»… und dann kam der Lockdown.« oder Der ewige Lockdown

Viertausendzweihundertdreiundsechzig.

Es waren genau viertausendzweihundertdreiundsechzig Rosen auf dieser Tapete. Ich wusste es, denn ich habe sie alle gezählt. Immer und immer wieder, nur um sicherzugehen. Es befanden sich viertausendzweihundertdreiundsechzig Rosen auf der Tapete, zumindest an dieser einen Wand. Sie sahen alle gleich aus, wobei einige schon ein paar Flecken hatten, aber ansonsten waren es viertausendzweihundertdreiundsechzig identische blaue Rosen mit grünen Ranken. Ich war die Zählung mindestens siebenmal durchgegangen und war mir sicher, dass es viertausendzweihundertdreiundsechzig Rosen sind. Daran gab es keine Zweifel. Ich war mir zu einhundert Prozent sicher. Viertausendzweihundertdreiundsechzig, ganz sicher.

Man fragte sich jetzt bestimmt: »Warum sollte jemand seine Zeit damit verschwenden, die Rosenabbilder auf einer Tapete zu zählen und das auch noch mehrmals?«

Die Frage konnte ich sehr leicht beantworten: Weil ich nichts anderes zu tun habe. Es gab für mich nichts anderes mehr zu tun. Ich hatte bereits jedes Buch gelesen, was ich besaß. Ich habe gezeichnet, gemalt, in meinem Arbeitszimmer stapelten sich momentan mehr Gemälde, als ich jemals in meiner Wohnung anhängen könnte.

Ich fing an zu lernen, wie man Musikinstrumente spielt. Mittlerweile beherrschte ich die Violine, die Geige, das Keyboard, das Schlagzeug und die Triangel. Ich lernte Noten zu lesen und selber zu komponieren, wobei ich dabei nicht so viel Erfolg hatte. In meinem Schlafzimmer standen fünf Aktenordner voll mit selbstgeschriebenen Musikstücken. Es sollten ungefähr dreihundert siebenundvierzig Einzelstücke sein.

Ich schaute mir jeden Film, jede Serie an, die auf den unzähligen Streaming-Diensten verfügbar waren. Ich kannte sie alle auswendig.

Was blieb mir dann noch anderes zu tun, als die einzelnen Rosenbilder auf meiner Tapete zu zählen? Immer und immer und immer und immer wieder.

Was gab es an dieser Stelle überhaupt noch zu tun? Meine Haare zählen? Ich war am Ende meines Lateins.

Die Menschheit bekämpfte nun schon seit über zwölf Jahren diese gottverdammte Pandemie. Seit zwölf Jahren schleppten wir uns schon von Lockdown zu Lockdown zu Lockdown. Wie viele Lockdowns gab es bereits? Siebzig? Achtzig? Einhundert? Ich hatte da schon längst den Überblick verloren. Jedes Mal wenn wir dachten, wir hätten die Krankheit besiegt, da tauchte eine neue Mutation auf. Jedes Mal wenn wir dachten, wir hätten nun den passenden Impfstoff, das Wunderheilmittel, da erschien eine neue Variante und der Zyklus begann von vorn.

Wenn ich mich nicht verzählt hatte, gab es momentan einhundert dreiundsechzig verschiedene Impfstoffe auf dem Markt. Sie alle waren nutzlos, wertlos, Schrott. Und jedes Mal wenn ein neuer Impfstoff erschien, gab es Probleme. Ob nun bei der Herstellung, der Auslieferung oder Impfung selbst. Immer gab es Schwierigkeiten, Baustellen, Hürden.

Die Regierungen der Welt waren ratlos, sie bekamen die Pandemie einfach nicht mehr in den Griff. Stattdessen stolperten sie von einen halbherzigen Lockdown zum nächsten halbherzigen Lockdown. Immer mit einem Auge auf die ach so kostbare Wirtschaft. Jedes Mal wenn die Infektionszahlen hinunter gingen, wurde der Lockdown gelockert und nach wenigen Wochen stiegen die Zahlen wieder expotentiell. Die Situation war so schlimm, dass man sich entschied, einfach keine Statistiken mehr zu dem Thema zu veröffentlichen.

Wer dachte, dass 2020 scheiße war, hatte noch nicht mit 2032 gerechnet.

Nachdem die letzte Regierung vor zwei Jahren gescheitert und zerbrochen war, entschieden sich die Nachfolger für weitaus drastischere Maßnahmen. Nach unzähligen halbherzigen Lockdowns kam nun der Ewige Lockdown. Niemand durfte mehr sein Haus oder seine Wohnung verlassen. Niemand durfte nach draußen gehen. Essen wurde per Drohne geliefert, man führte sogar das Bedingungslose Grundeinkommen ein und Unterhaltung war gänzlich kostenlos. Anfangs gab es noch Widerstand, doch der war inzwischen gänzlich verebbt. Nullpunkt, die momentane Regierungspartei und einzige noch erlaubte politische Organisation, sorgte dafür, dass jegliche Opposition gegen die Maßnahmen unterdrückt wurde, bisweilen auch blutig. Sie verhängte eine absolute Nachrichtensperre, ein ausnahmsloses Demonstrationsverbot und machte Jagd auf Widerständler.

Ihr Führer, der uncharismatische Mediziner Karl Konrad Nultaack, warb mit dem Slogan: Drastische Zeiten erfordern drastische Maßnahmen, was übrigens auch die offizielle Parole der Partei war. Seine Kritiker, also bevor sie gesäubert wurden, bezeichneten Nultaack als Hygienefaschisten. Ich persönlich würde nicht soweit gehen. Er war zwar ein radikaler Hardliner, aber auch ein verzweifelter. Was blieb ihn noch anderes übrig, nachdem jede andere Regierung mit ihrer halbherzigen Pandemiepolitik gescheitert war?

Obwohl ich zugeben musste, dass seine jetzige Politik vielleicht ein wenig zu drastisch war. Man solle mich nicht falsch verstehen, ich möchte auch aus dieser Pandemie endlich raus. Doch was Nultaack und seine Technokraten abzogen, entbehrte jeglicher Vernunft. Gespräche über Politik fanden praktisch nicht mehr statt, sie wurden sogar aktiv unterbunden. Jegliche Kritik an der Regierung war verboten. Wer es wagte sein Haus zu verlassen, wurde auf der Stelle von Polizeidrohnen niedergeschossen.

Wir befanden uns im Jahr Zwei des Ewigen Lockdowns und noch immer gab es kein Zeichen der Lockerung, sondern nur mehr Verschärfungen. Ohne herausgegebene Zahlen, ohne Statistiken gab es keine Gewissheit über den Zustand der Pandemie. Wie viele Todesfälle gab es? Wie viele Infektionen? Wie viele Mutationen? Welcher Impfstoff wurde gerade entwickelt? Über all das hängte man den Mantel des Schweigen.

Auf der offiziellen Nachrichtenseite von Nullpunkt stand nur: Drastische Zeiten erfordern drastische Maßnahmen und Durchhalten! Das Ende naht! und Nicht lockern! Nichts weiter als Parolen und Slogans.

Das Schlimmste an diesen Lockdown ist die Einsamkeit. Ich hatte seit über zwei Jahren keinen Menschen mehr physisch vor meinen Augen gehabt. Seit zwei Jahren habe ich niemanden mehr berührt. Seit zwei Jahren gab es keinen Besuch mehr. Und seit zwei Jahren habe ich meine Wohnung nicht mehr verlassen. Ich war ein Gefangener in meinen eigenen Heim.

Den einzigen Kontakt, den ich noch zu anderen Menschen hatte, war über soziale Medien und digitale Meetings. Und das war einfach nicht das Gleiche. Besonders weil jeder Kanal überwacht wurde, sodass niemals ein Gefühl von Freiheit und Zwanglosigkeit entstand. Jedes Gespräch wurde auf das absolute Minimum reduziert, aus Angst es könnte etwas Falsches gesagt werden.

Ich sehnte mich nach Spaziergängen in der Natur, nach Biertrinken im Pub oder nach zwanglosen Treffen mit Freunden. Doch diese Optionen gab es nicht mehr.

Stattdessen blieb mir nichts anderes übrig als den ganzen Tag in meiner Wohnung auf- und abzugehen und die Rosenbilder auf meiner Tapete zu zählen. Die viertausendzweihundertdreiundsechzig Rosen. Manchmal saß ich einfach auf meiner Couch und starrte die Wand mit der Rosentapete an. An manchen Tagen starrte ich die Wand an und sie begann sich zu verändern. Die Rosen drehten sich, wuchsen, blühten, ein Loch begann in der Wand zu wachsen und ich glaubte, wenn ich dieses Loch lange genug anstarre, dann würde es mich verschlingen. Doch ich schaffte es nie mich auf die Erscheinung lange genug zu konzentrieren, es verschwand, wenn ich nicht mehr hinsah.

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