Froschwanderung

Die Sonne verschwand langsam aber stetig hinterm Horizont, die Nacht brach langsam ein. Hohe Bäume zierten die Straße, die sich durch diese langweilige Einöde schlängelte. Landschaft um Landschaft, jedes Mal die gleiche Landschaft. Äcker und Wälder und Wälder und Äcker. Das Einzige, was sich hier änderte, war die Höhe von Mais, Getreide und Raps. Die Windräder drehten sich lustlos, wie stumme Titanen standen sie unbeeindruckt in der Gegend herum. Ab und zu blinkte ihr rotes Licht, aber ansonsten war ihnen die Anwesenheit von Autos, Traktoren, Mähdreschern, Vögeln und Flugzeugen ziemlich egal.

Der Fahrer fragte sich, wie oft er eigentlich schon diese Strecke abgeklappert war. Wie oft war er schon durch diese Stadt, die nach Pferden stank, gefahren? Wie oft passierte er dieses kleine Dorf mit dieser gruseligen Biberstatue? Wie oft sah er schon die immer gleichen Bäume, die immer gleichen Äcker, die immer gleichen Wälder und die immer gleichen Windräder? Nie änderte sich etwas, nie passierte etwas.

Es könnte ja mal ein Unfall geschehen. Eine richtige Karambolage, am besten mit Toten. Dann gäbe es wenigstens etwas zu sehen. Feuerwehr, Polizei, Krankenwagen, die ganzen Lichter. Die Sirenen. Die Absperrungen. Das bis zur Unkenntlichkeit zerstörte Auto, zerbeult, zerkratzt, völlig unbrauchbar. Die Besitzer im ähnlichen Zustand. Die Knochen, nicht da wo sie hingehörten. Das rote Blut auf der grauschwarzen Straße verteilt, als wäre es ein surreales Kunstwerk, dass sich irgendein drogenabhängiger Wahnsinniger ausgedacht hatte. Doch solch ein Spektakel war ihm nicht vergönnt. Stattdessen: eine stinknormale Fahrt.

Jeden Tag fuhr er von seiner normalen Zweizimmer-Wohnung zu seinen normalen Acht-Stunden-Bürojob und wieder zurück. Fünf Tage die Woche, jeden Monat, das ganze Jahr über. Urlaub gab es zu Weihnachten, zu Ostern und im Sommer. Und was tat er da? Fuhr zum selben langweiligen Strand oder zur selben langweiligen Blockhütte in irgendeinen süddeutschen Gebirge. Nichts änderte sich, alles blieb so wie es war.

Es sehnte ihn nach Veränderungen, das mal irgendetwas Aufregendes passierte. An manchen Tagen saß er an seinen Schreibtisch, starrte aus dem Fenster im vierten Stock und träumte vor sich hin. Er sah sich selbst aus der dritten Perspektive, wie er zum Büro seines Chefs ging, mit einem Hammer in der rechten Hand und die Tür auftrat. Er sah die weit aufgerissenen Augen seines Bosses, den Mund zu einem großen »O« geformt. Er sah, wie sein Vorgesetzter versuchte aufzustehen, wie ein Schrei sich aus seiner Kehle nach oben bahnte. Doch es war schon zu spät, der Hammer sauste hinab. Und er schlug und schlug und schlug und schlug und schlug immer wieder auf den Kopf dieses nutzlosen Schweines ein. Blut und Gehirn und Knochenteile und Haarstücke verteilten sich an den Wänden, am Schreibtisch, am Stuhl, auf dem Boden. Wenn er mit ihm fertig wäre, würde nicht mal seine eigene Mutter ihn wiedererkennen. Der Bestatter müsste Überstunden leisten, um diese Ruine von einem Gesicht zu rekonstruieren.

Manchmal saß er in seiner öden Wohnung und starrte auf den Fernseher, wo irgendein überbezahlter TV-Moderator seine schlechten Witze einem gelangweilten Publikum erzählte und das dumme Publikum klatschte und lachte mechanisch. Er stellte sich vor, wie er mit einem Maschinengewehr in das Studio stürmen würde. Zuerst erschoss er diesen schmierigen Moderator mit der Schmalzlocke, damit er endlich die Fresse hielt. Er würde ein ganzes Magazin in seinen schmächtigen Körper stecken, bis er in kleine Teile zerfetzt war. Dann richtete er seine Waffe auf das erschrockene Publikum und schoss wahllos hinein. Was wäre das für ein Spektakel! Die Überlebenden würden sich noch jahrelang daran erinnern.

Wäre er verheiratet und hätte Kinder, hätte er ihnen schon längst die Köpfe eingeschlagen. Wahrscheinlich im Schlaf. Mit einem Hammer oder einen Fleischklopfer. Vielleicht hätte er ihnen auch die Kehle durchgeschnitten. Zuerst seiner Frau, dann den Kindern. Und am Ende hätte er Benzin in der Wohnung verteilt und es angezündet. Hoffentlich würde der ganze Block abbrennen. Das Feuer, der Rauch, die Schreie der Verdammten. Es würde ihn erregen, es würde sein Leben einen Sinn verleihen.

Doch nichts von alledem war ihm vergönnt. Er würde weiter seine Arbeit ableisten, er würde weiter in seiner Wohnung hocken und die Zeit mit Fernsehen verschwenden und weiter die selbe Strecke fahren. Keine blutigen Unfälle, kein Morden, keine Blutbäder. Und seien wir doch mal ehrlich, er hätte auch nicht den Mumm dazu. Er konnte von seinem Chef nicht mal eine Gehaltserhöhung verlangen, obwohl er doch schon seit fast zwanzig Jahren im Betrieb arbeitete und nie negativ aufgefallen war.

Er würde auch nie in ein Studio stürmen. Zur Hölle, er konnte ja nicht einmal eine Waffe bedienen, er hatte in seinem ganzen Leben noch nie eine in der Hand. Wahrscheinlich würde der Sicherheitsdienst ihn bereits am Eingang überwältigen.

Und eine Frau, geschweige denn Kinder, würde er auch nie bekommen. Seine letzte Freundin hatte er während des Abiturs und sie hatte ihn ausgelacht, weil sein Penis zu klein war. Frauen verabscheuten ihn, er war nicht sonderlich attraktiv. Er hatte kleine Schweinsaugen, ein Doppelkinn, fettige Haare und eine übergroße Nase. Er war klein und dick, mit viel zu schmächtigen Armen. Aber er machte sich nichts draus, er hasste Frauen auch. Er hasste seine Mutter, die alte Hexe. Der Tag, an dem sie an das Stück Fleisch erstickte, war der bis dato glücklichste Tag in seinem Leben. Er war damals elf und hatte einfach zugesehen. Wie plötzlich ihre Hände zu ihren Hals schnellten, wie sie röchelte und ihre Augen sich nach hinten drehten, wie sie auf den Tisch klopfte und langsam blau anlief, bis der Krampf vorbei war und sie einfach auf den Tisch zusammenbrach. Es war ein herrlicher Tag gewesen.

Sein Vater, die alte Saufnase, war das ziemlich egal gewesen, verbrachte er doch eh schon die meiste Zeit bei den Huren im Bordell. Er konnte seinen Sohn auch nie nachweisen, dass er die Nachbarkatzen getötet hatte. Spielte irgendwann auch keine Rolle mehr. Sein alter Herr starb, angeblich hatte er einen Herzinfarkt beim Sex mit einer Prostituierten.

Die Langeweile des Alltags tötete ihn langsam. Sie machte ihn stumpf, die endlose Routine machte ihn taub, er spürte, wie die Lebenslust ihn verließ. Statt seine Fantasien ausleben zu können, war er in einem Hamsterrad gefangen. Jeden Tag das selbe, jeder Tag war gleich. Grau in grau, keinerlei Farben. Vielleicht sollte er einfach seinen Wagen gegen einen dieser Bäume steuern. Der Aufprall sollte ausreichen um ihn zu töten. Er malte sich aus, wie er gegen eines dieser unbeweglichen Objekte raste, wie er seinen Sicherheitsgurt löste. Die Airbags explodierten, doch sie können ihn nicht retten. Er würde aus seinem Sitz katapultiert werden, mitten durch die Windschutzscheibe, gegen den harten Baum. Sein Kopf würde aufplatzen wie eine überreife Melone. Stunden vergehen, bis ihn jemand findet. Das Auto würde brennen und er wäre längst kalt und steif.

Doch er konnte sich dazu nicht hinreißen. Nicht weil er so sehr an seinen erbärmlichen Leben hing, sondern weil er sich davor fürchtete, was danach käme. Würde Satan auf ihn warten? Würde er auf ewig im Höllenfeuer schmoren? Oder wäre seine Hölle weitaus persönlicher, weitaus individueller? Vielleicht wäre seine Strafe ja, für immer in einem grauen Büro arbeiten zu müssen. Oder die selbe Routine auf ewig weiterzuführen, ohne eine Aussicht auf ein baldiges Ende, ohne Ausweg. Das wäre seine Strafe. Der selbe Job, die selbe Fahrt, die selbe Wohnung, die selben Gedanken. In Endlosschleife. Und jeder versuchte Selbstmord würde ihn wieder am Anfang zurücksetzen. Er wäre ein Gefangener des Hamsterrades.

Seine Augen schmerzten, er schüttelte den Kopf. Die Nacht war schneller da als gedacht. Ein paar Sterne funkelten am Himmel. Die Scheinwerfer seines alten, verrosteten Wagens erhellten die Straße. In seinem Augenwinkel sah er für einen kurzen Moment etwas Seltsames. Es sah aus wie eines dieser Schilder, die davor warnen, dass Rehe oder Kühe die Straße überqueren könnten. Wie es halt in ländlichen Regionen häufig der Fall war. Doch dieses Warnschild zeigte weder ein Reh noch einen Hirsch noch eine Kuh, stattdessen war ein Frosch abgebildet. Wenn er es denn richtig gesehen hatte. Vielleicht irrte er sich ja. Das Schild war ihn nie wirklich aufgefallen und er fuhr die Strecke schon seit Ewigkeiten. Warum sollte man auch davor warnen, dass Frösche auf der Straße waren?

Er schaute wieder nach vorne und erschrak. Mit aller Kraft trat er auf die Bremse und das Auto kam nach einigen Metern laut quietschend zum Stehen. Er traute seinen Augen nicht, jetzt war ihn auch bewusst, welchen Sinn das Schild hatte. Vor seinem Wagen stand ein riesiger Frosch, ein Grasfrosch um genau zu sein. Seine braune, feuchte Haut schimmerte im Licht der Scheinwerfer. Er war gigantisch, mindestens ein Meter achtzig groß. Größer als jeder Frosch, der auf diesen Planeten existierte.

Der Fahrer rieb sich die Augen, er blinzelte, schlug sich ein-, zweimal ins Gesicht und kniff sich in den Arm. Er wollte sichergehen, dass er auch wirklich wach und das hier kein absurder Traum war. Vielleicht war er ja wirklich gegen einen Baum geknallt und jetzt fabrizierte sein sterbendes Gehirn irgendeine surreale Fantasiewelt. Er konnte es nicht glauben, er wollte es nicht glauben.

Der Frosch drehte sich zu ihn um, seine goldbraunen Augen mit den schwarzen Pupillen schienen ihn zu fixieren, sie starrten tief in seine verdorbene Seele. Unbehagen machte sich in ihm breit. Plötzlich ging alles sehr schnell. Der riesige Frosch klappte sein gewaltiges Maul und eine rosa Zunge schnellte hervor und blieb an der Motorhaube kleben. Mit einem Ruck landete das Auto im feuchten Schlund, der Fahrer konnte tief in den Rachen des Biestes blicken. Er reagierte instinktiv, schnallte sich ab, öffnete die Tür und sprang hinaus. Keine Sekunde zu früh! Der Frosch verschlang das Auto im Ganzen. Er schien einmal zu kauen und schluckte seine metallene Beute hinunter. Nachdem er ein lautes Geräusch, was sich nach einer Mischung aus Knurren und Quaken anhörte, von sich gegeben hatte, drehte er sich wieder um und sprang mit einem gewaltigen Hopser in den Wald hinein. Äste brachen dabei.

Der Fahrer sah ihn ungläubig hinterher. Das hatte er nun davon. Er hatte sich doch so sehr gewünscht, dass etwas auf der Fahrt passieren würde, dass es endlich mal Action gäbe. Jetzt hatte er den Salat. Er stand alleine auf der Straße, ohne Auto. Es war stockfinster, um diese Uhrzeit würde so schnell keiner vorbeikommen und ihn aufgabeln.

Nicht allzu weit entfernt hörte er lautes Quaken. Und das Knacken von Ästen.

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