre komplette Vernichtung aus war. Sie waren ein Stahlgewitter, erfüllt von Zorn gegen Kreaturen aus einer fremden Hölle. Mit ihrem selbstlosen Opfer erkauften sie ihren Familien ein paar weitere Monate des Friedens.
Der Offizier, der seine Pfeife fallen ließ, war fassungslos. In all seinen Jahren hatte er noch solch ein Phänomen erlebt. Noch nie waren frischgeschlüpfte Soldaten so kampfesbesessen gewesen, noch nie waren sie von solcher Kriegslust erfüllt. Tränen stießen in seine Augen und er fiel auf die Knie. Dankend sprach er ein Gebet an denjenigen, der für dieses Wunder verantwortlich war.
Die Flut an sechsbeinigen Feinden zerschellte an dem Soldatensturm. Bajonette und Schaufeln wurden in die harten Chitinkörper der Ameisen gerammt. Brutaler Nahkampf stand an der Tagesordnung. Zerbrachen die Gewehre und Stiele zogen die Krieger Dolche aus ihren Taschen und stachen damit auf die Facettenaugen oder die Brüste der Gegner ein, versuchten ihre Köpfe zu zerstören. Gelbes Blut spritzte auf ihre Masken, doch das interessierte sie nicht. Währenddessen trommelten die Geschosse der Panzerkäfer auf die Kontrahenten ein, trafen sowohl Freund als auch Feind.
Markus hatte die Zeit seines Lebens, der Blutrausch hatte ihn völlig übermannt, das Gewehr hatte er mit beiden Händen gepackt und benutzte es wie ein Speer. Insekt um Insekt tötete er somit, bis er von einem Berg aus Leichen umgeben war. Seine Arme wurden dem nicht müde, noch konnte er.
Seine Freunde kämpften ebenfalls erbittert, doch einer nach dem anderen fiel. Johnny wurde von mehreren Ameisen überwältigt, sie trennten seine Beine ab, bissen in seinen Oberkörper, doch das hielt ihn nicht davon ab, weiter auf sie mit einem kaputten Dolch einzustechen.
Daniel wollte gerade eine Granate schmeißen, als er plötzlich in einer dunklen Wolke aus Staub, Dreck und Blut verschwand. Nichts blieb von ihm übrig. Jeremy wurde ebenfalls niedergemetzelt.
Jack hatte sich seine Maske heruntergerissen, sein Gesicht war so rot wie der Himmel über ihnen. Er keuchte, schnaufte, Blut kam aus seiner Nase, seinen Augen, seinen Mund, trotzdem hörte er nicht damit auf, auf den anrückenden Feind mit seiner Schaufel einzuschlagen. Doch er begann zu husten, seine Bewegungen wurden langsamer, bis sie schließlich aufhörten und er einfach tot umfiel.
Markus bekam das alles kaum mit, er war auf die schwarze Horde vor ihm fokussiert. Nachdem sowohl seine Schaufel, sein Bajonett als auch sein Dolch kaputt gegangen waren, ging er mehrere Schritte zurück und begann zu schießen. Das Training hatte sich bezahlt gemacht, jeder Schuss war ein Treffer.
In all den mörderischen Kämpfen ließ ein seltsames Geräusch ihn plötzlich innehalten. Er hörte ätherische Stimmen singen, ein Chor wie aus dem Himmel selbst, zuerst leise, dann lauter. Er schaute sich um, doch er sah niemanden, der solche Töne erzeugen könnte. Deutlich hörte er, was gesungen wurde:

Wir sind verloren,
Wir sind verloren,
Wir sind verloren,
Wir sind verloren.

Wo alle Straßen enden,
Hört unser Weg nicht auf,
Wohin wir uns auch wenden,
Die Zeit nimmt ihren Lauf,
Das Herz, verbrannt,
Im Schmerz, verbannt
.

So ziehen wir verloren durch das graue Niemandsland,
Vielleicht kehrt von uns keiner mehr zurück ins Heimatland.

Wir sind verloren,
Wir sind verloren,
Wir sind verloren,
Wir sind verloren.

Es war, als würden alle Soldaten, die vor Markus gekämpft haben, plötzlich auferstanden sein und nun ein Lied singen. Er hörte und spürte ihre Trauer, ihren Schmerz, aber auch ihr Wille bis zum bitteren Ende weiterzukämpfen, koste es, was es wolle.
Die Reihen der Gegner begannen sich zu lichten, die Geschosseinschläge wurden weniger und weniger, bis auch sie verstummten. Die Panzer und Mechs setzten sich in Bewegung, sie würden auch die letzten Reste des feindlichen Ansturms beseitigen.
Markus schaute sich seine Umgebung an, zum ersten Mal seit dem Angriff sah er sie richtig. Im dunklen, vom Blut durchtrunkenen Schlamm lagen die Leichen unzähliger toter Gegner ebenso wie die gefallener Soldaten. Kaum einer stand noch aufrecht. Von sechstausend Mann, wie viele waren noch übriggeblieben? Wie viele hatte der dreckige Staub verschluckt? Markus spürte einen stechenden Schmerz in seiner Brust, in seinen Armen, seinen Beinen, überall. Das Adrenalin verließ seinen Körper, zurück kam die Pein. Überwältigt fiel er zu Boden. Bevor er erschöpft seine Augen schloss und in das erbarmungswürdige Dunkle fiel, sah er etwas. Eine illuminierte, geflügelte Gestalt, die wie ein Leuchtfeuer brannte, marschierte über das graue Niemandsland, in der rechten Hand hielt sie ein Schwert.
Noch immer konnte er leise das Lied vernehmen, doch es schienen sich ein paar Stimmen zu dem mysteriösen Chor aus dem Äther hinzugesellt zu haben.

Hauptmann Antonius schaute nervös zur Uhr. Er war pünktlich, das war das Wichtigste. Vor der großen Tür standen zwei bewaffnete Militärpolizisten, die Buchstaben ›MP‹ standen in großen, weißen Buchstaben auf ihren Helmen geschrieben. Ihre Gesichter verbargen sie hinter schwarzen Stoffmasken, die nur die stummen Augen offenbarten. Weder sprachen noch bewegten sie sich, genauso gut hätten sie auch Statuen sein können. Aber niemand sollte sich davon täuschen lassen, sie waren gefürchtete Krieger und konnten im Ernstfall blitzschnell reagieren. Nur die hartgesottenen Veteranen des Heeres durften der Militärpolizei beitreten.
Die Tür öffnete sich langsam, ein junger, schüchtern wirkender Mann trat heraus und verbeugte sich. Er trug eine schlichte grüne Uniform.
»Mein Herr, Ihnen ist eine Audienz gewährt worden«, sagte er leise.
Antonius trat in einen kleinen Raum hinein. In der Mitte stand ein länglicher Tisch, darauf befand sich eine Miniaturausgabe des Komplexes und der nahen Umgebung, quasi ein detailgetreues Modell, überall lagen kleine Figuren verstreut; Panzer, Soldaten, Geschütze, Flugzeuge, Mechs, Artilleriekanonen und so weiter.
Um den Tisch herum saßen sieben Männer, drei links, drei rechts und einer an der Spitze. Auf der linken Seite waren Generaloberst der Bauernschaft Geyer, Generaloberst der Produktionsarmeen Wrangl und Generaloberst der Ordnung Stein. Auf der rechten befanden sich Generaloberst des Heeres Clausewitz, Generaloberst der Luftwaffe Graziani und Großadmiral Sternberg (ein rein symbolischer Posten, der Komplex besaß seit Jahrtausenden keine Marine mehr). An der Spitze thronte Generalissimo Prignitz, das Regierungs- sowie Staatsoberhaupt (wenn man den von ›Staat‹ reden konnte), der Mann, der die Einweihungsrede vor den Kadetten gehalten hatte. Zusammen bildeten diese sieben Herren den Generalstab, die oberste Instanz des Komplexes. Nur die fähigsten und talentiertesten Soldaten, Arbeiter und Bauern bekamen die Chance in die Spitze der Pyramide aufzusteigen und die Geschicke des Komplexes zu leiten.
Neben Gesetzen und der Aufrechterhaltung der Ordnung war der Generalstab auch für die Koordinierung der Schlachten gegen den Feind verantwortlich. Und in den letzten achtzig Jahren hieß die Strategie wie folgt: Verteidigung des Komplexes um jeden Preis.
Die Mitglieder des Generalstabs waren allesamt über sechzig Jahre alt, älter als es der Durchschnittsmensch wurde und man merkte es ihnen auch an. Wenn sie noch Haare hatten, dann waren diese schneeweiß. Die Haut war faltig, die Wangen eingefallen, ihre müden, trägen Augen starrten auf das Schlachtfeld, was auf dem Tisch lag. Einige hatten die Hände zusammengefaltet und grübelten, ihr Stirnen lagen in tiefen Denkfalten, Großadmiral Sternberg schien zu schlafen.
Als Antonius eintrat, hoben sie langsam ihre Köpfe.
»Ahh, der Herr Hauptmann«, begann Generalissimo Prignitz, »da sind Sie ja. Was möchten Sie denn Dringendes mit dem Generalstab besprechen?«
»Erst einmal, möchte ich mich, Eure Exzellenz, für die Audienz, die Sie mir gewährt haben, bedanken.« Er verbeugte sich tief. Das Oberhaupt machte daraufhin eine wegwerfende Handbewegung, um den Offizier zu signalisieren, dass er doch die Formalia überspringen und gleich zum Punkt kommen sollte.
»Ich möchte Sie, verehrter Generalstab, über den Ausgang der Schlacht informieren.«
»War sie nicht ein Erfolg?«, fragte Generaloberst Clausewitz leicht genervt.
»Ja, das kann man so sagen … der Feind wurde zurückgeschlagen. Der Komplex wird einen weiteren Tag erleben …«
»Warum behelligen Sie uns dann? Wir wissen doch bereits alles, wir haben die Auswertungen der letzten Schlacht erhalten und analysiert. Unnötige Wiederholungen benötigen wir nicht«, erklärte Generaloberst Stein. Seine Stimme klang gereizt.
»Verehrter Generalstab, mir ist durchaus bewusst, dass Sie bereits über alle notwendigen Sachverhalte informiert worden sind. Ich möchte Sie, verehrter Generalstab, auf die heutigen Verlustzahlen hinweisen.«
Der Großadmiral erwachte aus seinem Schlummer. »Was ist mit denen? Ist diesmal niemand gestorben?«
»Im Gegenteil, verehrter Großadmiral, die Zahlen übersteigen das Ausmaß der letzten Schlachten exorbitant.«
Nun hatte er die Aufmerksamkeit des Stabs. Generalissimo Prignitz beugte sich vor. »Erläutern Sie, Hauptmann.«
»Wie Ihr wünscht, Eure Exzellenz. Durch einen möglichen Fehler …«
»Einen Fehler?«, rief Generaloberst Clausewitz empört dazwischen. »Was bilden Sie sich denn ein, Sie …«
»Beruhigen Sie sich, Clausewitz«, mischte sich der Generalissimo ein und warf einen wütenden Blick auf seinen Kollegen, der daraufhin, wenn auch unfreiwillig, seinen Mund hielt. »Fahren Sie fort, Hauptmann.«
»Vielen Dank, Eure Exzellenz. Wie ich bereits sagte, durch einen möglichen Fehler, wahrscheinlich in der Aufstellung der Formation oder durch Versagen eines einzelnen oder mehrerer Soldaten kam es in der heutigen Schlacht zu immensen Verlusten innerhalb der Flammenwerfereinheiten. Von viertausend eingesetzten Männern wurden ungefähr, die genauen Zahlen werden noch ausgewertet, dreitausendzweihundertsiebzehn getötet, vierhundertfünfunddreißig wurden schwer verwundet, wahrscheinlich können sie nie mehr kämpfen, geschweige denn arbeiten, dreihundertvierzig wurden leicht verwundet, sind aber trotzdem für die nächsten Einsätze nicht brauchbar und acht haben die Schlacht relativ unbeschadet überstanden. Hinzu kommen Verluste bei der Luftwaffe und bei der Artillerie, auch im hohen Hunderterbereich«, erklärte Antonius im ruhigen Ton.
»Und worauf wollen Sie hinaus, Hauptmann?«, fragte Generaloberst Wrangl ungeduldig.
»Verzeihen Sie mir, verehrter Generaloberst, aber ich bin noch nicht fertig.« Der Generalissimo signalisierte ihn, mit seinem Bericht fortzufahren.
»In der heutigen Schlacht kam auch eine neue Generation von Soldaten zum Einsatz, frisch aus der Ausbildung. Verehrter Generalstab, Sie erinnern sich sicherlich, heute war die Einweihungszeremonie und gleich darauf der Angriff des Gegners. Es hätte keinen besseren Augenblick geben können, aber so ist nun mal unser Feind. Wie dem auch sei, es kamen sechstausend Kadetten zum Einsatz, sechstausend junge Männer, allesamt vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt«, er ballte die Hand zur Faust, »von den sechstausend jungen Männern sind fünftausendneunhundertsechsundneunzig gefallen … und damit meine ich, gestorben. Nicht verwundet, weder leicht noch schwer, sondern tot. Darunter fast alle aus meiner Klasse. Vier … ich wiederhole vier … Soldaten haben überlebt. Sie befinden sich im Moment im Lazarett, einer ist noch bewusstlos.«
Der Generalissimo legte die Fingerspitzen aufeinander, er schien nachzudenken.
»Wir hörten davon, ein grässlicher, schwarzer Tag für die Menschheit. So viele junge Krieger sind heute gefallen. Das muss ein tragischer Anblick gewesen sein. Aber die Frontoffiziere berichteten, dass die Männer von einem bisher nie dagewesenen Kampfgeist erfüllt waren. Ohne Befehl schmissen sie sich dem Feind entgegen, dieser Opfermut muss geehrt werden, als glorreiches Beispiel für kommende Generationen. Wir werden eine Gedenkveranstaltung organisieren, um den gefallenen Helden ein Ehrenmal zu setzen …«
»Wenn ich dazu etwas sagen dürfte, Eure Exzellenz?«
»Das sei Ihnen erlaubt, Hauptmann.«
»Ich möchte eine Änderung der Strategie vorschlagen.«
Der Generalstab schaute ihn an, als hätte er gerade vorgeschlagen, die Tore des Komplexes für den Feind zu öffnen.
»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«, rief Generaloberst Graziani in den Raum hinein.
Die anderen wollten ebenfalls lautstark protestieren, doch Generalissimo Prignitz machte dem Trubel ein Ende. »Lasst ihn reden. Hauptmann Antonius ist ein respektabler Veteran unzähliger Schlachten. Hören wir uns erst an, was er zu sagen hat, und urteilen dann.«
»Vielen Dank, Eure Exzellenz.«
»Danken Sie mir nicht, sondern reden Sie.«
»Das werde ich, Eure Exzellenz. Die hohen Verluste haben mich zum Nachdenken angeregt. Wir können uns nicht ewig hinter den Betonmauern des Komplexes einigeln und hoffen, dass dem Feind irgendwann der Nachschub ausgeht, denn das wird nicht passieren, eher erleiden wir dieses Schicksal. Die Verluste der letzten Schlachten der letzten Jahrzehnte waren hoch, zu hoch, unsere Geburtenrate kann das nicht ausgleichen. Schon jetzt sind wir im Rückstand … wir können die verlorenen Bestände kaum nachfüllen.«
»Dann erhöhen wir einfach die gesetzlich festgelegte Geburtenanzahl, sollen die Weiber statt fünf nun sieben oder acht Kinder in die Welt setzen«, warf Generaloberst Wrangl ein.
»Mit Verlaub, verehrter Generaloberst, aber das wird das grundlegende Problem nicht lösen«, erklärte Antonius so, als wäre sein Vorgesetzter ein dummer Dreijähriger. »Und bereits fünf Kinder zu gebären, ist für unsere Frauen eine Belastung, was sollen dann sieben, acht oder zehn sein? Abgesehen davon, dass wir das Problem nicht lösen, sondern unseren langsamen Untergang nur weiter verzögern. Die Gas-, Öl- und Kohlevorkommen neigen sich dem Ende zu. Schon jetzt mangelt es an Metallen für unsere Waffen- und Munitionsproduktion. Die Panzer, die Mechs, die schweren Waffen, sie alle machen nicht mehr lange. Schäden im Komplex werden kaum noch repariert, weil es uns am Beton fehlt. Erst letzte Woche ist ein Schacht eingestürzt, was dreihundert Menschen das Leben gekostet hat. Vor zwei Monaten fielen drei Fahrstühle aus, siebzig Tote. Wenn das alles so weitergeht, wird es in ein paar Jahrhunderten oder gar Jahrzehnten weder einen Komplex noch eine Menschheit geben.«
»Und was schlagen Sie vor, Hauptmann?«, fragte Generaloberst Graziani.
Antonius legte eine Mappe auf den Tisch, die er die ganze Zeit nervös mit einer Hand umklammert hatte.
»Verehrter Generalstab, ich schlage Ihnen eine Spezialmission vor, eine Neuüberlegung unserer Strategie. Ich möchte ein Team zusammenstellen und damit die nächstgelegene feindliche Stellung infiltrieren.«
Der Stab, mit Ausnahme des Generalissimo, lachten laut auf.
»Narr!«
»Was für eine Schnapsidee!«
»Das ist doch zum Scheitern verurteilt!«
»Welch ein Blödsinn!«
Der Hauptmann blieb ruhig und wartete das Abebben des Gelächters ab.
Generalissimo Prignitz lächelte nicht einmal, sondern schaute Antonius tief in sein verbliebendes Auge.
»Was erhoffen Sie sich dadurch?« Die anderen Stabsmitglieder schwiegen wieder.
»Mein Plan ist es, mit einem kleinen Stoßtrupp in die Bauten des Feindes einzudringen, Sprengstoff an kritischen Punkten anzubringen und die Basis zu zerstören. Was ich mir erhoffe? Frieden für die nächsten Jahrhunderte, eine Möglichkeit endlich diesen eingefrorenen Stellungskrieg zu beenden und wieder zu expandieren.«
»Sie sind wahnsinnig, Antonius.«
»Wahnsinnig? Eure Exzellenz, Wahnsinn ist es, unzählige junge Menschen in ein Schlachthaus zu schicken und sie zu opfern, um ein bisschen Frieden zu bekommen. Wahnsinn ist es, immer und immer dasselbe zu tun und zu hoffen, dass jedes Mal ein anderes Ergebnis herauskommt. Das, Eure Exzellenz, ist Wahnsinn!«
Die anderen Stabsmitglieder atmeten erschrocken auf und schauten zum Generalissimo, doch dieser lächelte nur.
»Sie haben Mut, Antonius. Gut, wem möchten Sie in Ihrem Team haben?«
»Vielen Dank, Eure Exzellenz. Ich habe an die vier Überlebenden aus der letzten Schlacht gedacht … und an mich selbst.«
»Ein Fünfer-Team? Warum gerade diese vier?«
»Ich halte sie für geeignet genug, um an dieser Mission teilzunehmen.«
»Generalissimo, wir können doch nicht …«
»Schweig!«, unterbrach das Oberhaupt den Großadmiral. »Wenn es nur fünf Männer sind, dann ist es für mich kein Problem. Sollten sie es schaffen, profitieren wir alle davon und sollten sie scheitern … nun, es wäre sehr schade, aber verkraftbar für uns. Ein minimaler Verlust aus der Sicht von bloßen Zahlen gesehen.«
»Vielen Dank, Eure Exzellenz.«
»Gibt es sonst noch etwas?«
»Nein, Eure Exzellenz.«
»Gut, ich erlaube Ihnen, Ihre Spezialmission durchzuführen. Sie bekommen Ihre vier Mann, ebenso wie Waffen und etwas Proviant. Mehr nicht. Sollten Sie in Schwierigkeiten geraten, wird Ihnen niemand zu Hilfe kommen. Sie sind dann auf sich alleine gestellt. Ist Ihnen das bewusst?«
»Ja, Eure Exzellenz.«
»Gut. Dann … Wegtreten!«
Antonius salutierte und verließ dann den Raum. Der Generalstab widmete sich wieder seinem Modellschlachtfeld.
Obwohl die sieben Herren seine Vorgesetzten waren, verabscheute der Hauptmann sie, mit Ausnahme vielleicht des Generalissimo, der anscheinend noch ein paar Funken Verstand besaß. Die anderen sechs hingegen … ihr Denken war eingerostet, ihre Sturköpfe so dick wie die Mauern dieses Mausoleums. Sie hatten sich vom Rest des Komplexes abgeschottet. Wann hatten diese Säcke zuletzt eine Schlacht gesehen? Sie brüteten den ganzen Tag über ihre imaginären Schlachtfelder, spielten mit ihren Zinnsoldaten wie übergroße Buben, fantasierten von einem Sieg, der niemals kommen mochte. Es war kein Wunder, dass sich die Front seit Jahrzehnten nicht mehr verschoben hatte, sie hatten zu große Angst vor neuen Herangehensweisen, vor neuen Ideen. Stellungskrieg, Stellungskrieg, die Stellung verteidigen, Verteidigung, Gräben ausbessern mit Materialien, die nicht mehr vorhanden waren! Das war ihre Strategie und diese wollten sie nicht ändern! Der Komplex war zu einer Gerontokratie verkommen und alle mussten darunter leiden. Doch sollte Antonius Plan gelingen, würde alles besser werden. Und wenn nicht … was hatte er schon zu verlieren?

Markus erwachte aus unruhigen Träumen, seine Augen brannten, als er sie öffnete. Helles, grelles Licht blendete ihn. Für einen Moment war er sich nicht sicher, ob er noch lebte oder bereits tot war. Der Schmerz in seinen Armen und Beinen versicherte ihn, dass er am Leben war. Langsam kamen auch die Erinnerungen zurück. Die Schlacht … Diese Teufelsschlacht, ein Blutbad … Sie hatten den Feind zurückgeschlagen, doch zu welchen Preis? Markus sah die Leichenberge vor seinem inneren Auge, die vielen toten Soldaten, die ein paar Augenblicke vorher noch Kadetten waren und nun gleich in den Fleischwolf gestürzt wurden.
Markus erinnerte sich an seine Freunde … wie hießen sie doch gleich? … Johnny, Daniel, Jack, Jeremy … er nannte sie Freunde, Kameraden, doch stimmte das überhaupt? Kannte er sie wirklich? Kannte er überhaupt jemanden richtig? Er wusste nicht einmal ihre Nachnamen, geschweige denn wo sie wirklich herkamen. Die Ausbildung ging so schnell vorüber, es blieben keine bleibenden Erinnerungen, nur schwache Eindrücke, das Training nahm alles ein.
Sie waren tot, zerstückelt und zerfetzt, ihre Gesichter waren nur noch fliehende Schatten, verscheucht von den brutalen Eindrücken des Kampfes. Er hörte in sein Inneres hinein, doch da war nur gähnende Leere.
Markus schaute sich um, er nahm langsam seine Umgebung wahr. Er befand sich im Lazarett, der Krankenhausstation des Komplexes. Reihen von Reihen von Betten, es stank nach Desinfektionsmitteln, Verwesung und Tod. Außer ihm waren noch ein paar andere anwesend. Sie waren entweder am Schlafen, lagen wach im Bett und starrten einfach geradeaus oder wälzten sich und stöhnten vor Schmerzen. Ab und zu sah er Krankenschwestern, die versuchten, das Leid der Patienten wenigstens etwas zu mildern. Manchmal mit Erfolg, was auch bedeuten konnte, dass die Verwundeten und Schwerverletzten einfach starben.
Er besaß eine Erinnerung an einen Krankenhausbesuch, die ihm wahrscheinlich bis ans Ende seines Lebens begleiten wird. Es war vor zehn Jahren, seine Mutter war schwanger, der Tag der Entbindung war gekommen. Er erinnerte sich an ihre Schreie, an die blutverschmierten Ärzte, die dieses quakende Bündel in ihren Händen hielten, diesen missgestalteten, verdrehten Körper. Er erfuhr nie, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Die Schwestern entsorgten es. Jahrelang hatte er sich eingeredet, dass das nur ein Traum war, dass er an diesem Tag nicht anwesend war, dass er das nicht erlebt und mit eigenen Augen gesehen hatte. Doch im Laufe der Zeit war er sich nicht mehr so sicher.
Einige Zeit später trat Hauptmann Antonius an sein Bett, den Helm hatte er abgenommen, sein einzelnes Auge schaute müde und traurig auf Markus herab.
»Wie geht es Ihnen, Soldat?«, fragte er.
»Es geht, denke ich. Schmerzt noch, aber es wird wieder, Herr Hauptmann.«
»Das ist schön zu hören. Sie haben einen Höllenkampf hinter sich. Dabei haben Sie alle Erwartungen bei weitem übertroffen. Ich bin stolz auf Sie, stolz darauf, dass Sie in meiner Klasse waren und gleich solch eine Leistung vollbracht haben.«
»Danke, Herr Hauptmann.«
»Aber ich bin nicht nur hierher gekommen, um Ihnen das zu sagen.«
Markus hob seine Augenbrauen, das machte ihn neugierig.
»Ich war beim Generalstab«, erklärte Antonius, »und habe den werten Herren eine Spezialmission vorgeschlagen, eine, die den Lauf dieses Krieges verändern könnte. Sie haben, nach einer ausführlichen Diskussion, zugestimmt.«
»Um was geht bei dieser Spezialmission?«, fragte Markus aufgeregt. Er konnte sich denken, worauf dieses Gespräch hinauslief.
Antonius lächelte, der Junge schien gleich Feuer und Flamme dafür zu sein, obwohl er doch gerade erst eine blutige Schlacht hinter sich hatte. Aber auf der anderen Seite spürte er eine gewisse Traurigkeit. Krieg, Krieg, immer nur Krieg. Es wurde Zeit, daran etwas zu ändern. Damit niemand mehr so leben musste.
»Ich stelle ein Team zusammen. Wir marschieren zur Basis des Feindes und zerstören sie.«
»Und wer soll Teil dieses Teams sein?«
»Nun … ich dachte an die übriggebliebenen Kadetten, von denen noch vier leben. Und einer von denen … sind Sie.«

Nachdem Markus sich wieder erholt hatte, begannen auch schon die Vorbereitungen für die Spezialmission. Antonius bestellte ihn und die drei anderen Überlebenden in sein Büro, um den Plan näher zu erläutern. Auf seinem Tisch lag eine Karte der Umgebung.
»Damit das klar ist: Wir haben einen nur einen einzigen Versuch bei diesem Unternehmen. Entweder wir schaffen es oder wir gehen alle drauf, das sind die Optionen, die wir haben. Verstanden?« Er schaute in die Augen seiner ehemaligen Schüler, ihre Gesichter waren nun viel härter als noch vor drei Monaten. Verschwunden war das frühe Knabendasein. Niemand widersprach ihm.
Neben Markus waren noch Aurelius, der sich während der Ausbildungszeit am meisten für Entomologie interessierte (nebenbei war er der einzige Brillenträger der Gruppe); Virgil, der in seiner Freizeit gerne Gedichte schrieb, um die Trostlosigkeit des Komplexes etwas zu mildern; und Augustus, der sich besonders während der Ausbildung im Umgang mit Sprengstoff und Granaten profiliert hatte. Zusammen mit Antonius waren sie das Spezialteam, ein Stoßtrupp in eine mögliche neue Zukunft.
»Unser Ziel klingt erst einmal relativ simpel«, erklärte der Hauptmann. »Wir begeben uns zur gegnerischen Festung, die ungefähr fünfzig Kilometer von uns entfernt liegt, das sind vielleicht zwölf, wenn es gut läuft zehn Stunden Fußmarsch. Wir werden eine einzige Pause einlegen, nicht mehr. Es sind aber auch fünfzig Kilometer durch Niemandsland. Seit Jahrhunderten hatte kein Mensch mehr diese vergifteten Böden betreten. Wir werden die ganze Zeit über Gasmasken tragen müssen. Schafft ihr das?«
»Ja, Herr Hauptmann«, riefen sie im Chor.
»Wir werden die Schwachstellen ausfindig machen, dort den Sprengstoff anbringen, die Explosion auslösen und dann der Menschheit Frieden bringen … zumindest für ein paar Jahrhunderte. Habt ihr das verstanden?«
»Jawohl, Herr Hauptmann!«
»Gut, dann lasst uns keine Zeit verlieren.«

In aller Frühe packten sie ihre Sachen, nahmen ein wenig Proviant, Waffen und genug Sprengstoff mit, um den Komplex hochzujagen. Die Rucksäcke waren bis zum Erbrechen hin voll und dementsprechend auch schwer, doch das sollte die jungen Soldaten nicht stören.
Sie zogen ihre besten Uniformen an, Antonius trug sogar seine zeremonielle Kleidung. Wenn sie schon in den sicheren Tod marschierten, dann wenigstens würdevoll. Die vier ehemaligen Kadetten waren sich sicher, dass sie niemals wiederkommen werden. Sie verabschiedeten sich von ihren Müttern und Vätern, die sie mit Tränen aber auch Stolz in den Augen anblickten. Sie wussten, dass ihre Kinder sich für ein höheres Wohl opferten.
Bei ihrer Abreise bekamen sie alle Ehren. Siebentausend Soldaten, Arbeiter und Bauern standen in Reih und Glied, sie kamen von der Luftwaffe, vom Heer, von der Militärpolizei, von den Mechanisten, von den Pilzfeldern, aus den Fabriken, von den Schweinefarmen, aus den tiefsten und höchsten Ebenen des Komplexes, und salutierten. Fanfaren und Trompeten begleiteten den kleinen Stoßtrupp, sie spielten gar die alte Hymne. Auch der Generalstab war anwesend, alle sieben Mitglieder. Einige von ihnen machten eine verdrießliche Miene, denn sie glaubten nicht an den Erfolg dieses, in ihren Augen, närrischen Unternehmens. Trotzdem zeigten sie den fünf Männern gebürtigen Respekt, auch wenn sie direkt in ihr Verderben marschierten.
Die Tore öffneten sich langsam und der Stoßtrupp bewegte sich in geordneten Schritten nach draußen, Hauptmann Antonius an der Spitze, sein Mantel wehte im staubigen Wind, dann kamen Markus, Virgil, Aurelius und zum Schluss Augustus. In diesem Moment verkörperten sie Helden aus alten, antiken Zeiten, die zu ihrer bisher größten und schwersten Schlacht marschierten. Sie sahen den Tod direkt in die Augen und lachten nur, zumindest waren sie davon überzeugt.
Zuerst überquerten sie die neun Kreise, eine gerade Linie mit fünf Kilometer Länge. Als Antonius den letzten Schützengraben überwand, betrat er das Niemandsland und überschritt so den Rubikon. Nun gab es keinen Weg mehr zurück. Wann hatte zuletzt ein lebender Mensch diesen verfluchten Boden, wo keine grüne Pflanze mehr wuchs, betreten? Unter ihren schweren Stiefeln war die staubige Erde, über ihnen der glutrote Himmel, unter dem nichts als Asche blühte.
In der Ferne sah Markus die feindliche Basis, fünf Türme, die sich in die hohen Lüfte bohrten, wie die Kralle eines toten Titanen, erschlagen vor Urzeiten, vergraben unter Unmengen von Dreck, verschüttet, doch niemals vergessen.
In den ersten sechs Stunden ihres Marsches sagte keiner der Männer einen Ton, denn es gab nichts zu besprechen und die Landschaft war öde. Sie starrten eisern geradeaus, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Bald begann sich der Boden unter ihren Füßen langsam zu senken und sie kamen in ein Tal. Dort machten sie eine bemerkenswerte Entdeckung: eine Ruine der alten Zivilisation! Erstaunt blieben die Männer vor den Überresten des Gebäudes stehen, denn noch nie hatten jemand von ihnen so etwas gesehen. Woher denn auch? Sie kannten nur den Komplex mit seinen endlosen Gängen und dem eintönigen Grau. Es war ein Wunder, dass dieses Bauwerk, zumindest in Bruchstücken, noch existierte. Ehrfürchtig standen sie vor der Ruine. Virgil war der Erste, der es wagte, zu sprechen.
»Das muss eine Kirche sein«, sprach er mit seiner leisen, fast schon singenden Stimme.
»Woher weißt du das?«, fragte Augustus.
»Ich habe vor einigen Jahren mal ein Foto in einem alten Buch von dieser Art von Gebäude gesehen. Es diente damals als Gebetshaus. Die Menschen dachten, dass sie damit Gott näherkommen würden. Sie nannten es auch ›Gottes Burg‹. An bestimmten Tagen strömten sie hinein und hörten die Predigen von Gelehrten in der Schrift Gottes. Sie beteten vor Kreuzen und Bildern, versuchten so in Kontakt mit dem Schöpfer zu kommen. Und in Krisenzeiten dienten die Kirchen als Zufluchtsort, denn die Menschen glaubten, dass das ›Haus Gottes‹ sicher vor allen Gefahren sei.«
»Dann werden wir hier unser Lager aufschlagen«, sagte Antonius knapp.
Die fünf Soldaten betraten langsam das alte Gebäude, von dem nicht mehr viel übriggeblieben war. Das Dach fehlte, die Mauern waren eingefallen, die Fenster zerschlagen. Einst mochte es prächtig ausgesehen haben, aber diese Zeiten waren vorbei, doch es bot noch immer einen gewissen Schutz.
In der Kirche waren verfallene Bänke und verrostete Türen, geradezu vom Eingang aus gesehen, befand sich ein Altar, auf dem unbekümmert ein goldenes Kreuz stand, das letzte Überbleibsel einer alten Ära.
Die Gruppe setzte sich um das Relikt herum hin. Sie verteilten Wasser und Proviant, jeder aß und trank ein wenig. Bald brach die Dunkelheit über sie ein, der rote Himmel verschwand, verdrängt von einem schwarzen Nichts.
Virgil zündete ein paar Kerzen an, das orange Licht tauchte seine Kameraden in flackernde Schatten.
»Unter der Schwarzen Sonne blüht nichts als Asche«, flüsterte er, »doch wir tragen den Samen der Hoffnung, aus dem der Baum des Lebens wachsen wird.«
Leise begann Virgil mit gedämpfter Stimme zu singen:

»Stoßtrupp marschiert in Feindesland,
Und singt ein Lied vom Tod.
Ein Schütze steht am Grabesrand,
Und leise summt er mit.

Wir pfeifen auf Unten und Oben,
Und uns kann die ganze Welt,
Verfluchen oder auch loben,
Grad wie es ihnen gefällt.

Wo wir sind, da geht’s immer vorwärts,
Und der Tod der lacht nur dazu!
Ha, ha, ha, ha, ha!
Wir kämpfen für die Menschheit,
Der Freiheit zur Ehre,
Der Feind kommt nie mehr zur Ruh.

Der Trupp kämpfte schon in mancher Schlacht,
Im Nord, Süd, Ost und West.
Und steht nun zum Kampf bereit,
Gegen die Insektenpest.

Der Trupp wird nicht ruh’n, er wird vernichten,
Bis niemand mehr stört der Menschheit Glück.
Und wenn sich die Reihen auch lichten,
Für ihn gibt es nie ein Zurück.

Wo wir sind, da geht’s immer vorwärts,
Und der Tod der lacht nur dazu!
Ha, ha, ha, ha, ha!
Wir kämpfen für die Menschheit,
Der Freiheit zur Ehre,
Der Feind kommt nie mehr zur Ruh.
«

Die Stimme Virgils hallte in den toten Gemäuern der Kirche und drang bis in die Schwärze der Nacht. Die vier anderen Soldaten summten leise die Melodie mit. Als die letzten Stücke des Refrains langsam verklangen, fragte Augustus: »Hast du das selbst geschrieben?«
»Ja, kurz bevor wir abreisten. Ich hatte einen seltsamen Traum, als ich verwundet im Krankenhausbett lag und da hörte ich eine Stimme, die schönste, die ich je vernahm, und sie sagte mir diesen Text oder zumindest Bruchstücke davon, so genau kann ich mich gar nicht mehr daran erinnern.«
»Das klingt sehr schön«, entgegnete Augustus. »Ich wünschte, es würde mehr davon im Komplex geben. Mehr Gedichte, mehr Lieder, mehr … Keine Ahnung, ich habe das Gefühl, dass uns etwas fehlt.«
»Eine Gesellschaft, die sich im Krieg befindet, kann sich solche Freiheiten nicht leisten. Alles was nicht essentiell ist, muss entfernt werden. Deswegen marschieren wir hierher, um unserer Heimat den Frieden zugeben, die Möglichkeit sich zu heilen«, erklärte Antonius.
Aurelius warf ein: »Das habe ich mich schon öfters gefragt … Wofür kämpfen wir eigentlich? Wofür werfen wir uns immer und immer wieder gegen die gegnerischen Horden? Wofür verheizen wir eine Generation nach der nächsten?«
»Um zu überleben, um den nächsten Tag zu erleben«, antwortete Markus.
»Ja, aber … das reicht doch nicht. Ich will nicht nur überleben, ich will … Ich weiß es nicht. Ich kenne nichts anderes als den Komplex, als Krieg, als diesen endlosen Kampf. Mein Vater … er starb bei seiner dritten oder vierten oder fünften Schlacht, ich weiß nicht einmal mehr welche. Meine Brüder sind auch bereits tot, alle gefallen.«
Der Hauptmann legte eine Hand auf die Schulter von Aurelius. »Ich verstehe dich. Ich verstehe auch Augustus. Jeden Tag habe ich dieselben Gedanken. Jeden Tag frage ich mich, wofür wir kämpfen. Ich habe mehr Schüler und Kameraden im Krieg verloren, als ich zählen kann.« Er holte einen Orden aus seiner Tasche, den ersten den er je erhalten hatte. »Dieses Stück Metall … Es ist wertlos. Es holt nicht meine Freunde von den Toten zurück und beendet nicht diesen Krieg. Es ist Zierde, nichts als Deko.« Er stand auf und legte den Orden auf den Altar. »Der Krieg, die Erfahrung in den Schützengräben hat uns alle gleich gemacht, davon bin ich noch immer fest überzeugt, aber wir haben auch etwas dabei verloren. Seht euch doch an, ihr seid nichts als wandelnde Leichen. Blass, unterernährt.« Antonius drehte sich zu den vier anderen Männern hin. »Jeden Tag stehe ich auf und spiele euch die Rolle des strammen Offiziers vor, doch wollt ihr die Wahrheit wissen? Jeden Tag betrinke ich mich, bis ich ohnmächtig werde, nur um dann nachts schreiend und weinend wach zu werden … Diese Operation muss gelingen, damit wir endlich alle aus diesem Alptraum aufwachen.«
»Und wenn wir es nicht schaffen? Wenn wir scheitern?«, fragte Virgil.
»Dann wird die Schlange weiter ihren Schwanz verzehren.«
Markus fühlte sich irgendwie nicht mehr so sicher. In seiner ersten Schlacht war er so vom Blutdurst besessen, es war wie im Rausch. Doch als es vorbei war, was blieb davon übrig? Sein ganzes Leben kannte er nur den Komplex, war erfüllt von Kriegsbegeisterung. Jetzt wo die erdrückenden Betonmauern nicht mehr über seinem Kopf waren und er die Ruinen dieser alten Kirche sah, wurde ihm klar, dass etwas in seinem Leben fehlte.
Die Kerzen Virgils erloschen langsam und der Stoßtrupp verschwand in der Dunkelheit.
Am nächsten Morgen machten sie sich wieder auf dem Weg, denn vor ihnen lag noch eine Strecke von fünfundzwanzig Kilometern.
Nach sechs Stunden des schweigenden Wanderns erreichten sie auch langsam den Fuß der fünf Türme. Markus bemerkte sofort, die verstreuten Skelette von rostigen Panzern, die im Boden steckten, Überreste einer verzweifelten Schlacht. Nur Gott allein wusste vielleicht, von wann diese Maschinen waren. Wahrscheinlich stammten sie aus der Anfangsphase des Krieges, damals als es noch besser lief, als die Menschheit noch nicht zwischen Beton eingepfercht war. Die Panzer sahen auch völlig anders aus, als die die sich im Komplex befanden. Er zählte hunderte von ihnen.
»Anscheinend waren die Menschen schon mal weitergekommen«, kommentierte der Hauptmann die Entdeckung.
»Oder sie mussten sich zurückziehen«, entgegnete Augustus.
Die Türme sahen von Nahem noch weitaus beeindruckender und ehrfurchteinflößender aus, sie schienen sich beinahe endlos in den Himmel zu strecken. Markus fragte sich, ob man von oben aus die ganze Welt überblicken konnte.
Der Trupp stand vor einem gewaltigen, torartigen Eingang. Und das war nicht metaphorisch oder allegorisch gemeint, sondern es war wie ein echtes Tor gebaut, das zur Unterwelt führte. Pechschwarze Dunkelheit begrüßte die Gruppe, ein ekelhaft warmer Dunst strömte hinaus. Es war wie das Maul einer urzeitlichen Kreatur.
»Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnungen fahren«, flüsterte Virgil.
Der Hauptmann ließ alle, ungeachtet des finsteren Kommentars des selbsternannten Kriegsdichters, zusammentrommeln, um den Plan zu erläutern.
»Es ist eigentlich ganz einfach. Es sind fünf Türme – und wir sind fünf Personen, ergo jeder kriegt einen, um den er sich kümmern soll.«
»Einzeln? Ich dachte, das wäre ein Teameinsatz«, fragte Aurelius unsicher.
Antonius schüttelte den Kopf. »Das würd zu lange dauern. Alleine sind wir mobiler und können mehr Fläche abarbeiten.«
»Wonach sollen wir denn genau suchen?«, Markus schaute nach oben.
»Wir werden reingehen und versuchen, tiefer zu kommen. Wenn der untere Boden zusammenbricht, sollte der Turm ebenfalls in sich einstürzen und diese Insekten unter sich begraben. Haltet Ausschau nach Schwachstellen in der Struktur. Der Sprengstoff hat eine gewaltige Kraft, er sollte ausreichen.«
»Wie können wir ihn auslösen?« Aurelius sah besorgt aus, er fürchtete die Antwort.
»Das kann ich erklären«, sprang Augustus ein. »Jedes der Pakete in euren Rucksäcken ist miteinander verbünden. Zündet ihr eines, zündet ihr die anderen. Problem ist, man kann es nicht aus der Entfernung machen, es muss per Hand geschehen.«
»Also werden wir hier unser Grab finden?« Eigentlich wusste er die Antwort.
»So ist es, Aurelius. Aber wenn wir es schaffen, wird die Menschheit frei sein. Irgendwelche Widerworte?«
Alle schwiegen, jeder war sich bewusst, was auf dem Spiel stand.
»Gut, dann lasst uns keine Zeit verlieren. Wir sehen uns im nächsten Leben.«
Die Gruppe teilte sich auf, Markus nahm den mittleren Turm und stieg in die dunkle Hölle hinab. Es war ein finsterer Schlund, schon bald holte er seine Taschenlampe hervor, das fahle Licht war kaum hell genug, um die Wände zu beleuchten. Er hörte auch nichts, außer seinen eigenen Atem in der Maske und das unsichere Schlagen seines Herzens.
Doch je tiefer er in den Turm eindrang, desto weniger benötigte er seine Lampe. Die Felswände wurden von dünnen, blauen Fäden durchzogen, die den Pfad leicht erleuchteten. Es reichte so weit aus, dass Markus sehen konnte, wohin er trat. Der Gang wurde mit der Zeit auch immer niedriger, die Decke kam immer näher, der Winkel wurde steiler und steiler, bald begann der junge Soldat zu rutschen, bis er schlussendlich einfach fiel.
Er landete sehr unsanft auf den harten Boden und fand sich in einem unermesslichen Raum nieder. Die schwüle Luft war beinahe unerträglich, das hellblaue Licht erleuchtete die surreal anmutende Landschaft. Mit Erschrecken erkannte er auch, warum es hier so warm und feucht war. Der gesamte Ort war mit Kriegsameisen gefüllt, dicht an dicht gedrängt. Sie schliefen, zumindest sah es so aus. Sie bewegten sich nicht.
Markus schlich leise an ihnen vorbei, versuchte nicht, auf Fühler oder Beine zu treten. Die Angst stand ihm im Gesicht geschrieben. Ein Fehler reichte aus, um die Horde aufzuwecken, und ihn einen grausamen, frühzeitigen Tod zu bescheren.
Entgegen allen Erwartungen schaffte er es den Raum, relativ ohne Probleme zu durchqueren und in einen anderen Gang zu schlüpfen. Es war ein eher ein Schacht, ein Tunnel, die Decke berührte fast seinen Kopf, die Oberfläche war rau und unförmig, nicht so wie die Gänge des Komplexes, die glatt und rechteckig waren. Das blaue Licht wirkte auch viel angenehmer auf die Augen als die nackten Glühbirnen mit ihrem grellen Schein.
Plötzlich hörte er, wie sich kleine Kiesel lösten und hinunterfielen. Sofort schmiss er sich auf den Boden und versuchte, ruhig zu bleiben. Etwas krabbelte an der Decke. Ein fahler, fast schon durchsichtiger Körper. Sechs dünne Beine, keine Augen, schwarze, angebrannt wirkende Mandibeln. Das Ding war kleiner als die Ameisen, die auf dem Schlachtfeld kämpften. Solch ein Insekt hatte er noch nie gesehen. Er konnte sich auch nicht daran erinnern, dass so etwas in der Ausbildung besprochen wurde.
Die Fühler tasteten sorgfältig die Wände ab. Aus der Dunkelheit erschienen noch mehr von diesen merkwürdigen Wesen. Sie schienen bisher keine Notiz von Markus genommen zu haben.
Langsam kroch er voran, den Blick immer auf die Decke gerichtet, wo die bleiche Kolonne stumm marschierte, das einzige Geräusch war das Kratzen ihrer Krallen am Gestein.
Doch Markus wurde unaufmerksam. Seine Hand fiel auf eines dieser Geschöpfe, das am Boden entlang gekrochen war. Das Insekt gab sofort ein zischendes-quiekendes Geräusch von sich, was die anderen alarmierte. Der Soldat spürte, wie etwas auf ihm landete. Er drehte langsam den Kopf und sah, dass mehrere von den Tieren sich auf seinem Rücken befanden. Panik stieg in ihn auf, seine Instinkte übernahmen das Denken. Er sprang auf und rannte los. Der wütende Schwarm folgte ihm, sie wollten diesen Fremdkörper aus ihrem Bau entfernen. Er hörte ihr erzürntes Schreien, hörte ihre Chitinkrallen und das Klicken ihrer Mundwerkzeuge.
Markus rannte um sein Leben, er stolperte, fiel, rollte den Schacht hinunter, stürzte in die Tiefe, verlor seinen Helm und schlug sich den Kopf an einen Stein. Die Lichter gingen aus.
Als er seine Augen wieder öffnete, befand er sich an einem noch merkwürdigeren Ort. Die Wände und der Boden waren grau, viel geometrischer, glatter als in den oberen Bereichen, als hätte sie jemand geschliffen. Nun ähnelte das Zuhause der Insekten mehr dem Komplex. Er sah Treppen über Treppen, die überall und nirgendwo hinführten, manche von ihnen waren kopfüber, andere waren wie Spiralen angeordnet. Das blaue Licht schien nun von oben, die Kammer zu erleuchten. Markus verstand die Welt nicht mehr, er hatte völlig die Orientierung verloren.
Er bemerkte seinen fehlenden Helm, das linke Augenfenster seiner Gasmaske hatte einen Riss, doch was noch viel schlimmer war, dass anscheinend sein Rucksack und seine Waffe beim Abstieg abhandengekommen waren.
»Nein, nein, nein!«, wimmerte er. Er fluchte, schrie und tobte. Soll jetzt alles umsonst gewesen sein? Schmerzen traten ein. Er fasste sich an den Hinterkopf, er blutete.
»Und jetzt? Was soll ich jetzt tun?«, fragte Markus sich selbst. Da er keine andere Möglichkeit sah, entschied er sich, die Gegend näher zu erkunden. Niemand würde ihm glauben, wenn er erzählte, was er sah. Nun, niemand wird das auch jemals hören, es gab schließlich keinen Ausgang, der Weg führte nur tiefer.
Die Architektur beeindruckte ihn, das musste er zugeben. Sie bildete einen starken Kontrast zu den eher primitiv wirkenden Konstruktionen in den oberen Gebieten, die eigentlich nur eine willkürliche Aneinanderreihung von großen Räumen und verzweigten Tunneln waren. Doch das hier … das hier ließ auf einen Plan, auf einen Intellekt schließen. Waren die Insekten doch zu höheren Gedanken fähig? Hatten sie das überhaupt erbaut oder einfach nur übernommen? Wenn sie es gebaut haben, warum sahen die anderen Kammern so primitiv, so animalisch aus?
Er wanderte über endlose Treppen entlang, hinweg über bodenlose Schluchten, betrat Kammern, die anscheinend für Riesen gemacht worden sind. Die Stufen führten ihn zu einem Tor, ähnlich wie das oben am Eingang. Auch hier konnte er intelligentes Design beobachten. Aus irgendeinem Grund musste er an die Kirchenruine denken.
Was ihm aber noch viel mehr verwunderte und stocken ließ, war, dass ein Mann unter dem Torbogen stand. Das Gesicht war hinter einer Gasmaske versteckt, die schon seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt wurde. Der Atemschlauch wickelte sich wie ein überdimensionierter Wurm um den Hals des Fremden. Auf dem Kopf befand sich ein durchlöcherter Stahlhelm. Er trug einen schwarzen, zerfetzten Umhang, der im nicht vorhandenen Wind zu wehen schien, darunter sah Markus einen grauen Staubmantel. Um die Arme war Stacheldraht gewickelt.
Der unbekannte Soldat deutete, ihm zu folgen, und er gehorchte. Es war wie im Traum. Der Fremde verschwand hinter Ecken, jedes Mal wenn Markus dachte, er hätte ihn erreicht, tauchte er am anderen Ende des Ganges wieder auf.
»Warte … Warte doch!«, rief er hinterher, doch der Fremde lief weiter, blieb stumm.
Markus fühlte sich wie in einem Labyrinth, die Gänge wurden schmaler und verwinkelter, alles sah gleich aus, die blauen Fäden wurden stärker, dicker, sie schienen zu pulsieren.
Bald erreichte er eine große Kammer, der unbekannte Soldat war nirgends zu sehen, dafür eine Gruppe von sieben Leute, die sich um einen Altar aus Stein, der sich in der Mitte des Raumes befand, versammelt hatten. Als er näher kam, sah er, dass es sich um Insekten handelte, aber wieder eine Art, die er nicht kannte. Im Gegensatz zu den anderen standen sie aufrecht auf zwei Beinen. Ihre Körper waren pechschwarz, mit Ausnahme eines gelben Pelzes, der auf ihrer Brust und ihrem Hals zu wachsen schien. Gläserne Flügel hingen wie Mäntel an ihrem Rücken herab. Ihre Köpfe waren dreieckig, ihre Augen groß und erfüllt von einer fremden Intelligenz. Sie sagten nichts, traten aber beiseite, und offenbarten so, was sich auf dem Altar befand.
Als Markus es sah, zerbrach etwas in ihm. Dort lag Hauptmann Antonius, die Hände auf die Brust gelegt. Sein ehemaliger Schüler trat heran und fiel auf sein rechtes Knie, erfüllt von einem Instinkt, der älter war als der Komplex, älter als dieser Krieg. Markus küsste den Saum der Uniform und schluchzte, weinte bittere Tränen. Er betrachtete das Gesicht des Offiziers, es lag eine gewisse Ruhe darin. Antonius schien zu lächeln, er war nun frei von den Alpträumen, die ihm so lange schon geplagt hatten.
Zwei der Wachen näherten sich ihm, packten ihn an den Armen und hoben ihn mit Leichtigkeit hoch. Er wehrte sich nicht, es hätte keinen Sinn gehabt, sie waren in der Überzahl und er hatte keine Waffen. Was auch immer sie vorhatten, er ließ es über sich ergehen.
Sie brachten ihn tiefer und tiefer in den Bau, bis sie zu einer Höhle kamen, wo die blauen Fäden sich zu bündeln schienen, wo sie am stärksten waren, manche so dick wie drei Menschenkörper. Das grelle Licht blendete Markus, noch nie hatte er so etwas Helles gesehen.
Sie ließen ihn sanft auf den Boden fallen und als er den Kopf hob, sah er es. Vor ihm befand sich ein gewaltiger Pilz mit unzähligen Lamellenhüten, alle Fäden liefen zu ihm. Er leuchtete und pulsierte, er schien die gesamte Höhle auszufüllen. Er war definitiv größer als der Komplex. Markus hörte auch wieder den ätherischen Chor, den er einst auf dem Schlachtfeld vernahm, doch er verstand es nicht vollständig, vernahm nur Bruchstücke. Das Herz, verbrannt. Im Schmerz, verbannt. Es klang himmlisch, es war der Gesang unzähliger Stimmen, unzähliger Generationen.
Die sieben Wächter knieten vor dem Geschöpf, was weder Fauna noch Flora war.

Markus nahm seine Gasmaske ab und schmiss sie zur Seite. Fäden krochen langsam über seine Haut. Der unbekannte Soldat erschien hinter ihm und legte seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes.
Markus verstand nun. Er wehrte sich nicht mehr, sondern ließ es einfach geschehen.

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