
Die Regenbogenflaggen wehten im Wind. Die ganze Innenstadt war in den endlosen Farbkombinationen der »Pride-Bewegung« gekleidet. Es war »Pride Month«, es war jeden Monat »Pride Month«, doch dieser Monat war etwas besonderes, denn es war der originale »Pride Month«. Juni, um genau zu sein. Und deshalb wurde jedes Jahr im Juni ein großes Fest organisiert. »Pride Inc.« scheute weder Kosten noch Mühen, um die Stadt auf Hochglanz zu polieren. In der letzten Maiwoche waren hunderte von Putzkommandos unterwegs, die jede noch so kleine Ecke von Unrat und Schmutz befreiten. Die Fabriken spuckten im Sekundentakt Regenbogenfahnen aus, um die unersättliche Nachfrage nach dem bunten Stoff zu befriedigen. Der regenbogenfarbene Qualm, der aus den Schloten kroch, war meilenweit zu sehen. Seit einigen Jahren erstrahlten selbst die Regentropfen in den Farben des Regenbogens, die Flüsse und Seen leuchteten in lila, blau, grün, gelb, orange, rot, hellblau, hellrosa, weiß, braun und schwarz. Ein unbeabsichtigter, aber dennoch tolerierter Nebeneffekt.
Das Führungsgremium der »Pride-Bewegung« jubelte, als die Wissenschaftler … Entschuldigung, die Wissenschaftler:innen, das Nichtgendern von Personen galt als Verrat am Staat und an der »Pride-Doktrin«, diese beunruhigende Beobachtung offenbart haben. Das Gremium war völlig außer sich, ihre Gesichter sollen vor Freude förmlich (in Regenbogenfarben?) gestrahlt haben. Sie sahen nicht die möglichen katastrophalen Konsequenzen, die diese eklatante Verschmutzung für Umwelt und Gesundheit der Bevölkerung haben könnte, sondern waren begeistert davon, welch großartige Werbeaktion das war und wie viele Gelder man nun einsparen könnte. Der Chefideologe des Gremiums soll gar gesagt haben: »Selbst die Natur beugt sich dem ›Pride‹. Wenn das so weiter geht, werden die Tiere und Pflanzen von Regenbögen eingehüllt sein. Die Zukunft ist bunt! Ein Hoch auf die ›Pride-Bewegung‹!« Eine der Wissenschaftler:innen, wie jedes Team bestand auch dieses aus einem 5:4:1-Frauen-Alternativgender-Männerverhältnis, wagte es, Bedenken zu äußern, Widerworte zu geben, dem »Pride« zu widersprechen. Ich habe nie genau erfahren, was mit ihr passierte, Gerüchten zufolge soll sie eines Abends von der »Gaystapo« abgeholt und weit außerhalb der Stadt gebracht worden sein. Was mit solchen Dissidenten dann geschah, war niemanden bekannt.
Ich irrte ziel- und sinnlos durch die Stadt, alle Fassaden, alle Straßen, alle Schilder waren mit Regenbögen vollgekotzt, ein gnadenloser Angriff auf meine Augen. Auf den Gehwegen waren Stände aufgebaut worden, die die verschiedensten Waren anboten: »Pride«-T-Shirts, »Pride«-Hosen, »Pride«-Getränkebecher, »Pride«-Tassen, »Pride«-Wimpel, »Pride«-Pullover, »Pride«-Fahnen«, »Pride«-Stofftiere, »Pride«-Babykleidung, »Pride«-Kinderkleidung, »Pride«-Halsbänder für »Pride«-Hunde. Denselben seelenlosen, billig produzierten Müll, den man in den »Pride«-Supermärkten finden konnte, nur mit dem Unterschied, dass er jetzt das Dreifache kostete, aber trotzdem aus denselben Fabriken stammte, die uns alle langsam vergifteten, damit wir an regenbogenfarbenen Krebs sterben konnten.
An einem der Stände gab es Gemüse in allen Farben der »Pride-Bewegung«. Es gab Asexual-Karotten, Transkohlköpfe, Enby-Äpfel, Gay-Blaubeeren und Butchfemme-Aprikosen. Mir wurde beim Anblick dieser Abscheulichkeiten der Natur speiübel. Welche schrecklichen Genexperimente waren vonnöten, um solche Farbkombinationen zu erzeugen? Ich wollte es eigentlich gar nicht wissen.
Die Mitarbeiter:innen waren alle in den Uniformen der »Pride-Bewegung« gekleidet, ein regenbogenfarbenes Hemd wie auch eine regenbogenfarbene Hose. An ihrer Brust hing ein Schild, wo die bevorzugten Pronomen draufstanden. Es gab he/him, she/her, they/them und manchmal gar solch Exoten wie xer/xem und xier/xiem. Es gehörte zum guten Ton, dass man eine fremde Person, bevor man ein Gespräch begann, nach ihren bevorzugten Pronomen fragte. Man wollte schließlich niemanden »misgendern«. Selbst die »Sturmtrupplesben« und die »Gaystapo« fragten einem nach den Pronomen, bevor sie einen mit brachialer Gewalt niederknüppelten. Auf den großen Videowänden wurden am laufenden Band Videos von prominenten Mitglieder:innen (grammatikalisch völlig inkorrekt, doch das spielte schon lange keine Rolle mehr) der »Pride-Bewegung« gezeigt. Es waren Schauspieler:innen, Künstler:innen, Schriftsteller:innen, Sänger:innen, Tänzer:innen, Journalist:innen und irgendwelche semiprominenten Blogger:innen, kurzgesagt: die gesamte kulturelle und intellektuelle Elite der »Pride-Bewegung«. In sehr kurzen Videos, die Aufmerksamkeitsspanne der Jugend sank schließlich rapide, stellten sie irgendwelche Trends und Challenges dar, die gerade im Moment populär waren. Nebenbei priesen sie sinn- und nutzlose Produkte, allesamt gesponsert von »Pride Inc.«. Schön verpackt in humorvollen Memes, die von eifrigen Nutzern der Social Media-Plattform »Proud« geteilt wurden. Die Videos wurden auch dort in Dauerschleife gestreamt. Egal wo man hinsah, man konnte sich dem bunten Lärm nicht entziehen. Die »Pride-Elite« setzte die Trends und die »Pridesumer« äfften sie nach, kopierten und referenzierten ununterbrochen, ein steter Strom an stumpfen, hirnrissigen Content. Ich sah eine Gruppe von Jugendlichen, wie sie die gestreamten Tänze nachahmten. Sie trugen auch alle die regenbogenfarbenen Uniformen, auf manche von ihnen waren die bunten Maskottchen von »Pride Inc.« abgebildet. Aus ihren Mündern plärrten die ständig wiederholten Phrasen und Memes. Ich empfand nichts als Ekel, widerlich. Alles war nur noch hohl, nur noch Oberfläche. Die Menschen waren zu Pfützen mutiert. Es hätte eigentlich alles anders laufen sollen. Die »Pride-Revolution« sollte uns queere Menschen ein Utopia, ein Himmel auf Erden schaffen. Sie hätte uns von der Last der Assimilierung in die gutbürgerliche, cisheteronormative Gesellschaft befreien sollen. Eine großartige Blütezeit war für die queere Kultur versprochen worden. Wir glaubten an die »Freie Liebe« und die »sexuelle Entfaltung«, an die Aufhebung aller Geschlechter. Doch wie immer in der Geschichte kam es anders. Kaum hatten wir nach langen Kämpfen endlich die Macht errungen, schlichen sich langsam die korporativen Parasiten in unsere Organisationen ein, usurpierten unseren Glauben, unsere Werte, unsere Worte und stellten sie auf den Kopf. Sie zogen uns die queere Haut ab und trugen sie als groteske Maske. Plötzlich schlichen sich Begriffe wie »Networking«, »Werbekampagnen«, »politisch korrekt«, »massentauglich«, »vermarktungsfähig« und »Gewinnmaximierung« in unser Vokabular. Am Anfang lebten wir in grenzenloser Euphorie, wir fühlten uns wie die Herrscher einer schönen neuen Welt, doch nach einigen Monaten begann sich Ernüchterung einzustellen. Der Schatten von »Pride Inc.« wurde länger und länger, bald schon hüllte er das gesamte »Führungsgremium« unserer Bewegung ein. Eigentlich hätte ich es kommen sehen müssen, ich hätte etwas tun müssen. Es war meine Aufgabe für die Sicherheit, unserer Queerness zu sorgen. Stattdessen habe ich die Cishets gewähren lassen. Und warum? Aus Sentimentalität? Weil ich die »Vielfalt der sexuellen Identitäten« schützen wollte? Weil ich Angst hatte, dass auch unsere Revolution sich zu einem grässlichen totalitären Monster entwickelte? Wir hätten sie aus unserer Gesellschaft verbannen sollen, besonders die bürgerlichen Kapitalisten unter ihnen, diese nichtsnutzige Plage. Dreh ihnen den Rücken zu und sie beginnen ihre alten Geschäfte weiterzuführen, als wäre nie etwas gewesen. Ich war zu naiv und wohin hat es uns geführt? Repräsentation und Gleichheit waren nur eine Illusion, eine verdammte Lüge, das gesamte »Führungsgremium« bestand nur aus Cishets, die auch noch die Arroganz besaßen, sich als »Allies« zu bezeichnen. Unsere einstige lebendige queere Kultur war tot, geopfert auf dem Altar einer marktverträglichen »Pride-Bewegung« (Trademark). Unsere Gesellschaft stagnierte, Dekadenz war in die Köpfe der Menschen eingedrungen. Unsere stolze Kultur wurde reduziert auf plumpe Massenveranstaltungen, Konsum und »Wokeness«, kontrolliert von der allmächtigen »Pride-Bewegung«, die die geschändete Regenbogenflagge in ihrer ghulartigen Hand fest umklammert hielt. Und an der Spitze dieser bunten Pyramide stand »The Proudest«, ein Cishet-Mann im regenbogenfarbenen Anzug. Führer der »Pride-Bewegung«, Oberhaupt des Führungsgremiums und CEO von »Pride Inc.«. Seine hässliche, unmenschliche Visage thronte über dieses beschissene Amalgam aus Raubtierkonzernen und politisch korrekter Staatsideologie. Ich konnte mich noch an den Tag der Revolution erinnern. Wir stürmten voller Ekstase die korrupten Medienhäuser und Parlamente der uns verhassten Cishet-Elite. Das Gewehr im Anschlag, die regenbogenfarbene Binde am linken Arm. Unsere Augen funkelten wild, die Freude stand uns völlig ins Gesicht geschrieben. Jahrelange Agitation, jahrelange Propaganda, jahrelange Arbeit im Geheimen trugen nun endlich die glorreichen Früchte des Sieges. Was hatten wir erdulden müssen? Verfolgung, Repressionen (legale wie illegale), Mord und Totschlag, das Abtrennen familiärer Verbindungen, die Zurückweisung durch Freund:innen. Wir wurden angesehen, als wären wir Kranke, Degenerierte, psychisch labil. Die Cishets labelten uns als »Kinderschänder«, »Pädophile«, »Vergewaltiger«, »Perverse«, »Sündige«. Sie sagten, wir seien Verbreiter von HIV, von Syphilis und Hepatitis.
Doch nach der »Pride-Revolution« war endlich Schluss damit. Queere Menschen im gesamten Land erhoben sich gegen ihre Cishet-Unterdrücker. Wir zerschmetterten ihre Götzen, zerstörten ihre Statuen, setzen ihre kleinfamiliären Heime in Brand, zerrten ihre Oberhäupter aus der Dunkelheit ins Tageslicht. Bald schon tanzten wir auf der Asche ihres untergegangenen, veralteten Imperiums. Queere Menschen tanzten wie wild und freuten sich, hoben die Banner unserer Bewegung stolz in die Luft. Ich sah Massen von Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Transsexuellen, Non-Binären, Asexuellen, Genderfluiden und noch vielen weiteren sexuellen Identitäten.
Zum ersten Mal in der langen Geschichte der Menschheit war unsere Gesellschaft wirklich bunt und vielfältig. Zum ersten Mal spielten diese ganzen Kategorien, dieses ganze Schubladendenken keine Rolle mehr. Wir waren eins, wir waren »queer« im wahrsten Sinne des Wortes, eine starke und gefestigte Gemeinschaft.
Doch was war davongeblieben? Nichts, nichts als Kommerz und schnöder Marmor. Gläserne Fassaden, die eine billige Kopie des Wortes »queer« im zehnsekündigen, leicht verdaulichen Videoformat präsentierten, garniert mit unnötigen Trends, wo »Pride« und »Queerness« als Ware verkauft wurden. Kaufe heute eine »Pride-Flagge« bei »Pridezone«, verwende den Code »PrideLGBTQIA+« und erhalte ganze zehn Prozent Rabatt!
Wie eine elende Krankheit kroch das Denken in abgeschlossenen Kategorien wieder in unsere Gesellschaft zurück. Unsere Einigkeit, unsere Solidarität verflossen wieder mit jedem neuen Jahr. Die abgerissenen Mauern zwischen den Identitäten wurden wieder aufgebaut. Nicht mehr die »Queerness« allgemein stand im Vordergrund, sondern ob man schwul, lesbisch, bisexuell, trans, enby, fluid, asexuell, agender, intersexuell oder halt »Ally« war. Es kamen neue Kategorien, neue Abkürzungen hinzu: PoC, BIPoC, MtF, FtM, inter, Pangender, Bigender, androgyn, transweiblich (und Transfrau), transmännlich (und Transmann) und so weiter. Die offizielle Abkürzung lautete bald: LGBTIAAgAdFBIPoCMtFFtMitwtmPgBg… mittlerweile füllte sie ganze Wände. Das Wort »queer« war fast vollständig aus dem Sprachschatz der Menschen verschwunden und wurde heutzutage nur noch von der »Alten Garde« der »Pride-Bewegung« benutzt, die aber auch nur noch im Schatten des »Pride« ihr kümmerliches Dasein fristete.
Wir hatten so viel Zeit damit verbracht, diese elendige Kategorisierung, die endlose Fraktalisierung der Identitäten zu stoppen. Doch dann rissen sich die Cishets, die nun unter dem Deckmantel des »Ally« operierten, wieder die Macht an sich und begannen mit der Zersplitterung unserer Bewegung. Die Märkte mussten schließlich erweitert, vergrößert werden. „Gewinnmaximierung“ war oberste Priorität. Und wie erreichte man höhere Gewinne? Man erhöhte die Zahl der möglichen Kunden, erweiterte die Märkte auf neue Konsumenten. Die einzelnen Identitäten wurden nun zementiert und für jede Identität gab es das passende Produkt. Die PR-Abteilung des »Führungsgremiums« leistete großartige Arbeit, die neue, billigproduzierte Ware an die Menschen zu bringen. »Pinker Kapitalismus« in seiner reinsten Form.
Ich machte mich auf den Weg in die Innenstadt, die Menschenmassen begannen sich zu verdichten. Ich befand mich in einem Meer aus regenbogenfarbenen Gewändern. Und alle schwankten wie Zombies die usurpierte Fahne unserer gestohlenen Bewegung.
Vor mir befand sich die Zentrale der Stadt, ein gläserner Turm, der gen Himmel ragte. Dort befanden sich die Schalthebel der Macht, von dort aus sprach das »Führungsgremium« seine Befehle, die im ganzen Land Gehör fanden. Um das Gebäude herum hatte sich eine gewaltige Menge angesammelt, gebannt starrten alle auf einen großen Monitor, der vor dem Haupteingang des »Pride Towers« aufgebaut wurde. Zu sehen war die Visage von »The Proudest«, ein altes, faltiges Gesicht, haarlos wie ein Nacktmull. Wie immer trug er diesen geschmacklosen Anzug in Regenbogenfarben.
Nicht viel war über diesen mysteriösen Mann bekannt. Selbst als ich noch an der Spitze der Bewegung stand, wusste ich nicht viel über ihn. Ich hatte nur gehört, dass er ein Unternehmen namens »Pride Inc.« gegründet hatte, welches sich zum Ziel nahm, queeren Menschen nur die hochwertigsten Produkte anzubieten. Als ich mich aus dem Gremium verabschiedete, nahm er meinen Platz ein und schon bald grölten die Cishets: »Lang lebe The ›Proudest‹! Lang lebe die ›Pride-Bewegung‹!« Das war der Zeitpunkt, ab dem »Pride-Doktrin« und Konzerne verschmolzen und den heutigen Staat bildeten. Das war der Todestag unserer »Queer Nation« und der Beginn unserer Hölle.
Die Augen von »The Proudest« starrten gierig auf die Menge herab, wahrscheinlich sah er in all diesen Menschen nichts weiter als »Kunden« und »Konsumenten«, fette Milchkühe, die er für alle Ewigkeit melken konnte, da er endlich einen Markt gefunden hatte, dem ihm keiner streitig machen konnte, wo nur er das Monopol hatte. Er besaß die politische wie auch die wirtschaftliche Macht. Er war konkurrenzlos.
Seine jährliche Rede war wie immer durchseucht mit hohlen PR-Phrasen und »Gute-Laune-Sprüchen«. Er pries das ständig steigende Bruttoinlandsprodukt, die erzielten Gewinne (die natürlich der Bevölkerung zugutekommen werden), die fünfzigprozentige Steigerung an Investitionen, die vielen neuen Wohnungen, die ausgebaute Infrastruktur, die stetig sinkende Kriminalitätsrate. Er lobte die Arbeit der vielen Sicherheitsapparate, der Mitarbeiter:innen von »Pride Inc.« und des »Führungsgremiums«. Er vergaß, aber auch zu erwähnen, dass die Schere zwischen Arm und Reich von Jahr zu Jahr wuchs und wuchs, dass die »Gaystapo« immer brutaler durchgriff, dass so viele Dissidenten verschwanden, dass die oberen Positionen in der Gesellschaft nur Cishets vorenthalten waren. Er ignorierte die zunehmende Zerstörung unserer Umwelt und die immer gewaltiger werdenden Fälle von Seuchen und Erbgutschäden. Er sprach nicht von der Ausbeutung in den Fabriken oder das Niederregnen von Bomben auf fremde Länder, die nicht unsere »Werte« teilten. Doch Tatenlosigkeit und Jammern half auch nicht weiter, es war Zeit, etwas zu unternehmen. Dieses groteske Theater musste endlich beendet werden. Ich konnte das nicht mehr länger ertragen. Es wurde Zeit, dass ich mich wieder mit der »Alten Garde« traf, um diesen Wahnsinn zu stoppen. Ich drehte der Menge, die noch immer an den Lippen von »The Proudest« hing, den Rücken zu, schlüpfte durch mehrere dunkle Gassen, bis ich den vollgepackten Innenteil der Stadt hinter mir gelassen hatte. Die Glastürme verschwanden und machten einfachen Wohnblöcken Platz. Das waren die versprochenen »neuen« Wohnungen. Graue Zementblöcke in Regenbogenfarben angestrichen. Die Fassade begann zu bröckeln. In einer unbewachten Ecke gab es ein kleines Café, wo sich häufig die »Alte Garde« traf. Ich betrat das schlecht beleuchtete Etablissement. An der Bar stand ein gelangweilter Kellner, der lustlos den Tresen polierte. In der linken Ecke saßen drei Leute an einen Tisch, in der rechten befanden sich zwei auf der Couch und küssten sich intensiv. Als ich in der Tür stand, hoben sie alle den Kopf und sahen zu mir, selbst das homosexuelle Pärchen. Plötzlich war der Kellner von Leben erfüllt, eilte zu mir, schüttelte meine Hand, schaute nach draußen und schloss dann die Tür. Er war ein Transmann, einst Mitglied des alten »Führungsgremiums«, wo er wirtschaftliche Fragen behandelte. Er verließ noch vor mir das Gremium. Die drei aus der linken Ecke standen ebenfalls und kamen zu mir. Da war Jess, ein Bisexueller, Experte für militärische Fragen. Er wurde rausgeschmissen und für zehn Jahre inhaftiert, nachdem er drohte alle Cishets im »Führungsgremium« zu exekutieren, ein echter Hardliner. Vin, Asexueller, kümmerte sich damals um Agrarwirtschaft. Verlor seine Position nachdem »Pride Inc.« die Nahrungsmittelproduktion monopolisierte und es keine Verwendung mehr für ein »Führungsmitglied für Agrarfragen« gab. Zuletzt war da noch Karter, Transfrau. Sie war nicht im »Führungsgremium«, aber sie spielte eine wichtige Rolle in der »Pride-Revolution«, wo sie die Truppen erfolgreich koordinierte. Die zwei homosexuellen Herren auf der Couch hießen Antonio und Vladimir, ehemalige Gründungsmitglieder der »Gaystapo«. Sie waren unzufrieden mit den Entwicklungen der Geheimpolizei. Wir hielten sie zuerst für Spitzel und beäugten sie misstrauisch, doch bald wuchsen sie uns ans Herz. Sie waren nicht gerade die hellsten, aber dafür tapfere Männer der Tat. Und dann war da noch meine Wenigkeit: Frédérique, non-binär. Vordenker der »Pride-Bewegung«, ursprünglich dazu prädestiniert die »Queer Nation« anzuführen, gleichzeitig zuständig für die Sicherheit der queeren Menschen. Doch es verlief alles anders als geplant. Zusammen waren wir die »Alte Garde«, oder zumindest was davon noch übrig war. Der harte Kern, der überlebt hatte. Andere Gardisten waren tot, inhaftiert oder von der Bildfläche verschwunden. Wenige hatten sich »The Proudest« und seiner »Pride-Doktrin« unterworfen, doch auch sie gab es. Sie hatten sich mit der neuen Realität abgefunden. Etwas, was wir nie akzeptieren konnten. Die Gruppe scharte sich um mich, ihre einst toten Augen funkelten mit neuer Lebenskraft. Sie schauten mich an und warteten darauf ab, was ich zu sagen hatte. Seit einiger Zeit war ich schon nicht mehr hier gewesen, trotzdem hielten sie mir noch die Treue. Auch wenn ich sie damals enttäuscht hatte. »Ich habe einen Entschluss gefasst«, sprach ich mit fester Stimme. »Wir werden eine letzte große Tat begehen.« »Wie lautet dein Plan?«, fragte Jess. Kein Zögern, kein Zweifeln. Ich bewunderte ihn schon immer für seine Direktheit. Er hätte das Zeug zum Anführer gehabt, wenn er seinen Blutdurst in Schach halten könnte. Die anderen nickten zustimmend. Ich schaute zu Karter: »Hast du noch das kleine Sportflugzeug?« »Ja, es steht am Flugplatz, versteckt in einer Garage. Bin schon lange nicht mehr damit geflogen. Wieso?«, fragte sie. »Heute Abend werden ›The Proudest‹, das ›Führungsgremium‹ und die Anführer der ›Gaystapo‹ und der ›Sturmtrupplesben‹ gemeinsam eine große Rede auf einer Bühne auf dem ›Pride Plaza‹ halten. Die gesamte Spitze der Pyramide wird anwesend sein, in der vordersten Reihe wird die kulturell-intellektuelle Elite sitzen. Alle, ohne Ausnahme. Ihre Abwesenheit könnte als Verrat empfunden werden. Sie werden sich in Sicherheit wiegen. Wer sollte sie auch angreifen? Alle Dissidenten wurden ausgeschaltet und die Veranstaltung wird von Schutztruppen und Geheimpolizei gesichert. Aber sie werden keinen Angriff aus der Luft erwarten.« »Du bist wahnsinnig«, flüsterte Vin. »Ich find das gut«, entgegnete Jess. Auch Antonio und Vladimir lächelten zustimmend. Wie lange warteten sie schon darauf, dass jemand ihren alten Arbeitgeber auslöscht? Ich wandte mich wieder an Karter: »Du hast nicht zufällig noch die alten Sprengstoffvorräte, oder?« »Ist der Papst katholisch? Ich dachte schon, ich müsste die entsorgen.« »Das wäre blanker Selbstmord«, wandte der Kellner ein. »Ja, das ist es. Aber es ist auch eine einmalige Chance. Diese eine Tat könnte das ganze Kartenhaus zum Einsturz bringen«, erklärte ich. »Und wer fliegt das Ding?«, fragte Vladimir. »Ich, natürlich.« Alle richteten ihre Augen auf mich. »Wieso ausgerechnet du?«, wollte Vin wissen. »Weil ich etwas gut zu machen habe. Es ist mein Verdienst, dass wir überhaupt uns in dieser Lage befinden. Ihr werdet zurückbleiben, irgendjemand muss die Revolution neu entfachen. Nach dem Attentat wird Chaos herrschen, das werdet ihr ausnutzen. Diesmal bringen wir es zu Ende. Für die ›Queer Nation‹!« »Für die ›Queer Nation‹!«, riefen sie alle. »Nun denn«, warf der Kellner ein, »wollen wir ein letztes Mal alle gemeinsam etwas trinken? Die Getränke gehen selbstverständlich aufs Haus!« Wir saßen alle zusammen am Tisch, tranken Schnaps (illegal, Alkohol war verboten worden – es sei denn, man wollte das Regenbogenbier von »Pride Inc.« mit 0,1 Prozent trinken), erzählten alte Geschichten und Witze, wir lachten und weinten. Ein letztes Mal lebte die »Alte Garde« auf. Für einen kurzen Moment fühlte es sich an wie in vergangenen Tagen. Doch dann wurde es Zeit, zur Tat zu schreiten. Ich trank mein Glas aus und erhob mich, Karter tat es mir gleich. Sie begleitete mich zum Flugplatz, wo der Flieger stand. Eine kleine, hübsche Maschine im schlichten Weiß. Wir luden den Sprengstoff hinein. Ohne Vorwarnung stürmte plötzlich eine Gruppe von muskulösen Männern in regenbogenfarbenen Uniformen und Militärkappen auf uns zu, in den Händen hielten sie Pistolen. »Gaystapo«, verdammt. Es war eigentlich klar, dass radikale Pläne niemals unentdeckt blieben. Es war wahrscheinlich kein Verrat, wir waren einfach nur unachtsam. Karter wandte sich mir zu: »Steig ein!« »Und was machst du?«, fragte ich. Sie drehte sich um, kramte in einer Kiste und holte eine alte Maschinenpistole hervor. »Es wird Zeit, diesen Arschlöchern einzuheizen! Wir haben viel zu lange nur zugeschaut.« Die »Gaystapo«-Männer kamen immer näher. Ich konnte sechs Stück erkennen. »Du fliegst los. Ich beschäftige sie hier.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, außer: »Danke.« »Kein Ding. Versprich mir nur, dass du diese Bastarde in die Hölle schickst! Lange lebe die ›Queer Nation‹!« »Das werde ich, darauf kannst du dich verlassen. Lang lebe die ›Queer Nation‹!« Sie nickte zustimmend. Ich startete den Motor und fuhr aus der Garage heraus. Ich sah die erstaunten Gesichter der Geheimpolizisten. Für einen Moment waren sie vor Überraschung gelähmt, die Chance nutzte ich. Aus dem Augenwinkel erblickte ich, wie Karter mit wutentbranntem Gesicht, ihre Maschinenpistole abfeuerte. Die »Gaystapo«-Männer brachten sich in Sicherheit, begannen aber bald das Feuer zu erwidern. Meine Maschine entgegen hob sich in den Himmel und entfernte sich vom Geschehen. Ich war nun mit meinen Gedanken allein und fühlte eine gewisse Leere in meinem Inneren. Alles ging nun zu Ende. Die Pyramide wird einstürzen. Ich werde meine Freunde und Kameraden zurücklassen. Ich werde nicht mehr sein. Doch ich empfand weder Trauer noch Bedauern bei den Gedanken, es war alles für die »Queer Nation«, alles für die Revolution, und da mussten manchmal auch Opfer gebracht werden. Das einzelne Individuum war im Vergleich zum großen Ganzen, im Vergleich zur historischen Sache, nichts. Ich atmete tief ein und befreite mich von jeglichen emotionalen Ballast, trennte die Verbindungen zwischen mir und den Menschen, die ich kannte und liebte, entfernte mich von allen moralisch-ethischen Ablenkungen. Ich akzeptierte die Leere in mir, denn in ein paar Minuten werden ich und dieses ganze degenerierte, verfaulte System nicht mehr sein. Einige Augenblicke später erreichte mein Flugzeug die Stadt. Unter mir sah ich ein Meer aus Regenbogenfahnen, die Paraden waren im vollen Gange. Ich sah den »Pride Plaza« und darauf die Bühne, wo sich »The Proudest«, das »Führungsgremium« und die paramilitärischen wie geheimpolizeilichen Führer:innen versammelt hatten, ein regenbogenfarbener Schiss. Ich wusste, dass in den ersten Reihen die gesamte kulturelle Elite saß. Alles, was Rang und Namen hatte, war anwesend, die gesamte Unterhaltungsbranche, die die Köpfe der Menschen mit ihren stumpfen, postpostmodernen Unfug vergifteten. Alles wird einstürzen, alles wird verschwinden. Aus der Asche werden wir emporsteigen und uns unsere Kultur, unsere Lebensweise zurückerobern.
Ich schloss die Augen und drückte den Steuerknüppel nach unten. Der Sprengstoff im Flugzeug sollte ausreichen. Und wenn nicht, dann wird zumindest die Krebszelle, die unsere Gesellschaft befallen hat, der innere Zirkel, vernichtet werden.
Manchmal wird ein reinigendes Feuer benötigt, um einen kranken Körper zu heilen.