Akitsaws

Eines Tages erschien sie einfach am Himmel, wir wussten nicht, womit wir dieses Schicksal verdient hatten. Es gab keine großen Vorankündigungen, keine lärmenden Posaunen, getragen von ätherischen Engelwesen. Keine Spatzen, die hinabstürzten und leblos am Boden lagen. Keine Köter, die winselten und im Kreis liefen. Keine seltsamen Wolkenformationen, wobei einer der Alten einen Totenkopf am Firmament gesehen haben soll, aber ich kannte den Kerl, der fing schon morgens mit Saufen an und mittags lag er schnarchend auf der Straße, auf sein Wort war daher nicht wirklich Verlass. Er war auch überzeugt davon, dass seine Frau von Außerirdischen entführt worden war, dabei hatte sie einfach nur ihre Sachen gepackt und war aus der Stadt verschwunden. Das konnte ihr niemand übel nehmen. Ihr Mann war nüchtern wie betrunken unerträglich.
Und seit diesem Ereignis war es nicht besser geworden. Im Gegenteil, wie ein übles Krebsgeschwür hatte sich eine Psychose in der Stadt ausgebreitet und von allen Besitz ergriffen. Ein jeder war nun wie dieser betrunkene alte Mann, geistesgestört, wahnhaft. Von Tag zu Tag wurde es schlimmer. Aber gut, es war auch für uns alle eine Welt zusammengebrochen, da konnte man schon mal durchdrehen. Wie viele Krankheiten breitete es sich langsam aus und als wir es bemerkten, war es schon zu spät. Waren wir selbst schuld daran oder hatte dieses unmögliche Ding es verursacht?
Ich kann es von meinem Studierzimmer aus sehen, wie es über dem Berg schwebt, es scheint sich direkt in der Mitte des Fensters zu befinden. Der Anblick bereitet mir noch immer Furcht. Aber wie soll man denn sonst reagieren, wenn aus dem Nichts am Himmel eine riesige schwarze Swastika erscheint? Es heißt, jeder habe ein Fenster, wo dieses Ding zentriert zu sehen ist, so als wären alle Häuser auf die Swastika ausgerichtet.
Die Wohnungstür war abgeschlossen, die Fenster verriegelt. Ich habe mich in dieses Zimmer, dieses kleine Zimmer, wo ich die meiste Zeit meines Studiums über verbracht habe, zurückgezogen, um diese Chronik hier zu verfassen. Vielleicht können Leute von außerhalb dann verstehen, was hier passiert war, vielleicht können sie Antworten daraus ziehen … oder es wird nur noch mehr Fragen aufwerfen. Auf jeden Fall möchte ich meinen letzten Beitrag leisten, um wenigstens für etwas Klarheit zu sorgen, bevor alles den Bach hinunterläuft. Denn ich kann die Zeichen an der Wand schon deuten, bald wird alles vorbei sein und niemand wird mehr darüber berichten können. Soll dieses Zeugnis hier überleben.
Wie ich anfangs bereits schrieb, passiert es einfach ohne Vorankündigungen vor genau … Eigentlich weiß ich es gar nicht mehr, es kann sein, dass dieser Vorfall bereits vor zwei Monaten geschah, plus minus ein paar Wochen. Es wird immer schwieriger, Zeit richtig zu messen. Die Uhren hatten schon lange aufgehört, zu ticken. Die Tage fühlen sich unterschiedlich an, aber das kann auch ein rein subjektives Empfinden sein. Wobei Zeit immer subjektiv ist, aber das nur am Rande.
Es passierte an einen Donnerstag, um sechzehn Uhr, wenn ich mich richtig erinnere. Ich saß in meinem Zimmer und schrieb über meine Mongolienreise, von der ich erst kürzlich zurückgekommen war, da hörte ich plötzlich Schreie auf der Straße. Ich schaute von meinem Schreibtisch und erschrak, denn da sah ich sie: eine riesige, auf dem Balken stehende Swastika, pechschwarz, sie schien keine Tiefe zu besitzen, wie ein Abdruck.
Sirenen ertönten, mehr Schreie und verwirrte Rufe waren zu hören. Sofort wurde eine Notversammlung einberufen, die Menschen strömten in Massen in die Turnhalle (eine richtige Versammlungshalle gab es nicht und das Rathaus war einfach zu klein), so viele Leute waren nicht mehr bei einer politischen Zusammenkunft angetreten, seit der Diskussion um den Abriss der Grundschule … und selbst da war nicht einmal die Hälfte von denen erschienen, die jetzt anwesend waren.
Die Vorsitzenden der Stadtversammlung und der Bürgermeister versuchten, die Menschen zu beruhigen, doch vergeblich, sie alle sprachen durcheinander, riefen und brüllten, diskutierten, schrien sich gegenseitig an. Ich sah Familien mit weinenden Kindern, Alleinstehende, Jugendliche, Rentner und Vorpensionierte. Es waren mindestens dreihundert Menschen anwesend, draußen waren noch mehr, die Polizei versuchte, Ordnung zu schaffen. Nur mit Mühe, Not und ein bisschen Geschubse konnte ich mir drinnen einen Platz ergattern. Niemand achtete auf mich, schließlich galt ich nur als der verschrobene, komische Schriftsteller, der es zu zweifelhaften Ruf gebracht hatte. Zumindest konnte ich ein paar meiner Werke bei namhaften Verlagen veröffentlichen. Es brachte zwar kaum Geld ein, da diese raffgierigen Bücherkrämer ungefähr zweiundneunzig Prozent des Gewinnes für sich beanspruchten, aber das spielt jetzt alles keine Rolle mehr.
Einer der Vorsitzenden schlug ständig mit einem Hammer auf den provisorisch aufgestellten Tisch und schrie: »Ruhe! Ruhe!«, doch niemand hörte zu, alle waren zu aufgeregt. Erst als der örtliche Wachtmeister auf der ›Bühne‹ erschien und ein Lufthorn betätigte, kam langsam Ruhe ein.
Der Bürgermeister sah wie ein gebrochener, alter Mann aus – faltiges, graues Gesicht, tiefe Augenringe, schütteres Haar. Dabei war das Phänomen erst vor ein paar Stunden aufgetreten, mir war gar nicht bewusst, dass sich ein Mensch so schnell verändern kann. Der Herr befand sich bereits in den Sechzigern und in diesem Moment merkte man ihn sein Alter an.
Mit einem lauten Seufzen erhob er sich von seinem unbequem wirkenden Stuhl, mit brüchiger Stimme begann er zu sprechen. Seine Augen zitterten, ebenso wie seine Hände und seine Lippen. Der Mann stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich verspürte Mitleid mit ihm, in seinen Schuhen wollte wohl niemand in diesem Moment stecken.
»Verehrte Gemeinde, ich kann verstehen, dass Sie alle aufgebracht sind, die Situation scheint ja doch, ähm, sehr … ähm, außergewöhnlich zu sein, wir versuchen, versuchen die Situation … die Situation wieder Kontrolle zu bringen, aber das ist … Wie soll ich das sagen, ach, ähm, sehr schwierig …« die Worte kamen stolpernd aus seinem Mund, es war eine Blamage. Es tat mir richtig weh, diesen alten Mann bei seiner undankbaren Aufgabe so sehr scheitern zu sehen.
Die Tragödie hielt nicht lange an, jemand aus dem wütenden Publikum, ich konnte nicht erkennen, wer es war, dafür waren einfach zu viele Menschen anwesend, warf einen Stuhl und traf damit den Bürgermeister mitten am Oberkörper, wodurch er mit einem abgeschnittenen Schrei auf dem Boden fiel. Sofort brach ein Tumult los. Es war, als wären die Tore der Barbarei aufgestoßen worden. Die Menschen prügelten aufeinander ein, schrien sich an, es war wie im Affenhaus. Ich schlich leise davon, es gab für mich nichts mehr Interessantes zu holen. Draußen warteten unzählige Bewohner, auf ihren Gesichtern standen die Sorge und die Furcht förmlich geschrieben. Es war eine gewaltige Menge, die sich versammelt hatte, wahrscheinlich war die gesamte Stadt hier.
Die riesige Swastika klebte noch immer am Himmel, daran hatte sich nichts geändert. Sie war von dem ganzen beginnenden Wahnsinn völlig unbeeindruckt. Wie ein desinteressierter Gott schaute sie auf uns hinab.
Auf den Straßen standen einige Menschengruppen, ich sah ein paar bekannte Gesichter. Sie alle starrten ungläubig nach oben, machten Fotos, Videoaufnahmen, zeigten mit dem Finger darauf, als ob einige das Ding noch nicht gesehen hätten oder erkennen können. Es war nicht zu übersehen. Man hätte schon unter einem Stein leben müssen, um den ganzen Trubel hier zu verschlafen.
Erstaunlicherweise gab es zu diesem Zeitpunkt keine Krawalle, zumindest noch nicht. Es war eine stille Massenpanik, eher geprägt von Furcht als von Chaos. Niemand schrie mehr, niemand randalierte, es gab (mit Ausnahme der Situation in der Sporthalle, aber das war auch eine sehr aufgeheizte Atmosphäre) keine Prügeleien, keine Plünderungen. Alle standen nur in ihren kleinen Grüppchen zusammen, flüsterten und tuschelten, suchten die Nähe zu bekannten Menschen, Freunden wie Familie. Einige weinten stumme Tränen. Überall sah ich die Furcht vor dem Unbekannten, die Furcht vor dem, was noch kommen mochte. Ich bin überzeugt davon, dass einige Leute einen quasi prophetischen Instinkt besaßen, in Anbetracht dessen, was wirklich noch kam. Dagegen war der Anfang nur Kinderkram.
Ich für meinen Teil ging wieder nach Hause, die Aufregung machte mich müde und es gab sowieso nichts weiter zu sehen. Mir kam auch ein Gedanke. Lange, länger als ich zugeben würde, habe ich mich mit dem Symbol der Swastika beschäftigt. Schon immer faszinierte es mich. Ich begab mich also in meine kleine Bibliothek, die Regale waren mit Staub bedeckt, ich hatte schon seit geraumer Zeit nicht mehr geputzt, und nahm ein dickes Buch nach dem anderen raus, stapelte sie alle auf meinen überquellenden Schreibtisch. Alles hier war unordentlich, überall lagen kleine weiße Zettel, Bleistifte, Kugelschreiber, Notizbücher, leere Studentenfuttertüten. Das kommt davon, wenn man alleine lebt.
Als ich die Bücher sortierte, schaute ich in den Spiegel. Zerzauste Frisur, Drei-Tage-Bart, dicke Augenringe. Ich sah so fertig aus, so erschöpft. Wenn ich mich jetzt betrachte, ist es sogar noch schlimmer. Es ist, als wäre ich um mehrere Jahre gealtert. Ich sehe graue Strähnen in meinen Haaren. Mein einst straffes Gesicht ist nur noch eine Faltenruine.
Ich schlug die Bücher nacheinander auf, überflog den Text, verglich Bilder und Paragraphen. Unzählige Male hatte ich bereits in diesen alten Werken herumgewühlt, ohne wirklich genau zu wissen, wonach ich suchte, doch ich spürte, dass es einen roten Faden gab. Ich musste ihn nur finden und packen.
Die Swastika war und ist ein uraltes Symbol, die ältesten Funde datieren zehntausend Jahre vor der Geburt Christus. Überall lassen sich Spuren finden, in Asien, in Europa, in Afrika und sogar in Amerika. Egal ob nun rechtwinklig, spitzwinklig, flachwinklig, gebogen, rund, mit Kreisen, Linien, mit Punkten, ohne Punkte, die Form taucht immer wieder auf. Im Hinduismus, im Buddhismus und Jainismus, den großen asiatischen Religionen, ist die Swastika ein Glückssymbol. Auf den indischen Kontinent lässt sich das Symbol überall finden, in Tempeln, auf Keksdosen, auf Läden, als Kette, als Anhänger, als Ring. Dasselbe gilt für Japan, China und die Mongolei, wo ich so viele Jahre verbracht habe. Asien ist der Kontinent der Swastika.
Doch auch unsere Heimat Europa ist ihr nicht fremd. In der Heraldik wurde sie oft verwendet. Man fand sie auf Vasen, Schilden und Helmen im Mittelmeerraum. Die Slawen kannten sie unter dem Namen ›Kolovrat‹, das Rad mit acht Balken, die Verkörperung des lebendigen Feuers, das Zeichen für die Wiedergeburt.
Wir assoziieren die Swastika eher mit dem nach rechts gewinkelten und fünfundvierzig Grad geneigten ›Hakenkreuz‹, welches die völkischen Bewegungen für sich vereinnahmten, als ein Symbol für die indogermanische Rasse der sogenannten ›Arier‹. Die deutschen Freikorps und die Weißen Russen malten es auf ihre Helme als Widerstandszeichen gegen die verhasste bolschewistische Revolution. Die finnische Luftwaffe hatte die Swastika auf ihre Flugzeuge. Später dann die Nationalsozialisten mit ihrer blutroten Fahne und dem pechschwarzen Hakenkreuz, diesem Zeichen des Holocausts und des Dritten Reiches, dem Herold des mordenden Antisemitismus, für immer gebrandmarkt als apokalyptischer Reiter des großgermanischen Faschismus.
Die SS, diese verfluchte Ritterschaft, schuf gar ihr eigenes Hakenkreuz: die Schwarze Sonne, zwölf in einer Ringform angeordnete Siegrunen, die zusammen drei Swastika bilden, drehen sich um einen Kreis, gefangen in einem weiteren. Ein uraltes germanisches Symbol durch Blut und Rassenwahn pervertiert.
Als ich auf den Spuren von Ferdynand Ossendowski war, hörte ich von der sich ewig drehenden Swastika im Himmel, die ihren Gegenpart im Zentrum der Erde hatte, die sich für immer spiegeln, verbunden durch kosmische Gesetze, die kein Mensch verstand. Ich wollte sie finden, ich wollte sie so unbedingt finden, mit meinen eigenen Augen betrachten, mich in ihren Drehungen verlieren. Über Gerüchte und alte Aufzeichnungen vernahm ich, dass Baron Ungern-Sternberg damals auch auf der Suche nach ihr war, doch er fand nur den prophezeiten Tod. Selbst die Wiedergeburt Dschingis Khan konnte dieses Schicksal nicht erfüllen. Ossendowski deutet den Ort nur an, er wagte es nicht, tiefer zu tauchen. René Guénon versuchte, das Geheimnis dieser Swastika zu lüften, doch er scheiterte. Es blieb nur ein Irrgarten der Symbolik und Numerologie zurück.
Meine Suche ergab nichts, ich kam mit (beinahe) leeren Händen zurück, in meinem Gepäck nur Mythen, Legenden, Fotos von Tempeln und Grabstätten, Aufzeichnungen von Gesprächen mit alten Nomaden, Schamanen und Lamas. Doch sie konnten mir nicht weiterhelfen, sie hatten ebenfalls nur Gerüchte gehört. Manche verweigerten mir gar die Auskunft, sie wollten darüber nicht sprechen und ich sah die Angst auf ihren Gesichtern, den Terror in ihren Augen.
War die Swastika über unserem Himmel ein Abbild, ein Klon, ein Demiurg? Eine Kopie des himmlischen Originals?
Die nächsten Tage verliefen relativ ruhig, die Menschen schienen erkannt zu haben, dass der Weltuntergang nicht unmittelbar bevorstand und das von dem Ding am Firmament, obwohl es seltsam wirkte, anscheinend bisher keine Gefahr ausging. Bald jedoch kamen die Aasgeier in die Stadt, die sensationssüchtigen Parasiten – die Schaulustigen, die Anhänger des ›dunklen Tourismus‹, die Kultisten der pop-kulturellen Paranormalität, talentlose Hobby-Geisterjäger, degenerierte Neo-Nazis, mediokre Journalisten, bettelarme Wissenschaftler, die ihre Hoffnungen auf den nächsten Nobelpreis setzten. Sie strömten hierher, angezogen wie Motten vom Licht, auf der Suche nach Antworten für das merkwürdige Swastika-Phänomen. Andere frönten einfach nur der Spannung, der Aufregung, dem Thrill.
Verdammte Unterhaltungsjunkies. Auf meiner Asienreise traf ich sie oft. Diese Heerscharen von Touristen, immer in der Begleitung von Einheimischen, die diesen leichtgläubigen Idioten das Geld aus der Tasche zogen, im Tausch gegen › einzigartige Erfahrungen‹. Sie kletterten in Tempel hinein, beschmutzten Grabstätten, ließen ihren Müll an heiligen Orten zurück. Sie waren laut, unhöflich, ständig betrunken, trieben es miteinander wie Tiere. Sie hatten keinen Respekt vor den Traditionen, den Riten, den Kulturen oder der Geschichte dieser Länder. Für sie ging es nur um Abenteuer und Fotos und den leichten Kick und billigen Souvenirs. Ohne ihre ›Guides‹ wären sie aufgeschmissen. Jedes Mal wenn sie den vorgebenden Pfad verließen, fand man sie tot wieder, in der Regel zerstückelt oder zerfetzt, ihre Leiber zerbrochen, ihre Knochen zertrümmert. Ein falscher Schritt kann in diesen Gegenden das Ende bedeuten. Ein verdientes Schicksal für dieses ekelhafte Pack. Sie widern mich an.
Die Exemplare, die nun unsere Stadt verpesteten, waren nicht besser. Laut, unanständig, rüpelhaft, respektlos. Sie belagerten das kleine Hotel, fraßen in unseren Restaurants, belästigten uns. Ständig stand irgendein Reporter von irgendeiner dummen Regionalzeitung vor meiner Tür und fragte nach einem Interview. Das tat er mit jedem Haus in der Straße.
Ihre Augen rollten vor Vergnügen, ihre Münder zuckten, als würden sie unter Strom stehen, sie sabberten vor Erwartungen. Es dauerte nicht lange, dann gingen sie allen auf die Nerven. Und jeden Tag strömten noch mehr von ihnen hierher. Es war wie am Strand, wenn das Meer den Müll an Land spülte. Es hörte einfach nicht auf. Die Nachricht über das Swastika-Phänomen schien sich über das gesamte Land verbreitet zu haben. Nicht mehr lange, dann würden auch Regionalpolitiker hier aufkreuzen und so tun, als könnten sie in irgendeiner Weise helfen.
Ich trat vor die Tür und sah die Übertragungswagen der Pressefuzzis, sie hatten die komplette Straße zugeparkt, ein Meer aus Satellitenschüsseln und weißen Vans. Und überall saßen irgendwelche Spinner mit komplexer Technik drin und taten was genau? Wie viele Bilder und Aufnahmen wollten sie denn noch von dieser Swastika machen? Meine Güte, gingen die mir auf den Sack. Man konnte keinen Zentimeter laufen, ohne das irgendein Hochschulabbrecher einen eine Kamera und Mikrofon ins Gesicht hielt. Apropos, kaum hatte ich mein Heim verlassen, da kam auch schon dieser Stalker-Journalist angedackelt. Sein Gesicht strahlte vor Erwartungen, seine Augen funkelten. Angewidert sah ich, dass ein Speichelfaden aus seinem Mund hinunterlief.
»Entschuldigen Sie, haben Sie einen Moment …«
Schnell lief ich weg. Ich ließ ihn erst gar keine Chance. Schlimmer als Mormonen und Zeugen Jehovas zusammen diese Pest. Schlimmer als Mücken an einem heißen Sommertag am See. Gott im Himmel! Sie hatten meinen Garten zertrampelt! Die schönen Blumen! Der gepflegte Rasen! Alles hin! Ihr ständiges Getrampel hatte alles kaputtgemacht! Keinen Fleck ließen sie unberührt! Zum Teufel mit dieser verdammten Bagage! Was danach passierte, geschah ihnen nur recht!
Ich wollte eigentlich nur zum Supermarkt ein wenig Wein und Brot kaufen, doch dieser Möchtegernschreiberling folgte mir auf Schritt und Tritt. Ich beschleunigte meinen Gang, da beschleunigte er ebenfalls. Ich bog in eine Gasse ab, ich dachte, wenn ich genug Haken schlagen und Irrwege gehen würde, könnte ich ihn abschütteln, aber Pustekuchen! Als ich abbog, bog er ebenfalls ab. Er klebte an mir wie Hundescheiße an einen Schuh!
»Haben Sie eine …?«
»Nein! Lassen Sie mich in Ruhe!«, rief ich erbost zurück, doch er ignorierte mich einfach! Ich rannte, er rannte, er ließ nicht locker! So ging das für mehrere Stunden, bis ich es dann doch endlich schaffte, ihn abzuschütteln. Die Lust nach Wein und Gebäck war mir gehörig vergangen. Verdammter Paparazzi! Journalistenkanaille!
Der Leser möge diese wütenden Zeilen entschuldigen, ich habe mich ein wenig in Rage geschrieben und dabei den roten Faden etwas außer Augen verloren. Wie dem auch sei, der Frieden hielt nicht lange an. Denn bald bemerkten die Bewohner des Ortes etwas Merkwürdiges: Niemand war in der Lage die Stadt zu verlassen, und mit niemand meine ich auch niemand. Selbst unsere ehrenwerten Gäste waren davor nicht geschützt. Ich hatte es selbst ausprobiert, ich ging aus der Stadt hinaus, bis zu einem gewissen Punkt lief auch alles normal ab, aber dann plötzlich … blieb ich stehen und drehte mich wieder um. Nicht nur das, ich vergaß auch, warum ich den Ort überhaupt verlassen wollte. So erging es jeden von uns. Jeder, der der die Schwelle übertrat, erlebte dasselbe. Er stand mit verwirrten Gesichtsausdruck an der Stadtgrenze und drehte sich wieder um. Es war ein Mysterium.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Bald darauf brach Panik aus. Die Leute merkten sehr schnell, dass sie nun Gefangene waren. Die Menschen stürmten das Rathaus, belagerten die Büroräume des Bürgermeisters und der Stadtverwaltung.
Das fremde Pack rannte zu seinen Autos, sie sprangen förmlich hinein und rasten davon. Die Reifen quietschten, die Motoren jaulten. Es fuhren alle gefühlt gleichzeitig los. Ich sah, wie sie bis zur Schwelle gelangten, nur um dann mitten auf der Straße plötzlich zu bremsen und abrupt stehenzubleiben. Die Wagen knallten aneinander, es kam zu einer Massenkarambolage. Metall kreischte jämmerlich, die Autos verknüllten sich förmlich ineinander, formten einen Block aus Stahl, Plastik und Glas. Die dazwischen gefangenen Fahrer wurden einfach zerquetscht, sie hatten keine Chance. Blut und Öl flossen aus dem Geflecht, ein Feuer brach aus. Der Rauch trieb mir Tränen in die Augen. Es kamen Leute aus der Stadt an, wir versuchten zu helfen, doch die meisten konnten nicht gerettet werden. Eine örtliche Freiwillige Feuerwehr gab es nicht, sie hatte schon vor einigen Jahren aufgrund von Nachwuchsmangel aufgehört zu existieren.
Wir zogen eine Handvoll von Verletzten aus den brennenden Wracks. Wer weiß, wie viele an dem Tag starben, das lässt sich nicht mehr rekonstruieren, wir hatten schließlich nicht die Mittel, die Leichen aus den Autos zu entfernen. Fakt ist, es waren nicht wenige, bestimmt mehrere Dutzend. Die verfaulten Toten liegen noch immer in ihren Stahlsärgen, niemand hatte sie weggeräumt. Die Menschen begannen relativ schnell einen Bogen um den Unfallort zu machen, sie ignorierten den Gestank von verbranntem Fleisch und irgendwann hörte auch das Feuer auf zu brennen.
Die Verletzten wurden zu einer Hausarztpraxis gebracht, leider war der einzige Arzt momentan im Urlaub … außerhalb der Stadt. Wir versuchten, zumindest eine Grundversorgung zu machen, Gott sei Dank hatten wir alle einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Mein Mitleid hielt sich jedoch in Grenzen, aber ich konnte auch nicht nichts tun.
Vom anderen Ende der Stadt hörten wir von ähnlichen Ereignissen. Das bedeutete, dass die einzige Hauptstraße des Ortes nun von zerstörten Fahrzeugen blockiert war.
Währenddessen, also fast zeitgleich, tobte ein übler Kampf im Rathaus. Die Menschen verlangten Antworten, sie verlangten Hilfe. Und zwar sofort. Doch weder der Bürgermeister noch der Stadtrat konnte auch nur eine der beiden Sachen anbieten. Der Wachtmeister und sein kleiner Polizeitrupp versuchten, das Rathaus zu stürmen und den wütenden Mob zu besänftigen, doch das gelang nicht. Ich weiß nicht, was genau passierte, doch es löste sich ein Schuss, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, lässt sich nicht mehr sagen, feststeht, dass ein Jugendlicher tot zu Boden sank. Einen kurzen Moment später brach die Hölle los. Die nun sehr zornige Menge überwältigte die zahlenmäßig weit unterlegenen Polizisten und nahmen ihnen die Waffen weg. Danach lynchten sie sowohl die Ordnungshüter als auch die Stadtverwaltung.
Ein blutiges Endergebnis, die verdrehten und zertrümmerten Leichen ließen sie einfach vor dem Rathaus liegen, grausiger Anblick, als wäre eine Horde wilder Raubtiere über die Opfer hergefallen. Die geschundenen Körper des Bürgermeisters und Wachtmeisters hängten sie umgedreht an einen Baum neben dem Rathaus. Es erinnerte mich ein wenig an die Bilder von Mussolini, nachdem die Partisanen mit ihm fertig waren.
Der Mob zog weiter, in seinen Augen stand der blanke Wahnsinn. Er wusste, was er getan hatte, glauben konnte er es jedoch nicht. Die Vernunft war ausgeschaltet, die einzelnen Menschen in der Gruppe bewegten sich wie ein riesiger Organismus, eine Portugiesische Galeere der Gewalt. Er randalierte, plünderte Läden, legte Feuer, zerstörte Autos und fremdes Eigentum. Alles ohne Ziel und Plan. Als ein paar Journalisten seinen Weg kreuzten, stürzte er sich wie eine Schlange auf sie. Von den Schreiberlingen blieb nicht mehr viel zur Identifizierung übrig. Er schrie, er brüllte, verlangte Antworten, Lösungen, doch es war niemand da, der diese geben konnte.
Die Wut hielt bis zum Einbruch der Nacht an, danach zerfloss die Gruppe wieder in Individuen, die frustriert und verwirrt nach Hause gingen. Blut und Asche klebte an ihren Händen. Ihre Körper waren nassgeschwitzt, ihre Kleidung zerfetzt. An einen der Laternenpfähle hing jemand von außerhalb der Stadt. Er war leider nicht das letzte Opfer dieses grausigen Tages, am nächsten Morgen hörten wir von einigen Selbstmorden. Der Mob hatte ein schlechtes Gewissen bekommen.
Und über alldem schwebte unberührt die Swastika am dunklen Himmel.
Die nächsten Tage verliefen weiterhin chaotisch, die nagenden Schuldgefühle hielten anscheinend nicht lange an, im Gegenteil, die Mobmentalität hatte sich wie ein Virus unter der Stadtbevölkerung ausgebreitet. Kleinere Gruppen gingen in der Nachbarschaft um, plünderten die Kaufhalle und andere mittelständische Geschäfte, stahlen Lebensmittel und Wertgegenstände (wozu eigentlich?), zerstörten die übriggebliebenden Übertragungswagen der Journalistenmeute, legten Brände, betranken sich mit gestohlenen Alkohol, randalierten … wenigstens gab es keine öffentlichen Hinrichtungen mehr. Der gesichtslosen Masse war der Appetit nach Blut zu diesem Zeitpunkt noch vergangen.
Als Reaktion darauf bildeten sich Einwohnerwehren, bewaffnet mit Keulen, Messern, Jagdgewehren, Schreckschusspistolen, Sensen, Hacken und Schaufeln. Angeführt wurden sie vom Sohn des ermordeten Wachtmeisters, ein gefühlskalter Halbwüchsiger, der vor dem Erscheinen der Swastika in einer Burschenschaft aktiv war, wo er sich einen Ruf als begnadeter Fechter erkämpfte. Und ganz im Geiste eines wahren Cäsaren meldete er den absoluten Führungsanspruch über die Stadt an und versprach, die Unruhen effektiv zu unterdrücken und für Recht und Ordnung zu sorgen.
In der ausgebrannten Ruine des Rathauses formierte sich eine Junta, die als erste Amtshandlung den Ausnahmezustand ausrief und das Kriegsrecht verhing. Auf dem blinden Terror folgte der weiße Terror. Es verging kein Tag, an dem die Wehren sich nicht Straßenschlachten mit dem Mob lieferten. Das machte es sehr gefährlich, das Haus zu verlassen, selbst nachts. Die ›Ordnungstruppen‹, wie sie genannt wurden, gingen systematisch und brutal vor, kämpften sich von Straße zu Straße, von Haus zu Haus. Sie zeigten keine Gnade gegenüber den Vandalen, schlugen sie häufig bewusstlos und schleppten sie davon. Nur Gott allein wusste wohin.
Als ich sie so aus sicherer Entfernung beobachtete, wenn sie kämpften, wollte man nicht in ihrer Nähe sein, erinnerten sie mich an die Landsknechte aus dem Dreißigjährigen Krieg und den Freikorps aus den Anfangstagen der Weimarer Republik. Sie trugen sogar eigenhändig genähte Uniformen, die mehr schlecht als recht saßen, und die rostigen Stahlhelme ihrer Urgroßväter. In ihrem Aussehen und ihrem Auftreten atmeten sie wahrlich den Geist von Salomon und Roßbach. Rekrutiert wurden sie aus der örtlichen Nationalistenszene und dem Schützenverein. Genug Freiwillige gab es für die Wehren. Manchmal wirkten sie beängstigender als die Plünderer, eine Furcht, die nicht unberechtigt war, wie sich herausstellte.
Die grausamen Repressionsmaßnahmen schienen ihre Wirkung zu haben. Der Mob zog sich immer weiter zurück, die Angriffe wurden weniger, schwächer, sporadischer. Bald verebbte die aufrührerische Tätigkeit und die ›Ordnungstruppen‹ verkündeten den Sieg über die Massen.
Vor dem Rathaus wurde ein öffentliches Tribunal aufgestellt, natürlich mit dem selbsternannten Diktator als obersten Richter. Ein ›Hilfsrichter‹, ein gescheiterter Anwalt vom anderen Ende der Stadt, spuckte während des Schauprozesses unaufhörlich Gift auf die Angeklagten. Die vermeintlichen Rädelsführer wurden in Windeseile noch am selben Tag gehängt. Ironischerweise am gleichen Baum wo auch der Bürgermeister und der Vater des jungen Herrschers gelyncht wurden. Ich frage mich bis heute, ob es zufällig oder bewusst ausgewählt worden war.
Die ›Ordnungstruppen‹ wandelten den Park mit dem Bismarckdenkmal zu einem Lager für die restlichen Randalierer um, auch sie wurden im ›Prozess‹ blitzverurteilt. Sie entgingen der Todesstrafe, weil der oberste Richter ›Gnade vor Recht‹ ergehen ließ, da er in ihnen nur, ich zitiere, ›erbärmliche Mitläufer‹ sah, die ›den Strick nicht würdig waren‹. Sie wurden eingesammelt, es mussten ein paar Dutzend gewesen sein, und in das Lager gebracht, wo sie vor sich hin vegetieren durften. Ab und an lief ich an diesem … es gibt keinen anderen Begriff dafür … Konzentrationslager vorbei und sah diese ausgehungerten, lebenden Leichen, ohne Glanz in den Augen, den Blick auf den Boden gerichtet, antriebslos.
Die Stadt jubelte den ›Ordnungstruppen‹ und der Junta zu. Sie hielt nicht viel von den harschen Methoden, doch sie war froh, dass wenigsten einer der Brandherde nun gelöscht war. Auch ich gehörte zu einem der Jubelnden, denn ich sah die Maßnahmen als notwendig an. Doch der Beifall erstarb bald darauf. Die selbsternannte ›Regierung‹ wollte weder zurücktreten noch den Ausnahmezustand aufheben, obwohl doch die ärgste Bedrohung nun zu Ende war. Der Cäsar und seine Truppe sahen die Sache jedoch anders. Für sie konnte es erst eine Rückkehr zur Normalität geben, wenn auch der ›Keim der Mobmentalität‹ ausgelöscht worden war, abgesehen davon gab es doch noch so viele andere Problemfelder, um die sich gekümmert werden musste.
Aus der provisorischen Junta wurde ein strenges Regime, aus den Freikorps wurden die Tscheka. Der Ausnahmezustand war verlängert worden.
Lebensmittel wurden fortan nur noch rationiert und kontrolliert herausgegeben, denn wie sich herausstellte, war Nahrung ziemlich begrenzt. Leute, die Essen horteten, wurden aus ihren Häusern gezerrt und auf offener Straße von den ›Ordnungstruppen‹ getötet. Ähnliches geschah mit Personen, die beim Diebstahl erwischt wurden. Die Leute wurden von der ›Regierung‹ sogar dazu ermutigt, ›Horter‹, ›Diebe‹, ›Plünderer‹, ›Verschwenderer‹, ›Schacherer‹ und ›Wucherer‹ zu melden. Dieser Dienst wurde sehr eifrig beansprucht. Anscheinend hatten einige noch Rechnungen mit ihren Nachbarn offen. Ich bezweifle, dass jeder einzelne Verurteilte, die vorgeworfene Tat auch wirklich begangen hatte.
Die Sache ging so lange relativ gut, bis der Cäsar plötzlich starb. War es ein Unfall, ein Offizier aus den eigenen Reihen oder ein Rebell? Niemand wusste es, das Regime schwieg. Doch die Stille hielt nicht lange an, denn schon bald begonnen die Machtkämpfe. Ein jeder wollte der nächste Stadtführer werden. Die Anführer der ›Ordnungstruppen‹ sahen sich als Nachfolger berechtigt ebenso wie die selbsternannten Richter und Minister der ›Regierung‹. Es bildeten sich Fraktionen, die auf der Straße nun Bürgerkrieg spielten.
Und wieder schaute die Swastika teilnahmslos auf uns sterbliche Menschen herab, sie war zwischenzeitlich inmitten all der Politikkämpfe in den Hintergrund geraten. Niemand achtete mehr so wirklich auf sie, sie war alltäglich geworden und es gab dringendere Angelegenheiten.
Das sollte sich jedoch bald ändern, denn eines Nachts erwachte die Stadt aus unruhigen Träumen und schrie ihre Angst gen Himmel. Zu jeder finsteren Stunde dasselbe schreckliche Spiel. Am helllichten Tage sah ich Leute, die wie Zombies ziellos umherirrten, blutige Augen, ausdruckslose Gesichter, grau und blass. Niemand bekam mehr genügend Schlaf. Das ging zwei ganze Woche so. Auch ich wurde von diesen schrecklichen Nachtmahren heimgesucht. Jedes Mal wenn ich die Augen schloss, begannen in der Dunkelheit Swastikas zu tanzen, grelle Lichter blendeten mich, kehlige Gesänge ertönten, Stimmen flüsterten unverständlich. Eine schwarze Swastika drehte sich in einer psychedelischen Leere, zog die anderen zu sich. Die Geräusche wurden immer lauter, immer unausstehlicher, immer bedrückender, immer tiefer, bis ich fürchtete, dass mir die Trommelfelle platzen würden. An Schlaf war nicht mehr zu denken.
Die Tage zogen sich hin, die Kämpfe hörten einfach auf, die Leute waren zu müde, um zu streiten. In der Regel lagen sie nur an irgendeiner Straßenecke und stöhnten. Meine täglichen Spaziergänge fielen mir immer schwerer. Ich wusste nicht, mit was ich mich beschäftigen sollte. Fürs Schreiben fehlte mir die Inspiration, die Motivation, ich saß nur an meinen Schreibtisch mit müden Augen und starrte auf ein Stück Papier. Es half auch nicht, dass ich Hunger verspürte. Die Lebensmittel wurden immer weniger, die Rationen, wenn sie denn ausgegeben wurden, was jedoch selten geschah, wurden immer kleiner. Mit leerem Magen schreibt es sich sehr schlecht. Hunger, Schlafmangel und Furcht nagten an meinen Verstand. Ähnlich ging es allen anderen.
Die Fremden, die in unsere Heimat gekommen waren, hatten sich nach der ersten Katastrophe an den Rand der Stadt verkrümelt, kurz vor der magischen Grenze, die Freiheit zum Greifen nah und doch so fern. Sie hausten in Zelten, unter Brücken, in den Ruinen abgebrannter Wohnungen. Sie mieden den Kontakt zu den Eingeborenen, meistens saßen sie einfach auf dem Boden und starrten nach unten. Sie sprachen nicht viel, eigentlich gar nichts, weder unter sich noch mit uns. Stumme Marionetten, die stumm vor sich hinstarrten. Leere Augen, leere Gesichter, kein Wille zum Leben. Es war schon ein trauriger Anblick. Alles war nur noch furchtbar.
Und es wurde nur noch schlimmer.
Auf dem Höhepunkt der Misere erschien eine neue Fraktion in den Ruinen der Stadt. Aus der Kirche, die sich direkt unter der Swastika befand, trat ein großgewachsener Mann heraus, gekleidet in einem gelben Mantel, das Gesicht hinter einer Maske versteckt, die wie ein riesiges Ahornblatt geformt war. Nur seine blutunterlaufenen Augen starrten hinaus. Ich schwöre, dieser Mann hat nicht einmal geblinzelt.
Begleitet wurde er von etwa zwei Dutzend Individuen, sie trugen Capirot-Masken, an ihren linken Armen waren Swastikabinden befestigt. Auf mich wirkten sie wie eine bizarre Mischung aus KKK und braunen Rollkommandos, sie waren auch genauso brutal, wie ich lernen musste.
Der mysteriöse Anführer gab seinen Anhängern den Befehl, alle Stadtbewohner zu ihm zu bringen. Und sie taten es mit äußerster Effizienz, aber die Leute waren auch zu geschwächt, um richtigen Widerstand zu leisten. Sie traten Türen ein und zogen sie einfach raus. Auch mich schnappten sie, als ich mich gerade klammheimlich aus dem Staub machen wollte. Ich spürte, wie zwei kräftige Männerhände mich von hinten an den Armen packten und sie nach hinten bogen. Unangenehmer Schmerz. Der Typ hatte keine Schwierigkeiten, mich hochzuheben und wegzuschleppen.
Der Platz war gefüllt mit Menschen, sie brachten sogar die Gefangenen aus dem Lager … also zumindest diejenigen, die noch lebten. Sie brachten sogar die Fremden vom Stadtrand. Als alle mehr oder weniger unfreiwillig versammelt waren, breitete der Anführer mit der Ahornmaske die Arme aus und begann seine Rede zu halten. Er stellte sich als der ›Baron‹ vor, er und seine Männer seien ›Akitsaws‹, die Diener der Swastika am Himmel. Er sprach mit einer tiefen, brummenden Stimme. Ich kannte ihn nicht, niemand kannte ihn. Niemand kannte die Männer, die ihn begleiteten. Sie schienen nicht zur ehemaligen Junta zu gehören oder zu dem Mob, der die Stadt verwüstet hatte. Waren sie schon die ganze Zeit da oder hatten sie sich erst kürzlich gebildet?
Der ›Baron‹ öffnete seinen seidenen Mantel und entblößte seinen Oberkörper. Die Menge schnappte erschrocken nach Luft. Auf der Brust war ein pechschwarzes Muttermal in der Form einer Swastika zu sehen. Es erinnerte mich an Hautkrebs.
»Seht!«, rief er mit donnernder Stimme. »Die ewige Swastika hat mich auserwählt! Ich bin ihr Gesandter! Ich bin ihr Repräsentant auf Erden! Sie hat mit mir im Traum gesprochen und nun werde ich ihren Willen ausführen! Denn dies ist meine Bestimmung!«
Er erklärte, dass die Swastika ein höheres Wesen sei, wenn nicht gar ein neuer Gott, der zu uns gekommen ist, um uns in ein himmlisches Reich zu bringen. Von weit her aus dem unendlichen Kosmos sei die Swastika hierher gereist. Und von allen möglichen Orten im Universum hatte sie uns auserwählt. Doch ihre Geschenke haben einen Preis, denn die Swastika sei kein altruistisches Wesen, sie verlange Gebete, Lobpreisungen, Aufmerksamkeit, Opfer. Es dürstet ihr nach willigen Anhängern, nach Gefolgsleuten. Erst dann könne sie ihre Gaben verteilen.
Der ›Baron‹ schaute mit seinen blutigen Augen in die Menge. »Erst wenn sie befriedigt ist, wird sie ihre ultimative Botschaft enthüllen. Erst wenn die nötigen Opfer gebracht wurden, wird der ›König der Welt‹ unter ihrem Balken erscheinen und seinen Platz als rechtmäßiger Herrscher einnehmen.« Er hob seinen linken Arm zum Himmel, als wolle er die Swastika berühren.
»All die Katastrophen«, so erklärte er weiter, »waren das Werk der ewigen Swastika. Die Unfälle, die Kämpfe, die Unterdrückung, das Eingesperrtsein, die Alpträume, der Hunger – all dies ist ihr Werk, weil wir nicht auf sie hören! Weil wir sie nicht anbeten! Weil wir sie ignorieren! Weil wir ihr keine Aufmerksamkeit schenken! Keine Opfer! Sie verlangt nach alldem. Erst dann wird der Fluch von uns gelöst werden! Erst dann wird der ›König der Welt‹ erscheinen und uns himmlischen Frieden bringen!«
Die Leute sahen sich untereinander unsicher an, sie wussten nicht, was sie von dieser sehr merkwürdigen Szene halten sollten. Doch hatten sie eine andere Wahl, eine andere Option? Ihre Augen glitten hoch hinauf zur Swastika, die stumm am Himmel hing und auf sie herabblickte. Die meisten wollten einfach Ruhe, Frieden, sie wollten, dass es endlich aufhört. Deshalb klammerten sie sich an jeden noch so kleinen Finger. Sie waren willig, sich zu unterwerfen. Nicht, weil sie unbedingt glaubten, was dieser selbsternannte ›Baron‹ von sich gab, dieser religiöse Führer, dieser aus dem Nichts kommende Messias, mit seinen Reden von Opfern und Gebeten. Nein, sie wollten einfach nur ihre Ruhe haben. Sie wollten schlafen. Sie wollten frei sein. Und dieser Mann versprach ihnen all das.
Es dauerte einen Moment, bis mein Gehirn endlich die Verbindungen machte. Das Aussehen, die Aufmachung des ›Barons‹ kamen mir bekannt vor. Auf meinen Reisen sah ich Zeichnungen, hörte Beschreibungen … der ›Baron‹ ähnelt einer Mischung aus ›Grünen Mann‹ und einem Goro von Agartha, den Priestern des Königs der Welt. Und der Name des Titels ›Baron‹ wäre eine Anspielung auf Baron Roman von Ungern-Sternberg, dem blutigen weißen Baron, der ein pan-asiatisches Reich erschaffen wollte, stattdessen aber ein tragisches Ende in den endlosen Weiten der Mongolei fand. Seine Untergebenen verrieten ihn und er wurde im Eilverfahren in Nowosibirsk wie ein tollwütiger Hund, der er letztendlich war, erschossen.
Könnte es sein, dass dieser Unbekannte, dieser mysteriöse Fremde, eine Verbindung zum unterirdischen Reich von Agartha hatte? War er in Wahrheit ein Abgesandter des Königs der Welt? War er das Sprachrohr der Swastika und war die Swastika, die Unheil über unsere Stadt brachte, wirklich die ewige Swastika, nach der ich und so viele andere vergeblich gesucht hatten?
»Wohlan! Lasst uns keine weitere Sekunde verschwenden, sondern zu unserem himmlischen Glück schreiten! Auf das wir die ewige Swastika befriedigen können!«, rief der ›Baron‹.
Sobald die Nacht einbrach, begannen die Arbeiten. Die Menschen werkelten an Holzkonstruktionen. Ich beteiligte mich ebenfalls. Schließlich hatte ich keine Wahl. Es wurde gesägt und gehämmert, Holzdielen wurden aus den ruinösen Häusern rausgerissen, der Baumarkt wurde (wieder) geplündert. Jeder machte mit, alles unter den wachsamen Augen der Mitglieder ›Akitsaws‹. Ab und an gaben sie Anweisungen. Ihre Stimmen klangen falsch. Ich erblickte nie das Gesicht des ›Barons‹.
Als die ersten Sonnenstrahlen die nackte Erde küssten, sahen wir, was wir gebaut hatten, da wurde es uns erst richtig bewusst. Alles davor war wie in einer Trance. Es handelte sich um ein Meter achtzig große Swastikas aus Holz und Nägeln, ungefähr zwölf Stück. Sie waren in einem Halbkreis vor der Kirche angeordnet. Mir fiel auch auf, dass das goldene Kreuz auf der Spitze des Gotteshauses, sich zu einer Swastika umgeformt hatte. Wann war das geschehen?
Der ›Baron‹ schaute in die Menge, trotz der Maske sichtlich zufrieden. Er zeigte mit seinem Finger auf zwölf Personen, es waren hauptsächlich Fremde. Seine treuen Anhänger schnappten sie sofort und ketteten sie an die Swastikas. Es gab kaum Gegenwehr, dafür waren sie zu geschwächt.
Ich stand vor dem ›Baron‹, sah ihn direkt in die Augen. Ich sah nie sein Gesicht. Ich kannte ihn. Ich kenne ihn. Die anderen kennen ihn nicht, doch ich tue es.
Er breitete seine Arme aus, wie in kindlicher Nachahmung tat ich es ihm gleich.
»Wir salutieren der ewigen Swastika im Himmel!«, rief er mit autoritärer Stimme.
Ich sah Terror in den Augen der Anwesenden, Angst in den Gesichtern der Fremden. Doch was geschah, konnte niemand mehr aufhalten. Unser Schicksal war in den Händen von kosmischen Gesetzen.
Die Opfer stöhnten und jammerten, die Anhänger von ›Akitsaws‹ holten lange Dolche aus ihren Roben hervor. Der ›Baron‹ hob die Hand gen Himmel und schrie: »Nimm diese Opfer! Nimm sie und schenke uns deine Kraft!« Dann ließ er die Hand wie ein Fallbeil heruntersausen. Zeitgleich taten es die maskierten Mitglieder ebenso. Sie rammten die Dolche direkt in die Herzen der auserwählten Fremden. Zwölf Messer auf zwölf Körper. Ein Schrei der Angst, ein kurzes Zucken, dann starben sie. Roter Saft tropfte aus ihrer Brust, er floss zu Boden, bildete kleine Pfützen.
»Die erste Tat ist vollbracht«, erklärte der ›Baron‹.
Und es blieb nicht die letzte. Jeden Tag wurden nun Menschen geopfert. Zuerst kamen die Fremden dran, einer nach dem anderen. Die Leichen wurden in die Kirche gebracht, weiß Gott, was dort mit ihnen geschah. Die beschmutzten Swastikas wurden jede Nacht verbrannt, das heißt, wir durften sie jedes Mal neu aufbauen. Uns gingen langsam die Materialien aus. Ich befahl ihnen, ihre Möbel zu benutzen, davon gab es noch genug.
Bald waren die Fremden aufgebraucht und wir gingen zur regulären Stadtbevölkerung über. Leider mussten wir da mit Widerständen rechnen. Die Leute waren plötzlich nicht mehr so willig, Menschen zu opfern. Doch was getan werden musste, musste getan werden. Die Swastika verlangte es. Wir entrissen ihnen die Kinder, die noch da waren. Wir schnappten uns die Alten, die noch lebten. Den anderen wurde befohlen, zu beten, zu beten, konstant zu beten, solange bis sie sich die Zunge blutig geredet haben. Immer stand jemand von ›Akitsaws‹ mit dabei, passte auf. Wenn nötig wandte er Gewalt an, ein wenig zur Motivation.
Sieben Tage dauern die Opferrituale schon an. Die Zahl der Menschen wird immer weniger. Wir nähern uns dem Ende. Die Swastika wird zufrieden sein. Der ›Baron‹ steht hinter mir, ich spüre meinen stechenden Blick, spüre meinen Atem an meinen Hals. Es wird Zeit. Alles, was ich sagen wollte, habe ich gesagt. Es liegt nun an anderen, Sinn daraus zu machen. Ich schaue ein letztes Mal aus dem Fenster und sehe sie. Das kosmische Ei, aus dem der König der Welt hinaustreten wird, um seinen rechtmäßigen Platz einzunehmen. Die Uhren haben aufgehört zu ticken. Am Firmament schwebt eine Swastika und auf der Erde ist eine Swastika und beide drehen sich in Einklang miteinander.
Wir salutieren der ewigen Swastika am Himmel.

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