Seltsame Vorkommnisse in einer kleinen deutschen Stadt

Niemand mag meinen Worten Glauben schenken, die ungebildeten, verblendeten Massen mögen mich einen Narren schimpfen, doch all das, was sich in den letzten Tagen zugetragen hatte, entspricht der Wahrheit und nichts als der reinen Wahrheit. Mein Leben lang war ich ein einfacher Diener Gottes, der Seinen Willen treu ausführte, doch die Erkenntnisse, die mich nun plagen, mich heimsuchen, haben mich auf einen anderen Pfad gebracht, fern vom gütigen Licht Seines Königreiches. Für mich gibt es nur noch einen Weg. Dies hier soll mein Testament sein, bevor ich endgültig in den Abgrund hinabsteige. Es soll dokumentieren, was mir zugestoßen ist, und vielleicht wird es die Ereignisse, die in absehbarer Zeit stattfinden werden, verständlicher erscheinen lassen.
Alles begann vor ein paar Tagen, als ich über den Marktplatz schlenderte, um die warme Mittagssonne zu genießen, da sah ich diesen verschrobenen Intellektuellen, der mir schon öfters unter die Augen gekommen war. Ein selbsternannter ›Gelehrter‹, der alleine in einem ruinösen Anwesen am Rande der Stadt hauste. Wahrlich ein verkommendes Individuum, welches sich mit okkulten Praktiken und schwarzmagischen Ritualen auseinandersetzte. In der Gemeinde wurde schon über ›Satanismus‹ und ›dämonische Präsenzen‹ getuschelt. Einige behaupteten gar, sie hätten ›seltsame Lichter in nie dagewesenen Farben‹ in der Villa des Gelehrten gesehen. Eine junge Frau beichtete mir, dass sie ›unmenschliche Laute‹ vernahm, als sie eines schönen Tages nichtsahnend an dem Haus vorbeilief.
Seit dieser Mann vor zwei Jahren in unsere kleine Stadt kam, brachte er nichts als Ärger und Unheil mit. Es war, als würde der wahrhaftige Teufel ihm auf Schritt und Tritt folgen. Ich schwöre beim Herrn, dass selbst die Luft in der Anwesenheit dieses angeblichen Gelehrten kälter wurde.
Mit seinem Ankommen gingen auch merkwürdige Vorkommnisse und Verbrechen einher, und ich rede nicht nur von den Lichtern und Lauten, wir hatten mehrere Fälle von Grabschändungen auf dem örtlichen Friedhof. Die Gebeine von Kurt Heinrich Kuhrt, einem stadtbekannten Alchemisten aus dem neunzehnten Jahrhundert, waren aus ihrem Grab entnommen worden. Ebenso waren die sterblichen Überreste von Nikodem Fritzmann und Benedikt Qubietschik, einem kürzlich verstorbenen Philosophen, verschwunden. Mehrere Augenzeugen berichteten, sie hätten den Herrn Qubietschik nach dem Vorfall sogar in Fleisch und Blut gesehen! Wobei er als ›sehr blass‹ und ›kränklich‹ beschrieben wurde. Die Polizei konnte den Auferstandenen leider nicht finden. Damals glaubte ich, dass es einfach nur eine Verwechslung war, ein simples Missverständnis, es musste sich um eine Person gehandelt haben, die Ähnlichkeiten mit dem Herrn Qubietschik besaß, doch heute bin ich mir nicht mehr so sicher …
Mit der Zeit verschwanden auch immer mehr Haustiere, Katzen wie Hunde. Spatzen, Störche, Tauben und die kristallblauen Eisvögel, für die wir bekannt sind und die viele Ontologen in unseren Ort lockten, ließen sich nicht mehr blicken. Stattdessen sah sich die Stadt einen Zustrom von großen, schwarzen Krähen mit blutroten Augen ausgesetzt, die bald begannen die Bevölkerung zu terrorisieren. Sie stahlen Schmuck, Geldscheine und Münzen, machten sich in den Gärten und umliegenden Wäldern breit, griffen Hühner, Enten und Lämmer an. In einem Fall töteten sie gar ein unbeaufsichtigtes Kind, fraßen die Augen und die Zunge des Kleinen.
Doch so plötzlich diese Plage erschien, so schnell war sie auch wieder verschwunden. Wir fanden nicht einmal eine schwarze Feder.
Viele Stadtbewohner klagten zunehmend über Schädlinge, die sich in ihren Häusern breitmachten. Einige behaupteten, sie hätten Kakerlaken gesehen, so groß wie Männerhände. Eine tragische Seele war fest davon überzeugt, dass eine der Schaben zu ihr sprach und Passagen aus der Offenbarung des Johannes zitierte, ihr etwas von einem ›kommenden Biest‹ erzählte. Der arme, hysterische Mann wurde später in die örtliche Heilstätte eingeliefert, wo er unter nicht näher geklärten Umständen verstarb.
Wenn dieser sogenannte Gelehrte sich nicht gerade in seinem Anwesen aufhielt und okkulte Experimente veranstaltete, verbrachte er seine Zeit in den weniger besuchten Sektionen der Heinrich-von-Kleist-Bibliothek, wo er beobachtet wurde, wie er tief versunken in staubige Folianten las. Freunde, Bekannte oder Familie schien er nicht zu haben, wobei er einmal in Begleitung eines kuriosen Individuums, einem Mann, gekleidet in einem braunen viktorianischen Mantel und Zylinder, das Gesicht hinter einer schwarzen Krähenmaske versteckt, gesehen wurde. Wer weiß, über welche Abscheulichkeiten sie sich austauschten.
Er schien auch viel zu reisen, oft sah ich ihn mit einem großen Koffer in der Hand, in einen Zug steigen. Dann verschwand er für mehrere Wochen, nur um dann, ohne große Ankündigung plötzlich wieder zu erscheinen. Die Stadt atmete in diesem Zeitraum immer auf, die Nächte schienen weniger dunkel zu sein. Doch sobald er das Anwesen betrat, ging der Ärger von vorne los.
Ich sah ihn direkt vor mir, er war nur wenige Meter entfernt, sein Blick war auf den Boden gerichtet, seine Hand fuhr ständig über das bärtige Gesicht. Seine dicken Brillengläser waren von Staub bedeckt, der fleckige Mantel, den er trug, schien schon lange keine anständige Wäsche mehr gesehen zu haben. Er murmelte unablässig vor sich hin, er zitterte leicht.
Plötzlich blieb er abrupt stehen, seine Augen quollen hervor, die Brille fiel von seiner Nase runter, die Gläser zerbrachen beim Aufprall auf dem Boden in Dutzende Stücke. Dann geschah etwas, was ich nicht glauben konnte, obwohl ich es mit eigenen Augen sah. Wobei … eigentlich sah ich genau genommen nichts. Etwas … Unsichtbares packte den Gelehrten am Hals und hob ihn mehrere Meter hoch in die Luft. Ich vernahm ein ekelhaftes Geräusch und erblickte, wie eine unbekannte Macht den Mann auseinandernahm.
Er schrie nicht, er gab nicht einmal ein Röcheln von sich, doch sein Gesicht war zu einer Maske des Schmerzes verzerrt. Die Sehnen an seinem Hals waren bis zum Zerreißen angespannt, sein Kopf war so rot wie ein gekochter Hummer. Die Augen traten aus ihren Höhlen heraus. Er blutete am Bauch und am Rücken.
Einen Augenblick später wurde er mit einem heftigen Ruck auseinandergerissen, nun hingen zwei Hälften hoch oben. Ich sah seine Gedärme, seinen Magen, Teile seiner Lunge und seiner Wirbelsäule. Er lebte immer noch. Kurioserweise landete kein einziger Tropfen vom roten Lebenssaft auf dem Pflastersteinboden.
Dann begann er zu verschwinden – wohin? Wer wusste das schon, er verschwand ins Nichts. Es war, als würde er sich auflösen, doch das ist nicht ganz richtig. Für mich sah es so aus, als würde er gefressen werden, als würde ihn die Luft selbst verschlingen.
Das Schauspiel dauerte nicht lange, wahrscheinlich nur ein paar Minuten, doch ich sah jeden schrecklichen Augenblick davon. Als es vorbei war, rieb ich mir die Augen. Von dem Ereignis blieb nicht ein Fetzen übrig. Dummerweise war der Marktplatz auch wie leergefegt, was seltsam war, schließlich sollte es hier von Menschen um diese Uhrzeit nur so wimmeln. Daraus folgt, dass ich der einzige Zeuge dieser Groteske war.
Ich setzte mich erstmal auf die nächstgelegene Bank, meine Beine fühlten sich wie Gummi an. Schwarze Flecken tanzten vor meinen Augen, kalter Schweiß bedeckte meine Haut. Ich war nicht sicher, ob ich in diesem Moment Zeuge eines Wunders, einer Teufelsbeschwörung oder einer Halluzination war.
Nachdem ich mich einigermaßen beruhigt hatte, ging ich wie im Schlaf zum Pfarrhaus zurück, ein schlichtes Gebäude aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Ich las einmal, dass das alte Pfarrhaus einst aus unerklärlichen Gründen niederbrannte. Davor war es eine preußische Kadettenschule gewesen, in der plötzlich mehrere Jugendliche verstarben.
Im Pfarrhaus angekommen, schloss ich die Türen hinter mir zu und setzte mich in meinen bequemen Stuhl. In meinem Büro herrschte das reinste Chaos. Unzählige ungeheftete Dokumente und dicke theologische Bücher quollen aus den Regalen, die unter dem immensen Gewicht ächzten und stöhnten. Auf meinem Schreibtisch lagen lose Blattsammlungen und angekaute Bleistifte. Das war mir in diesem Moment egal, ich fegte alles mit einer Handbewegung auf den Boden und legte meinen brummenden Schädel auf das kühle Holz.
Der Vorfall ließ mich nicht los, irgendetwas Furchtbares war geschehen. Das war nicht Gottes Tun, unmöglich, das war das Werk des Teufels. Der Gehörnte wanderte wahrhaftig in unserer, in meiner Gemeinde, das konnte ich nicht auf mich sitzen lassen. Nicht wenn Menschenleben in Gefahr waren. Nicht wenn die Schöpfung des Herrn angegriffen wird.
Ich entschied mich, das Anwesen des Gelehrten einen Besuch abzustatten. Vielleicht finde ich dort ein paar Antworten, dachte ich. Ich lag nicht weit daneben.
Ich begab mich zu der Villa, die sich am Rande der Stadt befand. Ein altehrwürdiges Haus, das sich einst im Besitz des Industriemagnaten und früheren Bürgermeisters Paul Thomas Majewski befand, dem auch ein Braunkohlerevier gehörte, das der Stadt Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, einen immensen wirtschaftlichen Aufschwung bescherte, bis … der Abbau einfach aufhörte. Majewski verließ die Stadt in einer, so hieß es zumindest, halsbrecherischen Nacht-und-Nebelaktion. Angeblich verschwand er nach Deutsch-Ostafrika.
Das imperiale Anwesen wurde dann einige Zeit als Hotel benutzt, bis der neue Besitzer es im Zuge der Hyperinflation an einen US-amerikanischen Spekulanten verkaufen musste, der sich aber am Tage der Weltwirtschaftskrise aus dem Fenster der Villa stürzte und hart auf dem Boden aufschlug, was ihn selbstverständlich das Leben kostete. Danach gammelte sie ein wenig vor sich her, später nutzte eine Gruppe von SS-Männern das Haus als Treffpunkt.
Nach dem Krieg stand das Gebäude sehr lange leer, erst in den siebziger Jahren gründete sich der ›Verein zur Erhaltung des Majewski-Anwesens‹ und nahm das Objekt in Anspruch, da es anscheinend niemanden gehörte und es keine Erben gab. Leider bekamen sie nie die erforderlichen Fördergelder, um das Gebäude zu restaurieren.
Vor zwei Jahren kaufte dann dieser Gelehrte das Anwesen. Und seitdem riss die Serie von unerklärlichen Ereignissen nicht ab, Höhepunkt und bisheriger Schluss war die … ich nenne es einfach ›Ermordung‹, ein anderes Wort für diesen Vorfall fällt mir nicht ein … dieses seltsamen Kerls.
Nun stand ich vor diesem ehrfürchtigen Haus, das gusseiserne Tor war nicht abgeschlossen, sodass es für mich ein leichtes Spiel war, auf den Hof zu gelangen, der völlig verwildert war, das dünne, vertrocknete Gras ging mir bis zur Hüfte. Ab und an erblickte ich schwarze, fünfzackige Blumen, die sich wie dämonische Seesterne aus dem gelben Meer erhoben. Das Grundstück machte den Eindruck, als hätte jegliche Spur von Leben die Flucht ergriffen.
Der Anblick der Villa von Nahem ließ mein Herz in die untere Magengegend rutschen. Wahrlich ein imposantes, furchterregendes Gebäude! Mit zitternder Hand ergriff ich die Klinke der Eingangstür und drückte sie nach unten. Zu meiner Überraschung ließ sich die Tür kinderleicht öffnen. Ähnlich wie das Tor war sie nicht abgeschlossen. Bis heute frage ich mich, ob das ein Versehen des Gelehrten war oder ob höhere Mächte ihre schattenhaften Finger im Spiel hatten.
Ich betrat das schaurige Anwesen, sofort spürte ich eine Kälte an meinem Körper hochkriechen wie ein gieriger Ameisenschwarm. Mit unsicheren Fingern formte ich das Kreuzzeichen, bevor ich weiterging. Der Boden war von einer dicken, grauen Staubschicht bedeckt, in der Luft flogen weiße Partikel umher, die Möbel lagen unter weißen Tüchern. Es war, als hätte hier in den letzten Jahrzehnten niemand gewohnt.
Ich war mir nicht wirklich sicher, was genau ich eigentlich suchte, außer natürlich Antworten auf meine drängenden Fragen. Irgendwo lagen hier sicherlich Hinweise, wie ein Tagebuch oder Forschungsnotizen, verstreut. Intellektuelle waren doch besessen davon, alles Mögliche aufzuschreiben, schließlich hingen sie der Illusion nach, dass ihre Worte in einer fernen Zeit mal von Bedeutung sein könnten. Unser Gelehrter war da sicherlich keine Ausnahme, davon war ich überzeugt.
Die Dielen knarzten bei jeden meiner Schritte, durch das Haus wehte ein kühler Wind. Ich hörte das Tippeln und Tappen kleiner Füße, wahrscheinlich von Mäusen oder gar Ratten. Dieses Anwesen machte den Eindruck, als hätte in den vergangenen Jahrzehnten niemand hier gehaust, als wäre Majewski der letzte Bewohner gewesen. Oder dieser Gelehrte hatte einfach kein Interesse an Frühjahrsputz gehabt, vielleicht war er zu beschäftigt oder gar zu faul dafür gewesen. Das ist mir ein bekanntes Phänomen, damals als ich an der Universität Potsdam mehr oder weniger eifrig Theologie studiert hatte, war mir die Instandhaltung meiner kleinen Wohnung in der schönen Altstadt relativ egal gewesen. Erst viel später erkannte ich, dass die Außenwelt immer auch eine Reflektion der Innenwelt und umgekehrt ist.
Vor mir schlängelte sich eine alte, morsche Treppe in das obere Stockwerk. An der Wand hing ein verrottetes Gemälde, das, wie ich vermutete, Paul Thomas Majewski darstellte. Ein stämmiger Mann mit Voll- und Schnauzbart-Kombination, gekleidet in einem teuren, karmesinroten Anzug. Sein Blick wirkte leer. Daneben befand sich ein merkwürdiges Bild, wahrscheinlich von einem neoromantisch angehauchten Surrealisten angefertigt worden. Es zeigte ein pechschwarzes Wesen mit weißem Blick und spitzer Krone, ein lebender Schatten. Ich hatte das Gefühl, dass diese allwissenden Augen mir überallhin folgten. Noch immer läuft es mir kalt den Rücken hinunter, wenn ich mich daran zurückerinnere. Die anderen Gemälde waren durch unbekannte Hand zerstört worden.
Ich befand mich nun im oberen Stockwerk, es fühlte sich wie in einem Traum an. Von der Decke hingen dicke, graue Spinnweben, in eine von ihnen waren die ausgesaugten Überreste einer Maus gefangen, nur noch eine vertrocknete Mumie. Von den Bewohnern dieser altertümlich wirkenden Netze fehlte jede Spur. Doch ich war auch gar nicht so erpicht darauf, nach ihnen zu suchen.
Die meisten Türen waren fest verschlossen, wodurch es zu einem Ratespiel verkam, herauszufinden, wo das Studierzimmer, wo ich vermutete, dass er dort seine Notizen aufbewahrte, sich befand. Nach einer gefühlt halben Stunde, dieses Stockwerk hatte, wie es mir schien, unzählige Zimmer, fand ich den besagten Raum dann endlich.
Er war definitiv anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Ich ging davon aus, dass sich hier unzählige Bücher bis zur Decke stapelten, dass Notizblätter den Boden bedeckten, dass an den Wänden okkulte Zeichnungen gemalt wurden, doch nichts dergleichen. Es handelte sich um eine fensterlose Abstellkammer, an deren Ende ein kleiner Tisch und Hocker standen. Eine Glühbirne konnte ich nicht erkennen, dafür aber einige abgebrannte Kerzen.
Auf dem Holztisch lag ein dickes Buch mit vergilbten Seiten, eingebunden in schwarzem Leder, eingehüllt in einer dunklen, beinahe materiellen Aura. Vorsichtigen Schrittes näherte ich mich dem Objekt, mit jeder verstrichenen Sekunde wuchsen die Schatten um mich herum, sie nahmen Formen an, wurden greifbar, ein unbekannter Funke brachte die Kerzen zum Brennen. Heisere Stimmen flüsterten in mein Ohr, erzählten mir Dinge, blasphemisch, unheilig, sprachen von der großen verrottenden Leiche Gottes, die in den endlosen Weiten des Äthers schwebt, von den schwarzen augenlosen Würmern die Seinen Körper durchwühlen, sich an Seiner Herrlichkeit laben.
Sie erzählten mir mit silberner Zunge von meiner armen Mutter, die bei einem schlimmen Autounfall ums Leben kam, als ich gerade einmal acht Jahre alt war. Ich sah ihre zerschmetterte Leiche vor meinem inneren Auge. Meine Mutter starrte mich mit leeren Höhlen an, aus ihrem zerbrochenen Kiefer drangen die vielen Stimmen. Sie redeten davon, dass sie nun im ewigen Mahlstrom sei, eine schreiende Seele gefangen in der kosmischen Agonie. Die Stimmen, diese kratzenden Stimmen, diese unmenschlichen Laute versprachen mir, dass ich meine Mutter bald wiedersehen durfte, dass es mir erlaubt sei, im Chor der Gepeinigten eine Rolle zu spielen.
Der Raum um mich herum wuchs zu unvorstellbaren Größen heran, im Augenwinkel erblickte ich zyklopische Strukturen sich aus dem Nichts erheben, die unmögliche Formen annahmen. Eisige Winde zerrten an meinem fragilen Körper, mein Selbst schien sich aufzulösen.
Meine Hände entglitten meiner Kontrolle, mit panischem Blick verfolgte ich, wie sie sich dem schwarzen Buch langsam näherten. Der Band sprang auf, die Seiten flatterten wild im Wind. Für einen kurzen Moment sah ich den Gelehrten vor mir stehen, hinter ihm die unmögliche Landschaft, die sich bis in die Unendlichkeit streckte. Sein breites Grinsen jagte mir einen Schauer über den Rücken, doch was mir wirklich Angst bereitete, waren seine Augen, die wie eine doppelte Sonnenfinsternis strahlten. Über ihn erhob sich ein schwarzer Stern.
Meine Hände packten das Buch und …
… ich war wieder in meinem Büro. Schweißüberströmt, völlig außer Atem. Ich wusste nicht, wie ich an diesem Ort gelangt war. War alles nur einen Traum gewesen, fragte ich mich selbst. Doch den unumstößlichen Beweis, dass das Erlebte tatsächlich real war, lag vor mir, das schwarze Notizbuch des Gelehrten.
Panische Angst überkam mich, ich nahm es, steckte es sofort in meinen Safe und verschloss die Tür, aus Furcht, dass noch etwas Schlimmes passieren könnte.
Erschöpft sank ich in meinen Stuhl zurück, wischte mir mit der Hand über die nasse Stirn. Das alles ergab für mich keinen Sinn, doch meine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bestätigt. Der Teufel war in unsere kleine Stadt gezogen und suchte sie nun mit üblen Nachtmahren heim.
Leider hatte ich noch immer keine Antworten auf meine Fragen bekommen. Zwar hielt ich nun die Aufzeichnungen des Gelehrten in den Händen, doch … etwas hielt mich davon ab, sie wirklich zu lesen. Es ist keine Lüge, wenn ich sage, dass ich mich damals fürchtete.
Ich entschied mich, etwas anderes zu tun, nämlich nachzuforschen, ob es ähnliche Fälle wie die des Gelehrten gab. Der erste Anhaltspunkt wäre in der Heinrich-von-Kleist-Bibliothek, ich ging davon aus, dass sie eventuell ein Buch, wenn auch ein sehr obskures, dazu auf Lager hätten.
Kurze Zeit später machte ich mich auf dem Weg zur besagten Bibliothek, das Notizbuch ließ ich im verschlossenen Tresor, es konnte noch warten. Die Bücherei war nur ein kleiner Spaziergang von fünfzehn Minuten vom Pfarrhaus entfernt, unterwegs traf ich ein paar bekannte Gestalten, die mich freundlich grüßten, doch sobald sie in mein Gesicht blickten, erfror ihr Lächeln und die winkende Hand starb jämmerlich. Wahrscheinlich sah ich wie der fahle Reiter höchstpersönlich aus, ein wandelndes Schreckgespenst. Schnell wandten sich die Menschen von mir ab, ich konnte es ihnen nicht einmal verübeln.
Vor mir erhob sich die Heinrich-von-Kleist-Bibliothek, gebaut im Stil eines Sozialistischen Klassizismus, geprägt von zahlreichen Verzierungen und Verschnörkelungen an den Säulen und der Fassade des Gebäudes. Zuerst hieß es Karl-Otto-Paetel-Bibliothek, das wurde aber schnell revidiert, stellte sich doch heraus, dass der besagte Herr ein sogenannter Nationalbolschewist war und viel Kontakt zu (oppositionellen) Mitgliedern der Hitlerjugend pflegte. Die SED-Führung ließ den Namen dann zu einem marxistischen Klassiker abändern: Friedrich-Engels-Bibliothek, damit konnte man doch nie etwas falsch machen. Passend dazu enthielt die Bücherei größtenteils theoretische Abhandlungen über Marxismus-Leninismus sowie über Literatur im Sozialistischen Realismus und Geschichtsbücher, die im Einklang mit dem Historischen Materialismus waren.
Nach der vermeintlichen Wende wurde der realsozialistische Ballast abgeworfen und die Bibliothek bekam den Namen eines mehr oder weniger bekannten deutschen Dichters. Ich kann mich noch daran erinnern, da ich damals im Gremium saß, das eine neue Bezeichnung ausarbeiten sollte. Wie so oft fielen die üblichen Vorschläge wie Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller und Theodor Fontane, aber diese wurden mit dem Argument abgeschmettert, dass es doch bereits genug Bibliotheken mit diesen Namen gab und das es doch nicht noch mehr bräuchte. Ein anderer schlug Hermann Hesse vor, das stieß aber auf kaum Gegenliebe, da die meisten mit ihm nichts anfangen konnten. Mein Sitznachbar, ein junger Mann aus nationalen Kreisen, warf den Namen Ernst von Salomon in den Raum. Das sorgte für Furore! Er wurde augenblicklich aus dem Gremium entfernt.
Ich schlug am Ende Heinrich von Kleist vor und da es schon ziemlich spät war und niemand mehr Lust hatte, noch länger, als nötig zu diskutieren, wurde der Name mit überwältigender Mehrheit angenommen.
Da bin ich doch glatt ein wenig vom eigentlichen Weg abgekommen, manchmal verliere ich mich in meinen eigenen Erinnerungen, das kann sehr schnell passieren.
Ich betrat die schlecht beleuchtete Bücherei, eine junge Bibliothekarin, eine Studentin aus Potsdam, begrüßte mich freundlich. Nach kurzem Überlegen fragte ich sie, ob es hier Bücher über … seltsame Vorkommnisse gab, merkwürdige Ereignisse, denen Leuten zugestoßen waren. Sie runzelte die hohe Stirn, sie war sich nicht wirklich sicher, worauf ich hinaus wollte. Ich versuchte, ihr zu erklären, dass ich nach paranormalen Geschehnissen suchte, unerklärlichen Dingen, komischen Vorfällen, die nicht rational zu begründen waren.
Sie überlegte kurz, dann erschien ein Aha-Ausdruck auf ihr Gesicht. Die Bibliothekarin sagte mir, dass es ganz hinten eine Abteilung gab, wo es Bücher geben könnte, die vielleicht auf meine Beschreibung passen würden.
Ich dankte ihr und fragte noch nach, da es mir gerade einfiel, was denn der Gelehrte immer gelesen habe, wenn er hier erschien.
Sie schüttelte den Kopf und erklärte, dass sie es beim besten Willen nicht sagen könnte. Der werte Herr Intellektuelle war nicht sehr gesprächig, mehr als ein ›Guten Tag‹ und ›Schönen Tag noch‹ bekam sie nicht von ihm zu hören. In der Regel verzog er sich in dunkle Ecken, wo sie ihn nicht sehen konnte. Dort hielt er sich dann für mehrere Stunden auf, meistens bis zur Schließung der Bibliothek. Sie sah nie, was er genau las und um ehrlich zu sein, interessierte es sie auch nicht. Der Gelehrte störte niemanden, das war das wichtigste für sie.
Ich bedankte mich noch einmal und begab mich dann in die beschriebene Abteilung. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass dieser Gang recht düster und staubig war. Die meisten der dort aufbewahrten Bücher waren kitschige Ramschware, irgendwelche laienhaften Beschreibungen von angeblichen Geistersichtungen, Interviews mit sogenannten ›UFO-Entführten‹, esoterisch-neumodisch-spiritueller Mist über Heilkristalle und Astrologie, schmale Werke über Big Foot und Nessie und den Mothman. Doch zwischen dem ganzen heidnischen New-Age-Kram fand ich ein kleines schwarzes Büchlein mit dem interessanten Titel ›Seltsame Vorkommnisse in Damaskus‹, geschrieben von einem gewissen Howard Arthur Ervin, erschienen im Jahr 1928. Mein Gefühl sagte mir, dass ich in diesem Werk meine Antworten finden werde.
Ich nahm es aus dem Regal raus, setzte mich hin und begann zu lesen. Der Autor, angeblich ein renommierter Historiker, obwohl mir der Name überhaupt nichts sagte, beschreibt Ereignisse, die sich ungefähr im achten Jahrhundert nach Christus in Damaskus zugetragen haben sollen und über die die Geschichtswissenschaft bis heute schweigt. In der syrischen Stadt soll ein Alchemist gelebt haben, der die Lehren des Islams hinter sich ließ und den Versuch unternahm, die großen Rätsel des unendlichen Kosmos zu entschlüsseln. Es wird behauptet, dass er gewissermaßen Erfolg hatte. Er besuchte die Ruinen von Babylon und von Memphis und verbrachte ein einsames Jahrzehnt in der arabischen Wüste.
Seine Erkenntnisse hielt er in einen Folianten aus Leder fest, Gerüchten zufolge aus menschlicher Haut angefertigt. Der Name dieses Buches wie auch des Gelehrten sind im Nebel der Zeit verlorengegangen, doch ihr Erbe und ihr Einfluss wirken bis in die Gegenwart hinein. Ervin zählt mehrere Gelehrte und Forscher auf, die sich auf den mysteriösen Alchemisten beziehen, darunter Ludwig Prinn, Aleister Crowley, Mosche de Leon, Friedrich Wilhelm Conrad von Junzt, Isaak Luria, Giovanni Pico della Mirandola, Guido von List, Karl Maria Wiligut, Julius Evola und, das erstaunte mich sehr, Kurt Heinrich Kuhrt, den bekannten Alchemisten der Stadt. Ich ging immer davon aus, dass er über den Grenzen unserer Gemeinde hinaus quasi unbekannt war, doch hier saß ich in der Bibliothek und sah seinen Namen in einem wissenschaftlichen Buch aus den USA.
Beim Lesen stieß ich dann auf eine Stelle, die mich sehr aufhorchen ließ, da sie mir doch sehr bekannt vorkam. Eines schönen Tages lief der unbekannte Alchemist über den Marktplatz von Damaskus, als er plötzlich von einer unsichtbaren Macht in die Luft gehoben und anscheinend bei lebendigem Leibe von einer unbekannten Kreatur verspeist wurde. Dieser Vorfall wurde von mehreren Augenzeugen geschildert, die das grausige Schauspiel mitansehen mussten. Doch eine wirkliche Bestätigung gibt es nicht. Um die mysteriösen Todesumstände ranken sich viele Mythen und Gerüchte, die Geschichte mit dem angeblichen Monster ist nur eine davon. Es wird auch gesagt, dass er von Moslems getötet wurde oder einfach bei einer weiteren Expedition verschwand.
Mein rationaler Verstand wollte unbedingt den ›normalen‹ Erklärungsversuchen Glauben schenken, doch … das, was ich heute Mittag sah, ähnelte eins zu eins dem, was dem Alchemisten zugestoßen war. Das konnte doch kein Zufall sein! In meinem Kopf begannen sich Zahnräder zu drehen. Ich sah, wie sich ein roter Faden durch Ereignisse schlängelte und diese miteinander verwob. Der arabische Alchemist und der Gelehrte schienen ein ähnliches Schicksal erlitten zu haben, obwohl sie viele Jahrhunderte trennen. Wie in einem Zyklus wiederholte sich dasselbe Ereignis, nur mit anderen Akteuren, zu einer anderen Zeit. Ich sah Parallelen zu Nietzsches Idee der ›Ewigen Wiederkunft‹ und zu Spenglers zyklischem Geschichtsbild … das, was ich sah, war eine wortwörtliche Umsetzung dieser Gedanken.
Ich lieh das Buch aus und verschwand in mein trautes Büro. Dort ließ ich mich in meinen Stuhl fallen, fixierte einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Tür und überlegte. In meiner kleinen Stadt fand ein Ereignis statt, was sich auch in Damaskus vor ungefähr eintausenddreihundert Jahren abspielte. Doch warum? Über was hatte dieser Gelehrte geforscht? Welche Mächte hatte er gegen sich aufgebracht?
All das Rätselraten half mir nicht weiter, ich musste wohl oder übel einen Blick in das Notizbuch werfen, ansonsten würde ich bis zum Jüngsten Gericht im Dunkeln stolpern. Entgegen der lauten Stimme meines gesunden Menschenverstandes, die mich beinahe schon anbrüllte, nahm ich das Buch aus dem Tresor und schlug die erste Seite auf.
Dann geschah etwas Seltsames. Ich blinzelte und schon war es dunkel draußen, vor mir erblickte ich die letzte Seite. So sehr ich mich auch anstrengte, fiel mir kein einziges Wort aus diesem Buch ein. Es war, als wäre mein Gehirn ein leeres Blatt. Verwundert legte ich die seltsame Abhandlung zurück in den Safe, verließ mein Büro, schloss das Pfarrhaus ab und ging verwirrt nach Hause. Die Nacht wirkte an diesem Abend so viel düsterer als sonst, die Schatten so viel intensiver.
Meine Erinnerungen wurden brüchiger, abstrakter. Es fühlte sich so an, als würde eine fremde Intelligenz meinen Körper steuern. Die Tage liefen wie in einem Daumenkino ab. Selbst jetzt kann ich nicht beschreiben, was genau ich eigentlich getan habe. Ich verließ die Stadt, kam wieder, doch wo war ich, wohin zog es mich? Ich besuchte das Majewski-Anwesen, doch nach was suchte ich? Ich las Unmengen von Büchern über diesen arabischen, namenlosen Alchemisten, doch je mehr ich las, desto ratloser wurde ich. Jedes Werk schien das nächste zu widersprechen. Ich sah ferne Orte, fremde, hasserfüllte Sterne. Nachts hörte ich ein Kratzen an meiner Tür. Und diese Stimmen, diese grässlichen Stimmen … Es fühlte sich wie ein zäher, dickflüssiger Traum an. Was sagte ich? Welche Blasphemie schrie ich gen Himmel? Warum mieden mich die Menschen?
Alles begann wieder klarer zu werden, als ich meine Augen öffnete und vor der Gemeinde in der Kirche stand. Es war Sonntag, zehn Uhr dreißig. Meine Schafe schauten mich sorgenvoll an. Mein Anblick muss grässlich gewesen sein. Ich hatte schon lange in keinen Spiegel mehr gesehen, die in meinem Büro und bei mir Zuhause waren von mir (War ich es? Ich bin mir nicht mehr sicher) zerschlagen worden.
Ich suchte nach Worten und dachte mir, dass es für den Anfang gut sei, aus dem Matthäusevangelium zu zitieren, damit konnte man eigentlich nichts falsch machen. Doch als ich nach der Bibel auf dem Tisch griff, musste ich erschrocken feststellen, dass dort stattdessen die Aufzeichnungen des Gelehrten lagen, aufgeschlagen auf Seite dreiunddreißig. Hatte ich etwas daraus vorgelesen? Ich wich zurück und schaute in die Gemeinde. Vor meinen Augen spielten sich schreckliche Szenen ab. Rotes Licht strömte aus den Buntglasfenstern. Grässliche Kreaturen massakrierten die Menschen in der Kirche. Sie schrien, sie flehten, doch niemand erhörte sie. Krallen bohrten sich in Innereien, Blut bedeckte den Holzboden. Höllisches Kreischen dröhnte in meinen Ohren.
Eines der Wesen starrte mich an, es war die Perversion eines Engels. Ein Amalgam aus Flügeln und Händen, Räder mit Augen, die sich langsam um ein glühendes Zentrum drehten, in dessen Mitte sich ein dizephalischer Engerling befand, sein weißer Leib pulsierte wie ein Herz. Ein unheiliges Gyroskop … und es sprach. Es erzählte mir das Geheimnis dieser Stadt.
Ich stürmte aus der Kirche, in der Hoffnung, dass die Schrecken mich nicht verfolgten. Hilflos auf dem Boden liegend drehte ich mich langsam um, doch wider Erwarten fand ich die Burg Gottes im normalen Zustand vor. Kein Blut, kein Licht, keine Monster. In meiner Hand hielt ich fest umklammert das schwarze Buch.
Ich wollte verschwinden, bloß weg aus dieser Stadt. Hier waren Mächte am Werk, die die Kraft des bloßen Teufels bei weitem überstiegen. Doch ich konnte nicht, es ließ mich nicht, meine Aufgabe, von der ich zu diesem Zeitpunkt nichts wusste, war noch nicht erfüllt. Und egal, was ich tat, in welchen Bus und in welchen Zug ich auch immer stieg, ich kam immer zurück. Ich rannte aus der Stadt und landete am anderen Ende. Ich war ein Gefangener.
Ich zog mich in das Pfarrhaus zurück, verriegelte die Türen, riss die Telefonkabel aus den Wänden, schaltete den Strom ab, zündete Kerzen an, betete und betete und betete. Jedes Kreuz, was ich finden konnte, hing ich mir um oder befestigte es anderweitig an meinen Körper. Ich las jeden Psalm, jeden Bannspruch, fragte sogar die Heiligen und die Mutter Gottes um Rat. Entgegen den Gesetzen des Herrn ritzte ich mir Symbole in die Haut. Ich bat um Beistand, um Sicherheit, um Schutz, ich bat um Vergebung etwaiger Sünden, die ich begangen haben könnte. Ich fragte den Vater, warum er mir das antat, was ich getan hätte, damit ich dieses Schicksal verdiente. Ich schrie die Bildnisse unseres Herrn Jesus Christus an, doch ich bekam nur einen leeren Blick zurück, nur Stille als Antwort.
Ich änderte meine Taktik, ich flehte, ich feilschte und verhandelte. Ich versuchte es, als Prüfung zu sehen, die mir der Herr auferlegt hatte. Ich versuchte zu tauschen, meine Seele freizukaufen, fragte Ihn, ob Er ein Opfer verlange, so wie es die alten Bräuche taten. In einem Moment der Schwäche dachte ich, dass die Katholiken vielleicht doch recht hatten, vielleicht waren wir Protestanten unverbesserliche Sünder, die vom Pfad abgekommen waren. Vielleicht war Martin Luther der Anti-Christ und verdiente es, auf dem Scheiterhaufen elendig zu sterben.
Ich nahm all meine evangelischen Bücher, die theologischen Abhandlungen, die Bilder von berühmten Protestanten und verbrannte sie in meinem Büro. Der Rauch trieb mir die Tränen in die Augen, doch ich atmete ihn tief ein. Nur Leid konnte mich noch retten. Ich legte meine Hände ins Feuer, spürte, wie die Hitze das Fleisch wegschmolz, wie die Haut kochte. Mit brennenden Holzstücken gab ich mir selbst Brandmale, in der Hoffnung Absolution zu erhalten. Es fiel mir schwer, da ich meine schmerzenden Hände kaum noch bewegen konnte.
Mein Martyrium dauerte wahrscheinlich Tage, so genau weiß ich es nicht, es ist eine beinahe unmögliche Aufgabe, diese Zeit zu rekonstruieren. Ich konnte tun, was ich wollte, nichts half, Gott blieb stumm. Er erhörte meine Gebete nicht, er ignorierte mein Flehen. Doch im Nebel des Schmerzes antwortete etwas anderes. Es flüsterte mir Geheimnisse zu, es sagte mir, was zu tun sei, damit ich Erlösung finden konnte. Ich verstand. Ich weiß, was es wollte.
Es befahl mir, mich auf dem großen Hügel außerhalb der Stadt zu positionieren, angeblich hat schon Napoleon auf dieser Erderhöhung gestanden, als er die Stadt 1806 einnahm.
Da befand ich mich nun auf diesem kleinen Berg, ich konnte meine Heimat überblicken, die ruhigen Wälder, die Bauernhöfe in der Nähe, die Felder, in der Ferne die Ruinen des Kohleabbaugebietes, ich sah am Rande der Stadt das Majewski-Anwesen. Über mir wirbelten dunkle Wolken, meine Kutte wehte im kühlen Wind. Ich hielt das verfluchte Buch in der Hand, der Schmerz war unerträglich, und schlug es auf. Mein Blick war klar, meine Augen geöffnet. Ich erkannte nun, was die Stadt plagte, was sie heimsuchte.
Ein letztes Mal, bevor es wirklich losging, atmete ich tief ein, innerlich bat ich den Herrn um Vergebung für meine Tat und begann den Text aus den Aufzeichnungen des Gelehrten vorzulesen. Woran er gescheitert war, woran so viele gescheitert waren, sollte ich zu Ende bringen.
Meine Zunge fühlte sich wie ein parasitärer Fremdkörper an, sie formte unmögliche Worte, die der Wind davontrug. Ich erinnere mich, dass etwas … antwortete. Ein Beben lief durch den Boden, ein lautes Knurren ertönte. Unter der Stadt schlief etwas Uraltes – tief unter der Erde schlief und träumte ein Demiurg, die Larve eines toten, primordialen Gottes. Bald schon wird dieses unfertige Wesen hervorbrechen, seine Flügel ausstrecken. Es wird sich in die Lüfte erheben und ein neues Zeitalter einläuten.
Ich wandte mich ab, meine Aufgabe war so weit erfüllt. Ich wanderte davon. In dieser glaubenslosen Zeit mangelt es an Propheten, ich übernehme gerne diese Rolle. Schließlich muss jemand die kommende Ära verkünden. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Menschen warnen oder sie darauf vorbereiten möchte. Der Herr möge mir beistehen, der Herr möge mir verzeihen.
Die Sonne ging unter und ein schwarzes Feuer verschlang die schlafende Stadt. Die Asche wird der Nährboden für den neuen Gott sein.

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