Fataler Fehler

Als ich meine Augen öffnete, saß ich in einen Wagen, einen recht luxuriösen. Gepolsterte Sitze aus echtem Leder, saubere Glasscheiben. Wir fuhren an Reihen und Reihen von grauen Mietskasernen vorbei, der Himmel war so grau wie die Fassade der Häuser. Neben mir der Fahrer, er trug eine Art von einfacher, funktionaler Uniform bestehend aus einer grünen Hose und einem übergroßen, ebenfalls grünen Hemd. An seiner Brust steckte ein kleiner roter Stern. Als ich an mir hinuntersah, bemerkte ich, dass ich ebenfalls eine solche Kleidung trug. Hinter uns saßen noch zwei weitere Männer, der linke schaute gelangweilt aus dem Fenster, sein Kopf war an die Scheibe gelehnt. Neben ihn befand sich ein älterer Herr mit dichtem schwarzen Haar und einem mächtigen, buschigen Schnauzbart. Sein Blick war stoisch, eisern. Er trug ebenfalls die grüne Uniform, aber auf seiner Brust prangten unzählige Orden. Mein Gefühl sagte mir, dass diese Person überaus wichtig war.
»War doch ein Kinderspiel«, sagte der Fahrer. Seine Stimme klang gedämpft, als wäre sie unter Wasser.
Die Person hinter mir erwiderte: »Ja, keinerlei Probleme. Wer hätte das gedacht. Unser glorreicher Staatschef liegt nun sechs Fuß unter der Erde, sein Doppelgänger sitzt neben uns und bisher sind wir auf keinerlei Hindernisse gestoßen.«
»Es läuft gut.«
»Zu gut.«
»Ewiger Pessimist.«
»Eher Realist. Ein Plan hat nur so lange von Bestand wie bis zum ersten Feindkontakt.«
»Bisher sind wir auf keine Feinde gestoßen.«
»Noch nicht. Warte ab, Genosse.«
Ich kannte die beiden, aber ich wusste nicht woher. Ihre Gesichter wirkten so verschwommen, wie Reflexionen in einem Spiegel, der von Dampf bedeckt war. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Ich wusste aber, dass ich …
»… nicht ich bin.«
»Hast du was gesagt, Dawid?« Der Fahrer schaute mich verdutzt an.
»Nein, alles okay. Hatte nur einen Gedanken«, antwortete ich. Mein Mund bewegte sich von alleine. Ich war Dawid. Das war meine Rolle. Ich war Funktionär der Partei und saß im Großen Rat. Meine Genossen haben eine Verschwörung gegen den Staatschef angezettelt. Dieser hatte vor einiger Zeit Parteisäuberungen angeordnet. Zehntausende starben. Als es vorbei war, ließ er den Geheimdienstchef, den Kommissar für Innere Angelegenheiten und den Kommissar für Militär ermorden.
»Alles läuft so, wie wir es geplant haben«, erklärte der Fahrer. »Der Staatschef ist tot, sein Double sitzt mit uns im Auto, wir werden zu der Lagerhalle fahren und dann wird unser werter Herr Doppelgänger alle Morde gestehen, die der Staatschef begangen hat. Die Partei wird ihn absetzen und wir können mit der Tauwetterperiode beginnen. Eine neue Zeit wird für unsere Union anbrechen, eine bessere, eine goldene Zeit. Wir werden die proletarische Revolution fortführen, die Herrschaft der Bürokratenklasse zerbrechen und den Arbeitern endlich die Freiheiten geben, die sie verdient haben!«
»Geduldige dich, Jewsejew. Man soll den Tag nicht vor den Abend loben.«
»Schwarzseher. Du wirst schon sehen, wenn wir diesen Coup hinter uns gebracht haben, dann wird eine bessere Zeit anbrechen. Wir können wieder Kontakt zum Westen aufnehmen und den Krieg mit den gelben Schlitzaugen endlich beenden.«
Die ganze Zeit über schwieg der Doppelgänger. Er starrte einfach nur geradeaus. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich glaubte, ein leichtes Lächeln erkannt zu haben.
Die Mietskasernen verschwanden, dafür breitete sich ein schmutziges Industriegebiet aus. Der Wagen bog auf eine freie Fläche ab, vor einer Lagerhalle wurde eine Bühne mit Kameras aufgebaut. Eine Live-Übertragung. Als der Gedanke in meinen Kopf schoss, überkam mich plötzlich heftiger Schmerz. Meine Sicht verschwomm, mir wurde schlecht. Irgendetwas stimmte hier nicht. Eine Menge von Schaulustigen erwartete uns bereits.
»Gut, alles läuft nach Plan ab. Die Masse ist bereits hier. Die Kameras werden die Rede des Doppelgängers im gesamten Land übertragen. Alles wird so passieren, wie wir uns gedacht haben«, erklärte Jewsejew siegessicher.
Wir stiegen aus. Der Fahrer und der Hintermann brachten den Doppelgänger zur Bühne. Ich blieb beim Auto stehen, schaute mir das beginnende Spektakel von dort aus an. Immer noch plagte mich ein mieses Gefühl.
Der Doppelgänger trat an die Mikrofone, die Kameras richteten sich wie mechanische Augen auf ihn, die Menge blieb stumm. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Jewsejew und der andere standen hinter ihm.
Der Mann mit dem Schnauzer räusperte sich und begann dann mit tiefer Stimme zu sprechen: »Meine verehrten Genossen, heute muss ich Euch leider mitteilen, dass unsere geliebte Union … Opfer einer hinterhältigen Verschwörung geworden ist!«
Die Gesichter meiner beiden Kameraden verloren die Fassung, die Augen wurden weit aufgerissen. Sie schauten verwirrt umher. Sie waren blass geworden, sahen aus wie Gespenster.
»Drei Männer sind für dieses niederträchtige Komplott verantwortlich. Zum eine, die beiden Herren die hinter mir stehen! Sie sind die Drahtzieher. Sie planten, mich umzubringen, einen Doppelgänger zu benutzen und mich dann des Mordes zu bezichtigen. Dann wollten sie unser Land an die kapitalistischen Feinde im Westen und an die südlichen Revisionisten verkaufen! Sie wollten die Erfolge unserer Revolution rückgängig machen! Sie wollten die alte Klassenherrschaft restaurieren! Für dieses schwerwiegende Vergehen kann es nur eine Strafe geben!«
Eine Gruppe von Männern in blauen Uniformen kam aus der Lagerhalle getreten. Die Tschekisten schnappten sich die beiden vermeintlichen Verschwörer und erschossen sie direkt an Ort und Stelle. Die Menge jaulte und heulte.
Der Staatschef zeigte mit dem Finger auf mich. »Da ist der letzte Verschwörer! Schnappt ihn!« Die Masse raste auf mich zu, ich sah die wütenden, verzerrten Gesichter der Menschen. Sie brüllten. Sofort sprang ich in das Auto und fuhr los. Die Fahrt fühlte sich an, als wäre der Wagen in einem Tropfen Honig gefangen.
Aus den Mietskasernen strömten Menschenmassen mit Fackeln in den Händen. Die Straße brach auf, die Häuser zerfielen. Ich fuhr mit dem Auto gegen einen Hydranten und wurde durch die Scheibe hindurch nach draußen katapultiert, feine Glassplitter bohrten sich in mein Gesicht. Ich spürte, wie warmes Blut hinunterfloss, doch ich hatte keine Zeit. Ich rappelte mich wieder auf und rannte in das nächstgelegene Gebäude. Die meisten Türen waren abgeschlossen, also suchte ich mir eine aus, die am schwächsten wirkte, und trat sie ein. In der Wohnung hingen überall Porträts des Staatschefs. Seine kalten Augen starrten mich an. Ich rannte ins Bad, schloss die Tür hinter mir zu und setzte mich in die dreckige, verkalkte Dusche. Von draußen hörte ich die Menge, sie sang proletarische Lieder. Draußen brannte es. Sie fackelten das Haus ab. Ich presste meine schwitzigen Hände auf meine Ohren, schloss die Augen. Trotzdem hörte ich alles, ich roch den Rauch. Schwere Schritte in der Wohnung. Die Tür zersplitterte …

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