1. Einleitung
Die beiden Figuren Dorian Gray (Das Bildnis des Dorian Gray, 1891, von Oscar Wilde) und Patrick Bateman (American Psycho, 1991, von Bret Easton Ellis) haben mehr als nur ein paar Gemeinsamkeiten. Beide stammen aus einem wohlhabenden Elternhaus. Gray ist der Abkömmling einer reichen Familie (Vgl. Wilde 2021, 46f.), Bateman der Sohn eines vermögenden Wall-Street-Unternehmers, in dessen Firma Bateman auch arbeiten darf (Vgl. Ellis 2021, 330). Beide sind attraktive Männer, Patrick Bateman wird oftmals fälschlicherweise von anderen Figuren für ein Model oder einen Schauspieler gehalten (Vgl. Heuer 2011, 177). Christian Bale, der Schauspieler, der Bateman in der US-amerikanischen Buchverfilmung zu „American Psycho“ verkörperte, sagte gar: „Für mich ist Bateman eine Art Dorian Gray des 20. Jahrhunderts“ (Biebl 2000).
Die Gemeinsamkeiten sind offensichtlich, doch gibt es noch einen weiteren Faktor? Die Hausarbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob beide Figuren, Gray und Bateman, wahnsinnig sind, beziehungsweise an Wahnsinn leiden.
Im ersten Kapitel erarbeite ich eine Definition für „Wahnsinn“, dabei gehe ich sowohl auf kulturgeschichtliche als auch literarische Aspekte ein. Auf Grundlage der Definition werden die beiden Figuren Gray und Bateman in den darauffolgenden Kapiteln analysiert.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Figur Dorian Gray. Ich beziehe mich auf die deutsche Ausgabe von Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ von 2021.
Im dritten Kapitel geht es um die Figur Patrick Bateman und dessen Wahnsinn. Dabei beziehe ich mich auf die deutsche Ausgabe von „American Psycho“, die ebenfalls aus dem Jahr 2021 stammt.
Abschließend fasse ich die Erkenntnisse zusammen und der „Wahnsinn“ der beiden Figuren miteinander verglichen, dabei sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet sowie Schlussfolgerungen gezogen werden.
Der Begriff des „Wahnsinns“ ist gut erforscht, z.B. durch die Werke von Roy Porter und Susanne Rohr. Auch zu „Das Bildnis des Dorian Gray“ und „American Psycho“ lassen sich viele wissenschaftliche Aufsätze finden, wie z.B. von Claudia Heuer und Hans Meyer. Ein Vergleich der beiden Hauptfiguren hinsichtlich des Aspekts des „Wahnsinns“ fand jedoch in der Wissenschaft bisher nicht statt.
2. Wahnsinn – eine Definition
Roy Porter schreibt in seinem Werk „Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte“ folgendes: „Der Wahnsinn ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst“ (Porter 2007, 16). Bereits in frühen Heldengeschichten und religiösen Mythen erscheint der Wahnsinn oftmals als Strafe oder Schicksalsschlag (Vgl. ebd.). Porter schreibt, dass „Grausamkeit, Kummer, Blutgier und Kannibalismus […] gemeinhin mit Geisteskrankheit assoziiert [wurde]“ (Ebd.).
Für die Menschen der frühen Zivilisationen lag der Ursache des Wahnsinns in übernatürlichen Phänomenen wie böse Geister oder Teufelsbesessenheit. Erst die hippokratischen Lehren änderten das, sie verstanden Krankheiten als Teil der Natur und schlossen somit übernatürliche Kräfte konsequent aus. Die hippokratische Medizin glaubte an das Modell der Körpersäfte („Humores“), Krankheit und Gesundheit wurden durch das wechselnde Gleichgewicht der Säfte hervorgebracht. Die Medizin kannte vier Säfte: Blut, gelbe Galle („chole“), Schleim („phlegma“) und schwarze Galle („melaina chole“). Ein Übermaß an gelber Galle oder Blut konnte zum Wahnsinn führen. Mithilfe des Lebenswandels oder chirurgischen Eingriffen (z.B. Aderlass) konnten die Säfte wieder ins Gleichgewicht gebracht und die Person von der „Störung“ befreit werden (Vgl. ebd., 38-45).
Diese Sichtweise änderte sich dann wieder im 17. Jahrhundert. Der Philosoph John Locke argumentierte, dass Irrglaube bzw. Wahnsinn ein Produkt fehlerhafter Ideenassoziationen sei (Vgl. ebd., 61), „Irrsinn sei daher, weder teuflisch noch humoral, sondern im Kern wahnhaft, ein Fehler des Erkenntnisvermögens“ (Ebd.). Folglich brachten die Philosophen des 17. Jahrhunderts Wahnsinn nicht mehr mit Säften, Leidenschaften oder gar mit Dämonen in Verbindung, sondern mit Irrationalität (Vgl. ebd., 62), „in ihren Modellen war das rationale Selbst der Garant für einen gesunden Geist“ (Ebd.).
Die Vorstellungen von Geisteskrankheit und Wahnsinn blieben aber weiterhin abstrakt und theoretisch. Erst mit dem Aufkommen von psychiatrischen Anstalten im 18. Jahrhundert konnten Mediziner und Ärzte umfassende Beobachtungen an Patienten durchführen. Nahmen sie vorher an, dass Wahnsinn nichts anderes war als „Bestialität“, änderte sich das Bild von Wahnsinn hin zu einer Form von Krankheit, die geheilt werden kann (Vgl. ebd., 100). Die Ärzte vermuteten sie auch nicht mehr „irgendwo im Himmel, sondern im Soma“ (Ebd., 121), d.h. die Ursache „des Wahnsinns war organischer Natur“ (Ebd.).
Aus dieser Erkenntnis entwickelte sich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts die Theorien der Psychoanalyse. Größter Theoretiker dieser Denkschule ist Sigmund Freud, der in seinem Werk „Die Traumdeutung“ (1900) die Gedanken formulierte, dass die Unterdrückung der unbewussten Geisteszustände zu Neurosen führt (Vgl. ebd., 185).
Ein anderer Psychoanalytiker namens Eugen Bleuler vertrat die Auffassung der „Schizophrenie“, nach der Patienten an verwirrten Gedanken, Halluzinationen und Einbildungen leiden (Vgl. ebd., 187). „Schizophrene“ seien laut Bleuler „merkwürdig, verwirrend, unergründlich, unheimlich, unfähig zur Einfühlung, finster, angsteinflößend“ (Eugen Bleuler, zit. nach Porter 2007, 187).
In der heutigen Zeit ist „Wahnsinn“ ein vieldeutiges Konzept, das Verhaltensweisen umfasst, die als „abnormal“ gesehen werden. Gemeinhin ist der „Wahnsinn“ zwischen zwei Faktoren angesiedelt: der „geistigen Verfassung“ (Geisteskrankheiten, ungeklärte psychische Zustände) und dem „problematischen Sozialen“ (deplatzierte, amoralische Verhaltensweisen, abweichendes Verhalten, extreme soziale Verwundbarkeit). Laut dem kanadischen Soziologen Marcelo Otero sind diese beiden Welten untrennbar miteinander verbunden. Allgemein wird auch heutzutage, zumindest in der Medizin, eher von „psychischer Störung“ als von „Wahnsinn“ gesprochen (Vgl. Tarantini 2022).
In der Literatur beeinflusst der Wahnsinn erheblich das Handlungsschema von Schuld und Sühne. Er ermöglicht die Darlegung der pathologischen Entwicklung einer Figur und zeigt eine mögliche psychologische Begründung für den Zusammenbruch einer Figur (Vgl. Daemmerich 1995, 368). Im Handbuch „Themen und Motive in der Literatur“ steht geschrieben: „Er ist der Illusionsträger, der Zuschauer und Leser in das Geschehen verwickelt, und zugleich distanzierendes Stilelement, das die kritische Auseinandersetzung mit dem fiktiven Geschehen einleitet“ (Ebd.).
„Wahnsinn“ kann sowohl als Thema als auch als Motiv häufig zusammen mit anderen Themen/Motiven wie „Rache“, „Halluzination“ oder „Blutrache“ in sekundärer Verwendung erscheinen (Vgl. ebd.).
Besonders überzeugend wirkt das Motiv in Texten, „die den geistigen Zusammenbruch einer Figur als Ergebnis unerträglicher seelischer Belastung deuten“ (Ebd., 370).
Zu den Stilmitteln des Motivs, die besonders wirksam sind, gehören, z. B. Ausrufe, Satzfragmente und entsetzliche Wandlungen im Auftreten der Figur (Vgl. ebd., 371).
Was ist nun Wahnsinn? Die Frage lässt sich nicht leicht beantworten. Susanne Rohr und Lars Schmeink schreiben, „dass die Kategorien ‚Wahnsinn‘ und ‚Vernunft‘ sozial etablierte Normen sind, die mit Leichtigkeit verschoben werden“ (Rohr; Schmeink 2011, 1). Alexander Meier-Dörzenbach erklärt, dass „Wahnsinn“ ein Sammelbecken für verschiedene psychische Störungen ist: „Schizophrenie, Exzentrik und Epilepsie, Unvernunft und Aufsässigkeit, manische Agitation und komatöse Lethargie, Vision und Ekstase“ (Meier-Dörzenbach 2011, 9). „Wahnsinn“ wird immer als Gegensatz, ob nun zu Gott, Moral, Vernunft oder Gesundheit definiert (Vgl. ebd., 20). Oder einfacher gesagt: „Wahnsinn ist ‚das Andere‘“ (Ebd.).
Für die Arbeit verwende ich folgende Arbeitsdefinition: Bei Wahnsinn handelt es sich um eine psychische Krankheit, die gekennzeichnet ist durch Halluzinationen, unvernünftiges Handeln, Unfähigkeit zum Mitgefühl, Persönlichkeitsstörungen und abnormales Verhalten (extreme Gewaltausbrüche, Kannibalismus, Tötungsverlangen, sehr auffälliges Verhalten in der Öffentlichkeit, usw.).
3. Dorian Gray (Das Bildnis des Dorian Gray)
„Das Bildnis des Dorian Gray“ von 1891 ist der einzige Roman des irischen Schriftstellers Oscar Wilde (Vgl. Mayer 2000, 234). Das Werk handelt von einem hübschen jungen Mann namens Dorian Gray, dessen Freund, der Maler Basil Hallward, ihm ein Bildnis anfertigt, das aus unerklärlichem Grund nun an seiner Stelle altert und hässlich wird, während Dorian jung und ansehnlich bleibt. Die Handlung des Romans wird aus der Sicht eines hetereodiegetischen Erzählers geschildert (Vgl. Wilde 2021).
Hans Meyer trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er Dorian Grays offensichtlichste Persönlichkeitsstörung beschreibt: „Dorian liebt nichts als das eigene Bildnis. Er ist Narziß [sic!]“ (Mayer 2000, 235). Im Roman wird das besonders deutlich. Als Dorian bemerkt, dass das Gemälde die „Last seiner Schande“ (Wilde 2021, 138) für ihn trägt, sieht er darin nur positives für sich selbst. Das Bild würde hässlich und alt werden, er hingegen bleibe für immer schön (Vgl. ebd.), „[n]icht ein Pulsschlag seines Lebens würde je schwächer werden. Wie die Götter der Griechen würde er stark und flink und heiter bleiben“ (Ebd., 140). Das Gemälde, sein eigenes gemaltes Spiegelbild, fasziniert ihn so sehr, dass er „in kindischer Nachahmung des Narziss“ (Ebd., 138) versucht, die Lippen zu küssen. Jeden Tag sitzt er vor dem Kunstwerk und bestaunt seine eigene Schönheit, verliebt sich sogar fast in sich selbst (Vgl. ebd., 139).
Dass Dorian unfähig ist, andere als sich selbst zu lieben und eine stabile Beziehung aufzubauen, wird auch in seinem Verhalten gegenüber Sybil Vane, einer jungen armen Schauspielerin, deutlich. Dorian „verliebt“ sich zwar in sie, doch als er seine beiden Freunde mit ins Theater nimmt, um die Schauspielkünste seiner „Angebeteten“ zu demonstrieren und sie überraschenderweise miserabel spielt, reagiert er mit unverhältnismäßiger Wut. Er wirft ihr vor, ihn blamiert zu haben (Vgl. 113-116) und sagt ihr offen: „Du hast meine Liebe getötet“ (Ebd., 114).
Er hat sich nicht in die Person Sybil Vane „verliebt“, sondern in die Illusion einer Kunstfigur, die er sich in den Kopf gesetzt hat. Und als diese Erwartung nicht erfüllt wurde, reagierte er mit Zorn und Wut. Er sagt: „Du bedeutest mir nichts mehr. Ich will dich nie wiedersehen. Ich will nie mehr an dich denken. […] Ohne deine Kunst bist du nichts. […] Ich will nicht unfreundlich sein, aber ich kann dich nicht wiedersehen. Du hast mich enttäuscht“ (Ebd., 115f.).
Später denkt er zwar über sein Verhalten gegenüber seiner „Geliebten“ nach, doch rechtfertigt er seine Reaktion auch: „Aber auch er hatte gelitten. Während der drei schrecklichen Stunden, die das Stück gedauert hatte, hatte er Jahrhunderte der Qual durchlebt, Äon um Äon der Folter“ (Ebd., 120).
Als ihm gesagt wird, dass Sybil Vane sich umgebracht hat, zeigt er zwar Bestürzung und Entsetzen (Vgl. ebd., 129f.), doch auch das hält nicht lange. Er geht mit seinem Freund Lord Henry in die Oper und vergnügt sich dort (Vgl. ebd., 142). Als Basil ihn damit konfrontiert, sagt er: „Was vergangen ist, ist vergangen“ (Ebd.). Der Selbstmord ist am gestrigen Tag passiert (Vgl. ebd.).
Auch gegenüber anderen Leuten, denen er Unrecht angetan hat, zeigt er kein Mitleid. Weder bei seinem Freund Basil Hallward, den er ermordet, noch bei Alan Campbell, der sich selbst umbringt, nachdem er von Dorian dazu erpresst wurde, die Leiche des Malers zu beseitigen. Dorian gibt sogar seinen Opfern selbst die Schuld an ihrem Schicksal (Vgl. ebd., 281). Bei James Vane, der seine Schwester rächen wollte, entfährt Dorian gar ein „Freudenschrei“, als er die Leiche des jungen Mannes sieht (Ebd., 266).
Der Mord an Basil Hallward markiert eine starke Wendung in Dorians Persönlichkeit. Es ist der erste und einzige genannte blutige Gewaltausbruch der Hauptfigur, doch dieser sticht besonders aus der Handlung hervor. Basil besucht Dorian, um ihn von seinem schlechten Lebenspfad abzubringen, da er üble Gerüchte über ihn gehört hat (Vgl. ebd., 190-198). Dorian möchte davon nichts hören. Basil möchte seine Seele sehen, Dorian will sie, mit „seiner Seele“ meint er das Gemälde, seinem Freund zeigen. Er verspottet Basil und sagt, dass er seine Seele selbst erschaffen habe (Vgl. ebd., 195-198). In jedem seiner Worte „lag der Wahnsinn des Hochmuts“ (Ebd., 197). Dorian zeigt Basil das veränderte Gemälde, woraufhin der Maler mit Entsetzen reagiert (Vgl. ebd., 200ff). Sein Freund möchte mit ihm gemeinsam beten, doch Dorian hört nicht zu (Vgl. ebd., 202f.). Plötzlich überkommt ihn ein „unbezwingbares Gefühl des Hasses“ (Ebd., 203), er schnappt sich ein Messer und sticht mehrmals auf Basil ein, solange bis dieser sich nicht mehr rührt (Vgl. ebd., 203f.). Den Mord vertuscht er (Vgl. ebd., 204-207). Die Tat scheint ihn zwar zu verfolgen (Vgl. ebd., 209ff.), doch, wie bereits erwähnt, zeigt er keine Reue und kein Mitleid.
Kapitel 16 ist besonders interessant. Hier verliert Dorian Gray langsam aber sicher den Bezug zur Realität, wahrscheinlich ausgelöst durch den ständigen Drogenkonsum und die Erinnerung an seine schrecklichen Taten. Er ist auf dem Weg zu einer Opiumhöhle, „in denen man das Vergessen kaufen, Höhlen des Grauens, in denen die Erinnerung an alte Sünden durch den Wahnsinn neuer Sünden ausgelöscht werden konnte“ (Ebd., 236). Die Beschreibungen des Weges gleichen einer wahren Alptraumwelt. Der Mond wird als ein „gelber Schädel [,der] tief am Himmel“ (Ebd.) hängt, beschrieben. Hinter Vorhängen sieht Dorian Personen, die sich bewegen „wie riesenhafte Marionetten und gestikulierten wie lebendige Wesen“ (Ebd., 237). Diese Erlebnisse können als Halluzinationen interpretiert werden.
Dorian selbst verhält sich auch abnormal. Seine Hände zittern, Hunger nach Opium nagt an ihm. Er schlägt mit seinem Spazierstock auf das Pferd des Kutschers ein, dieser lacht, doch als er das wahrscheinlich manische Lachen Dorians hört, verstummt der Mann wieder (Vgl. ebd.).
In Dorians Kopf wiederholt sich ein Satz, den Lord Henry ihm beigebracht hat, immer und immer wieder: „Die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele heilen“ (Ebd., 236). Wie ein Mantra wiederholt er es, um die „blutige Tat“ wieder zu vergessen, „die zerbissenen Lippen Dorian Grays [formten] in grässlicher Wiederholung wieder und wieder jene eindringlichen Worte, die von Seele und Sinnen handelten“ (Ebd., 238).
Die letzte „Wahnsinnstat“ Dorian Grays ist, dass er sich sein Messer nimmt und, in einem plötzlichen Anflug von Hass, auf das Gemälde einsticht. Dorians Verstand ist am Ende völlig von der Wirklichkeit abgekoppelt, in seinem Wahn glaubt er, wenn er das Gemälde „tötet“, würde er auch die Vergangenheit „töten“ und somit frei sein (Vgl. ebd., 284). Das Messer würde, „[s]o, wie es den Maler getötet hatte, so würde es das Werk des Malers töten und alles, was es bedeutete“ (Ebd.).
Später finden seine Diener auf dem Dachboden das unversehrte Gemälde und ihren erstochenen Herrn (Vgl. ebd., 284f.).
4. Patrick Bateman (American Psycho)
Bei „American Psycho“ handelt es sich um den dritten Roman von Bret Easton Ellis, der 1991 veröffentlicht wurde. In dem Werk geht es um den Wall-Street-Unternehmer Patrick Bateman und seine im Laufe der Handlung immer surrealer, psychotischer und brutaler werdenden Erlebnisse. Der Plot wird aus der Sicht eines unzuverlässigen, autodiegetischen Erzählers geschildert. An keiner einzigen Stelle im Roman wird die subjektive Perspektive durch eine auktoriale Stimme korrigiert (Vgl. Heuer, 169).
Ähnlich wie Dorian Gray ist auch Patrick Bateman ein Narzisst. Er liebt sein Äußeres über alles. Wenn er sich im Spiegel betrachtet, lächelt Bateman sich selbst zu (Vgl. Ellis 2021, 24) oder bemerkt „wie gut doch der Haarschnitt aussieht, den sie mir letzten Mittwoch bei Gio‘s gemacht haben“ (Ebd., 25). Doch sollen auch andere bemerken, wie gutaussehend er ist. Er legt die Hand seiner Freundin Evelyn auf seinen Bauch, damit sie bemerkt, „wie stahlhart, wie durchtrainiert [sic!]“ (Ebd., 40) sein Bauch ist. Beim Besuch seiner Hauttechnikerin lässt er bewusst den Kittel, den er eigentlich tragen soll, in der Duschkabine zurück, da „ich will, dass Helga meinen Körper sieht, meine Brust bemerkt, sieht, wie verdammt straff [sic!] meine Bauchmuskeln geworden sind“ (Ebd. 164). Sollte es auch nur den Anschein eines Zweifels an seinem Äußeren geben, reagiert er mit Wut und Entsetzen (Vgl. ebd., 459).
Im Laufe des Romans demonstriert Bateman immer wieder, dass er anscheinend an einem Tick oder unter einer Zwangshandlung leidet. Jedes Mal, wenn er eine Person sieht, beschreibt er, was der Mensch trägt und von welcher Marke die Kleidung ist (Vgl. ebd., 15, 26, 95, 122, 345f.). Er zählt häufig auf, welche Markenkleidung er selbst trägt (Vgl. ebd., 153). Als Bateman sich einmal in einer Videothek aufhält, bekommt er plötzlich einen Anfall. Ihm ist unerträglich heiß, sein Kopf nickt unkontrolliert und er muss ständig schlucken. Der Anfall scheint sich erst wieder zu beruhigen, als Bateman unauffällig über den Counter späht und die Schuhe der Kassiererin betrachtet (Vgl. ebd., 162), doch „es ist zum Verrücktwerden, es sind nur Sneakers – nicht K-Swiss, nicht Tretorn, nicht Adidas, nicht Reebok [sic!], nur irgendwelche ganz billigen“ (Ebd.).
Besonders auffällig ist Batemans Hang zu Gewalt. Manifestiert er sich am Anfang des Romans erst nur in der Form von Gedanken: „Ich trage ein Messer mit gezackter Klinge […] und habe gute Lust, McDermott direkt hier in der Eingangshalle abzustechen“ (Ebd., 80) oder „[i]ch habe noch nie einen Molotowcocktail geworfen und beginne mich zu fragen, wie man da vorgeht“ (Ebd., 121), eskaliert es zunehmend in immer brutaler werdenden Ausbrüchen. Bateman foltert einen Obdachlosen und sein Haustier (Vgl. ebd., 187f.), er quält einen Hund zu Tode (Vgl. ebd., 198), foltert Prostituierte (Vgl. ebd., 248), tötet einen zufällig vorbeifahrenden Fahrradboten (Vgl. ebd., 254), er schlägt ein obdachloses Mädchen zusammen (Vgl. ebd., 298) und missbraucht sie sexuell nur nicht, weil sie „zu hässlich [ist], um sie zu vergewaltigen“ (Ebd.), Bateman ermordet seinen Kollegen Paul Owen mit einer Axt (Vgl. ebd., 302ff.) und tötet ein Kind in einem Zoo (Vgl. ebd., 413). Die Beispiele sind noch viel zahlreicher und lassen sich beinahe endlos fortführen. Bateman beschreibt all seine grausigen Taten in übermäßigen Details und ohne Gefühl, er zeigt weder Reue noch Mitleid. Manchmal gehen monotone Beschreibungen des Alltags und des Inventars nahtlos in Gewaltausbrüche über, nur um dann wieder wie mit einem Fingerschnippen in die „Normalität“ zurückzukehren (Vgl. ebd., 254f.).
Bateman zeigt auch hin und wieder Tendenzen zu Kannibalismus. Bei einer Prostituierten, die er ermordet hat, „fehlen der rechte Arm und große Bissen aus dem rechten Bein“ (Ebd., 403). Bei einer anderen Frauenleiche frisst er das Gehirn und streicht sogar Senf über Fleischklumpen (Vgl. ebd., 452), „[s]päter liegen der Oberschenkelknochen des Mädchens und Reste des Kiefers schmorend im Ofen“ (Ebd., 455). Bei einem anderen Opfer schiebt er sich ihre Eingeweide in den Mund, überlegt ihr Blut zu trinken, gräbt sein Gesicht tief in den aufgerissenen Bauch und verarbeitet das Fleisch zu Wurst (Vgl. ebd., 475ff.).
Er leidet auch zunehmend unter dem Verlust der Wirklichkeit. Im Kapitel „Flüchtiger Blick auf einen Donnerstagnachmittag“ bekommt Bateman einen Anfall, weil er sich nicht mehr daran erinnern kann, mit wem er eigentlich Mittag essen war. Die Erzählung verliert dabei ihre komplette Kohärenz. Er führt Telefonate, die keinen Sinn ergeben und läuft orientierungslos in den Straßen umher. Das Kapitel endet in einem jüdischen Restaurant, wo Bateman einen Cheeseburger bestellt, den er aber nicht bekommt, da das Gericht nicht „koscher“ ist, was er nicht begreift. Interessant ist, dass das Kapitel sowohl mitten im Satz anfängt und auch mittendrin einfach abbricht (Vgl. Ellis 2021, 211-216; vgl. Heuer 2011, 176).
Gespräche scheinen auch nicht so stattzufinden, wie Bateman sie erlebt. Wenn er etwas erzählt, meistens im Zusammenhang mit seinen Morden, reagieren die Leute entweder nicht (Vgl. Ellis 2021, 169f., 298) oder antworten auf etwas, was er überhaupt nicht gesagt hat (Vgl. ebd., 288). Er sagt auch selbst, dass er bei Gesprächen Schwierigkeiten hat, sein „derangiertes Ich im Zaum zu halten“ (Ebd., 417).
Es ist auch anzunehmen, dass das ganze Kapitel „Chase, Manhattan“ sich nur im Kopf des Protagonisten abgespielt hat. Es beginnt damit, dass Bateman einen Saxophonspieler mit einer Magnum tötet, doch der laute Schuss alarmiert die Polizei. Dadurch entfaltet sich eine Verfolgungsjagd, in der Bateman mehrere Polizisten tötet und einen Polizeiwagen zum Explodieren bringt. Er flieht in das (falsche) Bürohaus, tötet den Portier und den Hausmeister, rennt aus der Lobby in das (richtige) Bürohaus von P&P, wo er sich in seinem Büro verschanzt, umzingelt von Helikoptern und Sondereinsatzkommandos. Er ruft seinen Anwalt an und gesteht alle Morde (Vgl. ebd., 478-486).
Merkwürdigerweise wechselt in diesem Kapitel zum ersten und letzten Mal Patricks Perspektive von einer Ich- zu einer Er-Form (Vgl. ebd., 481-485). Der Wechsel beginnt mit der Verfolgungsjagd und endet erst wieder in der „Sicherheit seines Büros“ (Heuer 2011, 181). Gut möglich, dass Bateman hier tatsächlich nur eine Fantasie erlebt und deshalb von sich in der dritten Person spricht.
Das Kapitel hat auch kaum Auswirkungen auf das restliche Geschehen im Roman. Es gibt keine Konsequenzen für Bateman, es gibt keine Nachrichten über den Amoklauf (weder im Fernsehen noch in den Zeitungen) und auch keine der Figuren bemerkt oder kommentiert diese Episode. Der Anwalt von Bateman hält den Anruf nur für einen Witz (Vgl. Ellis 2021, 534f.).
Bateman wird auch von anderen Halluzinationen geplagt. So beschreibt er, dass sein Geldautomat angefangen hat, mit ihm zu sprechen und ihm merkwürdige Botschaften wie „Töte den Präsidenten“ (Ebd., 544) übermittelt oder dass ihn eine sprechende Parkbank verfolgt (Vgl. ebd.).
5. Schlussbetrachtung
Im Folgenden möchte ich nun meine Argumentation zusammenfassen und eine Schlussfolgerung daraus ziehen.
Beginnen werde ich mit Patrick Bateman. Dass er an „Wahnsinn“ leidet, ist recht offensichtlich. Er hat eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, verspürt kein Mitleid für seine Opfer, keine Reue für seine Taten. Seine Gewaltausbrüche sind zahlreich, brutal und willkürlich. Er legt extrem abnormales Verhalten an den Tag wie Kannibalismus und ausufernde Gewalt- und Mordfantasien. Bateman leidet an Zwangshandlungen und Halluzinationen, auch muss angenommen werden, dass viele seiner Taten sich nur in seinem Kopf abspielen. Unabhängig davon ist Patrick Bateman das Paradebeispiel eines „wahnsinnigen Serienkillers“.
Wie ist es bei Dorian Gray? Das lässt sich nicht so leicht beantworten, wie es bei Bateman der Fall ist. Dorians Wahnsinn ist schwerer zu entdecken, weitaus subtiler, doch ich meine, dass er definitiv vorhanden ist. Dorian ist narzisstisch, beinahe empathielos und unfähig andere außer sich selbst zu lieben. Er zeigt einen heftigen Gewaltausbruch (die Ermordung Basils), den er bis zum Ende hin nicht bereut. Im Gegenteil, er gibt sogar seinem Opfer die Schuld. Er verliert zunehmend den Bezug zur Realität, wie es in Kapitel 16 deutlich wird, wo er auch unvernünftiges und abnormales Verhalten zeigt und vernichtet sich am Ende in einem letzten Anflug von Wahnsinn selbst.
Wo liegen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Beide Figuren sind narzisstische Persönlichkeiten und unfähig, Mitleid, Empathie oder wahre Liebe zu empfinden. Beide neigen zu Gewalt, beide verlieren zunehmend im Verlaufe ihrer jeweiligen Handlungen den Bezug zur Realität.
Der wesentliche Unterschied ist, dass Batemans Wahnsinn ausgeprägter und stärker ist. Er ermordet weitaus mehr Menschen, foltert und vergewaltigt hemmungslos. Während bei Dorian Gray die Ausübung physischer Gewalt eher die Ausnahme ist, so ist sie bei Patrick Bateman die Norm, dessen Verstand bedeutend derangierter ist.
Leidet Dorian Gray an Wahnsinn? Aus meiner Sicht ja, aber er ist erheblich schwächer und subtiler als bei der Hauptfigur aus „American Psycho“.
Ist Patrick Bateman der Dorian Gray des 20. Jahrhunderts, so wie Christian Bale es behauptet hat? Ja, definitiv. Er ist das verzerrte Spiegelbild des jungen Schönlings.
6. Quellen- und Literaturverzeichnis
- Biebl, Elmar (2000): Christian Bale. „Mein Bateman ist lächerlich.“ Verfügbar unter: https://www.spiegel.de/kultur/kino/christian-bale-mein-bateman-ist-laecherlich-a-92061.html [Aufgerufen am 06.03.2022].
- Daemmerich, Horst S.; Daemmerich, Ingrid G. (1995): Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2. Auflage. Tübingen; Basel: Francke Verlag.
- Ellis, Bret Easton (2021): American Psycho. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch.
- Heuer, Claudia (2011): Facetten der Unzuverlässigkeit. Ein psychopathischer Mörder als satirischer Erzähler in American Psycho. In: Rohr, Susanne; Schmeink, Lars (Hrsg.): Wahnsinn in der Kunst. Kulturelle Imaginationen vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, S. 169-185.
- Mayer, Hans (2000): „Rollenspiel zwischen Bürgermaske und Skandal“. Das Bildnis des Dorian Gray. In: Kohl, Norbert (Hrsg.): Oscar Wilde im Spiegel des Jahrhunderts. Erinnerungen, Kommentare, Deutungen. Frankfurt am Main: Insel Verlag, S. 234-242.
- Meier-Dörzenbach, Alexander (2011): Zum Sterben schön. Wahnsinnsszenen in Bildern und Musik. In: Rohr, Susanne; Schmeink, Lars (Hrsg.): Wahnsinn in der Kunst. Kulturelle Imaginationen vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, S. 9-27.
- Porter, Roy (2007): Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
- Rohr, Susanne; Schmeink, Lars (2011): Einleitung. Wahnsinn in der Kunst. In: Rohr, Susanne; Schmeink, Lars (Hrsg.): Wahnsinn in der Kunst. Kulturelle Imaginationen vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, S. 1-7.
- Tarantini, Andrea (2022): Die Definition von Wahnsinn im Laufe der Epochen. Verfügbar unter: https://fokus.swiss/gesellschaft/kultur/definition-von-wahnsinn-im-laufe-der-epochen/ [Aufgerufen am 06.03.2022].
- Wilde, Oscar (2021): Das Bildnis des Dorian Gray. München: Anaconda Verlag.
7. Eidesstaatliche Erklärung
Hiermit versichere ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und nur mit den angegebenen Quellen und Hilfsmitteln (z. B. Nachschlagewerke oder Internet) angefertigt habe. Alle Stellen der Arbeit, die ich aus diesen Quellen und Hilfsmitteln dem Wortlaut oder dem Sinne nach entnommen habe, sind kenntlich gemacht und im Literaturverzeichnis aufgeführt. Weiterhin versichere ich, dass weder ich noch andere diese Arbeit weder in der vorliegenden noch in einer mehr oder weniger abgewandelten Form als Leistungsnachweise in einer anderen Veranstaltung bereits verwendet haben oder noch verwenden werden. Die Arbeit wurde noch nicht veröffentlicht oder einer anderen Prüfungsbehörde vorgelegt.
Die „Richtlinie zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis für Studierende an der Universität Potsdam (Plagiatsrichtlinie) – Vom 20. Oktober 2010“ ist mir bekannt.
Es handelt sich bei dieser Arbeit um meinen ersten Versuch.
Brandenburg an der Havel, den 09.03.2022