1. Einleitung
1997 veröffentlichte das German Historical Institute in Washington D. C. eine Sammlung von Aufsätzen mit dem Titel „On the Road to Total War – The American Civil War and the German Wars of Unification, 1861-1871“. Herausgegeben wurden sie von Stig Förster, einem deutschen Militärhistoriker, und Jörg Nagel, einem ebenfalls deutschen Historiker mit dem Schwerpunkt Nordamerika. Die Autoren versuchen, die Frage zu beantworten, ob es sich beim Amerikanischen Bürgerkrieg und dem Deutsch-Französischen Krieg um sogenannte „totale Kriege“ handelt. 32 Essays beleuchten dabei unterschiedliche Facetten – von der Wirtschaft über die Kriegsführung, die Gefängnissysteme, die Frauenarbeit, die politische Führung bis hin zur Heimatfront.
In meiner Hausarbeit untersuche ich, ob es sich beim Deutsch-Französischen Krieg um einen „totalen Krieg“ handelt, ob er sich auf dem Weg dorthin („on the road to total war“) befand und ob dieser Begriff für die Forschung überhaupt sinnvoll ist. Ich befasse mich ausschließlich mit der deutschen Perspektive.
Die Arbeit gliedert sich in zwei große Punkte. Im ersten Abschnitt möchte ich den Begriff des „totalen Kriegs“ klären. Ich beleuchte die Definition, die Hintergründe und die Geschichte. Dabei gehe ich auch auf die Problematik des Begriffes ein.
Der zweite große Abschnitt ist in vier Unterkapitel geteilt. Zuerst gebe ich einen Überblick über die Ursachen und den Verlauf des Krieges, dann folgt eine Analyse der soldatischen Mentalität und der Kriegsführung, im nächsten Abschnitt gehe ich auf den Aufbau der Heimatfront ein und als Letztes betrachte ich die Wirtschaft während des Krieges.
Abschließend wird aus den Argumenten und Erkenntnissen ein Fazit gezogen.
Methodisch gehe ich wie folgt vor: Ich erläutere, welche Maßnahmen die deutschen Staaten erließen (im Falle der Wirtschaft und der Heimatfront) und wie Kriegsakteure dachten bzw. handelten (im Falle der soldatischen Mentalität und des militärischen Vorgehens). Am Ende eines jeden Kapitels vergleiche ich die Maßnahmen mit dem Konzept des „totalen Kriegs“ und arbeite Übereinstimmung, Annäherung oder Diskrepanz heraus.
Der Deutsch-Französische Krieg ist sehr gut erforscht, wofür die Fülle und die Breite an Materialien ein Beleg ist.
Bei der Sekundärliteratur stütze ich mich besonders auf Alexander Seyferth, der ein umfassendes Werk zu der Heimatfront und der Wirtschaft im Deutsch-Französischen Krieg verfasst hat. Weitere Autoren sind Katja Hoyer, Christopher Clark, Sönke Neitzel, Peter H. Wilson, Beatrice Heuser, Gerd Fässer und Thomas Rohkrämer. Als Quellen benutze ich u. a. die Werke von Carl von Clausewitz und Erich Ludendorff, Schriften von Ernst Jünger und die Kriegsmemoiren deutscher Soldaten.
2. Begriffserklärung: Totaler Krieg
Wie bei vielen Begriffen in der Geschichtswissenschaft – genannt seien hier als Beispiele „Totalitarismus“, „Faschismus“, „Extremismus“, „Absolutismus“ – gibt es auch beim Begriff des „totalen Kriegs“ Schwierigkeiten, diesen klar und genau zu definieren. Was bedeutet „totaler Krieg“? Was bedeutet „total“ in diesem Zusammenhang? Ab wann wird ein Krieg „total“? Ab welcher geschichtlichen Epoche wird vom „totalen Krieg“ gesprochen?
Das „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache“ definiert „total“ wie folgt:
1. In vollem Umfang, vollständig bzw. restlos, ausnahmslos
- [häufig verstärkend] totalitär bzw. die Entgrenzung, Aufhebung bislang oder woanders geltender Grundsätze vorhersehend
- [verstärkend, besonders nationalsozialistisch] die vollständige Mobilisierung aller Lebensbereiche zum Kriege unter rücksichtsloser Ausschöpfung aller Kräfte vorsehend, auch repressive Maßnahmen einschließend
- [umgangssprachlich, verstärkend] völlig, gänzlich, in hohem Maße oder über die Maßen ausgeprägt[1]
Besonders der zweite Abschnitt ist hier von Interesse. Krieg, so schreibt Carl von Clausewitz, ist „ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“[2] Das Ziel eines jeden Krieges sei „die Entwaffnung oder das Niederwerfen des Feindes“[3] (dieser kann ein anderer Staat sein, ein Volk oder eine Gruppierung), ein Gegner müsse also durch kriegerische Handlungen so weit getrieben werden, dass er nicht mehr in der Lage ist, weiterzukämpfen und somit jegliche Kriegshandlungen einstellt. Der „Feind“ wird durch den Einsatz physischer Gewalt neutralisiert.[4] Demzufolge bedeutet „totaler Krieg“ die Verwendung jeglicher Mittel und aller Bereiche des Lebens ohne Rücksicht auf Verluste zum Zwecke der Neutralisierung bzw. der Niederwerfung (oder gar der kompletten Vernichtung) eines Gegners.
Zum ersten Mal wurde der Begriff des „totalen Kriegs“ vom französischen Journalisten und Mitglied der „Action francaise“[5] Léon Daudet im Kontext des Ersten Weltkriegs verwendet. Dieser schrieb am 9. Februar 1916 nach einer Reihe deutscher Luftangriffe auf Paris: „Der Krieg, den Deutschland führt, ist ein totaler Krieg, ein Krieg aller Deutschen im In- und außerhalb ihres Landes gegen die alliierten Nationen.“[6] Im französischen Original benutzt Daudet die Bezeichnung „guerre totale“.[7] Der französische Journalist interpretierte den Ersten Weltkrieg als eine „neue Art des Krieges“, einen Krieg in einem nie dagewesenen Ausmaß, denn er „war anders als alle anderen zuvor, größer, brutaler, umfassender. Es schien keine Grenze zwischen Front und Heimat mehr zu geben. Alle wurden zu Kämpfern und zu Zielen des Feindes.“[8]
Der Historiker Jörn Leonhard stimmt dieser Beobachtung mit einigen Vorbehalten zu. Im Ersten Weltkrieg steckten Ansätze zum „totalen Krieg“, wobei er nie das volle Ausmaß erreichte. Während des Krieges versuchte die dritte Oberste Heeresleitung (OHL) unter Erich Ludendorff und Paul von Hindenburg, den Krieg durch verschiedene Maßnahmen zu „totalisieren“. So wurde z. B. das „Hindenburg-Programm“ mit dem Ziel erlassen, neue Arbeitskräfte zu organisieren und die Munitions- und Rüstungsproduktion schneller voranzutreiben. Bessere und größere Maschinen sollten die menschlichen Soldaten an der Front ersetzen, jegliche Fragen der Finanzierung der Kriegswirtschaft traten hinter dem Primat der Rüstungsexpansion zurück. Mithilfe des am 2. Dezember 1916 erlassenen Hilfsdienstgesetzes war es vorgesehen, jeden erwachsenen Mann (der nicht bereits im Krieg kämpfte) zwischen siebzehn und sechzig Jahren zur Arbeit zwangsweise zu mobilisieren, was eine erheblich Einschränkung der Wahl des Arbeitsplatzes und -ortes bedeutete. Ursprünglich wurden sogar ein Arbeitszwang für Männer und Frauen als Alternative zur Wehrpflicht, die Schließung der Universitäten, die Senkung des Mindestarbeitsalters auf fünfzehn Jahre und eine starke Rationierung der Lebensmittelversorgung in Betracht gezogen.[9]
Die OHL versuchte währenddessen, ihren Einfluss auf andere Bereiche des deutschen Staates durch die Gründung neuer Behörden auszuweiten, besonders im Bereich der Lebensmittelversorgung. So gab es die Reichsbekleidungsstelle, eine Reichszuckerstelle, einen Reichsausschuss für Kaffee und Tee und am Ende gar ein Kriegsernährungsamt. Ziel war die Errichtung einer Militärdiktatur unter der Herrschaft der dritten OHL, um die Kriegswirtschaft und -produktion effizienter zu lenken. In der Realität verkam das System aber zu einer Gemengelage von Organisationen und Institutionen, die über keine klaren Kompetenzen und nicht leicht zu trennende Befugnisse verfügten, die untereinander um Macht konkurrierten und sich so selbst im Weg standen.[10] Leonhard spricht hier von einer „administrative[n] Polykratie“[11].
Der Erste Weltkrieg sei zwar kein wahrer „totaler Krieg“, enthalte aber totalisierte Elemente, wie die Anwendung von Gewalt, die sich gegen die gesamte Gesellschaft, gegen die Infrastruktur und die Symbole eines Volkes richtet und die Ideologisierung der Gewalt[12], „[w]eil […] zwischen äußerem und innerem Feind immer weniger unterschieden wurde, weil sich plötzlich jeder von Feinden umgeben sah, schien die Gewalt als Notwehr das letzte und alternativlose Mittel zu sein, um in diesen Gewalträumen zu überleben.“[13] Auch im Bereich der Mobilisierung der Ressourcen zeige sich eine Totalisierung, Heimatfront und Militär verschmolzen immer mehr, doch deswegen kam es noch nicht zum „totalen Krieg“, denn, laut Leonhard, fehle dafür die bedingungslose Kapitulation, also eine fehlende Vernichtung des Feindes.[14]
Ungefähr zwanzig Jahre nach Daudets Artikel, im Jahre 1937, veröffentlicht Erich Ludendorff ein Buch mit dem Titel „Der totale Krieg“. In diesem argumentiert er, dass die Zeit der „begrenzten Kabinettskriege“ vorbei sei und nun die Epoche (angefangen mit dem Ersten Weltkrieg) der „totalen Kriege“ beginne. Kriege in der Moderne können nicht mehr nur zwischen zwei Heeren stattfinden.[15] Das Wesen dieser Form des Krieges beschreibt er wie folgt:
[…] so erstreckt sich heute der Kriegsschauplatz im wahren Sinne des Wortes über das gesamte Gebiet der kriegführenden Völker. Nicht nur die Heere, auch die Völker sind der unmittelbaren Kriegshandlung […] unterworfen und durch die mittelbaren, wie Hungerblockade und Propaganda, in Mitleidenschaft gezogen […] Das ist unerbittliche und eindeutige Wirklichkeit, und alle nur erdenklichen Kriegsmittel werden in den Dienst dieser Wirklichkeit gestellt und sind in ihren Dienst zu stellen. ‚Wie du mir, so ich dir‘ heißt es auch erst recht im totalen Krieg.[16]
Um den „totalen Krieg“ aufrechtzuerhalten, muss der Staat auch eine „totale Politik“ führen, was letztendlich nichts anderes als repressive Maßnahmen gegen die Bevölkerung bedeutet. Laut Ludendorff beinhaltet das: „schärfste Zensur der Presse, verschärfte Gesetze gegen Verrat militärischer Geheimnisse, Sperrung des Grenzverkehrs gegen neutrale Staaten, Versammlungsverbote, Festnahme wenigstens der Häupter der ‚Unzufriedenen‘, Überwachung des Eisenbahnverkehrs und des Rundfunkswesens“[17], dies alles zum Schutz gegen „Saboteure“ im Dienste „kriegführender Feinde oder Vertreter der überstaatlichen Mächte, des Juden und Roms [Römisch-Katholische Kirche]“[18]. Ludendorff plädiert hier für die Errichtung einer Militärdiktatur. Seine Überlegungen decken sich auch mit der Definition von „total“ und den Beobachtungen von Leonhard und Neitzel.
Der Kriegsschriftsteller Ernst Jünger fügte dem Konzept des „totalen Kriegs“ noch den Begriff der „Totalen Mobilmachung“ hinzu – er ging davon aus, dass normale, begrenzte Kriege nicht mehr zum Sieg reichen würden, der Fortschritt der Technik mache dies unmöglich. Um in der modernen Welt zu bestehen, braucht es nicht nur eine „partielle Mobilmachung“, die er mit dem Zeitalter der Monarchien und Kabinettskriege assoziiert, sondern eine „totale“.[19] In seinem Essay „Die Totale Mobilmachung“ schreibt er:
Wir haben das Zeitalter des gezielten Schusses bereits wieder hinter uns. Der Geschwaderführer, der in nächtlicher Höhe den Befehl zum Bombenangriff erteilt, kennt keinen Unterschied zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern mehr, und die tödliche Gaswolke zieht wie ein Element über alles Lebendige dahin. Die Möglichkeit solcher Bedrohungen aber setzt weder eine partielle noch eine allgemeine, sie setzt eine Totale Mobilmachung voraus, die sich selbst auf das Kind in der Wiege erstreckt. Es ist bedroht wie alle anderen, ja stärker noch.[20]
Der Zweite Weltkrieg war der bis dahin am meisten „totale Krieg“. Er vereinte die angeführten Punkte und trieb sie in die Extreme – die größten Panzerschlachten (Kursk 1943), die größten Belagerungen (Leningrad), die größten Luftbombardierungen (Dresden, Tokio, Yokohama, London), industrialisierte Genozide und Massenmorde (Shoah, Porajmos, sowjetische Kriegsgefangene, Euthanasie), Vertreibungen kompletter Bevölkerungen, die Verschmelzung von Militär, Wirtschaft und Heimatfront, eine kaum stattfindende Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, die Ideologisierung des Kriegs („Lebensraum“, Sozialdarwinismus), die Vernichtung des NS-Regimes, die Besetzung und Aufteilung Deutschlands und der Einsatz der bisher verheerendsten Waffen (Atombomben).[21] Joseph Goebbels verwendete den Begriff „totaler Krieg“ während seiner Sportpalastrede am 18. Februar 1943.[22]
Der Historiker Thomas Rohkrämer argumentiert, dass jede Definition des „totalen Kriegs“ unvollständig ist, wenn nicht die subjektiven Faktoren in Betracht gezogen werden, nämlich „the intensity of the war effort, the population’s preparedness for extreme sacrifices as well as extreme military measures, and a rigid binary way of thinking, which glorifies one’s own nation and condems the enemy or other.“[23]
„Totaler Krieg“ bedeutet die Militarisierung der gesamten Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik als Mittel zur Kriegsführung, ein hohes Vernichtungspotential durch moderne Waffen, die Veränderung der Mentalität der Bevölkerung hin zur kompletten Selbstopferung, extreme Freund-Feind-Unterscheidung, extreme Kriegsführung, keine Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten und die Einbeziehung der gesamten Gesellschaft im Kriegsgeschehen. Ein Krieg kann sich dem „totalen Krieg“ annähern, aber niemals vollständig zu einem werden, „because the totality of destruction, which is reached with the nuclear strategy of MAD (mutually assured destruction), literally annihilates the anthropolocial factor.“[24]
Weiterhin möchte ich auf die Problematik und Fragwürdigkeit des Begriffes eingehen, geht er doch letztendlich auf rechtsextreme Denker zurück – zum einen Léon Daudet, dem „Action francaise“-Mitglied, einer royalistischen, antisemitischen (Ernst Nolte bezeichnete sie gar als faschistisch) Organisation; zum anderen Erich Ludendorff, der de facto Militärdiktator während des Ersten Weltkriegs, Partner von Adolf Hitler bei seinem Putschversuch 1923 und Galionsfigur in der Völkischen Bewegung bis zu seinem Tod 1937. Ernst Jünger war Teil der „Konservativen Revolution“[25], einer rechten antidemokratischen Strömung in der Weimarer Republik. Der Begriff des „totalen Kriegs“ hat einen durchaus dubiosen Hintergrund. Er wurde von Menschen konzipiert, die den Frieden rigoros ablehnten und den Krieg verherrlichten, sich also nichts anderes wünschten, als einen „totalen Krieg“ zu entfachen.
Abgesehen davon ist es fraglich, was genau daran „neu und einzigartig“ bzw. spezifisch für das 20. Jahrhundert ist. Jeder Krieg ist politisch (wenn nicht gar ideologisch), jeder Krieg führte zu Grausamkeit und Barbarismus, unter jedem Krieg musste die Zivilbevölkerung leiden und jeder Krieg brachte neue schreckliche und verheerende Waffen hervor. Wenn eine prähistorische, nomadisch lebende Stammesgesellschaft, ausgerüstet nur mit Keulen und Speeren, einen anderen Stamm überfällt und alle Mitglieder unterschiedslos massakriert, handelt es sich dann um einen „totalen Krieg“?
Ob der Deutsch-Französische Krieg ein „totaler Krieg“ war, wird sich im Laufe der Arbeit zeigen.
[1] DWDS, total, https://www.dwds.de/wb/total (letzter Zugriff am 18.08.2025).
[2] Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Hrsg. von Kai Kilian, München 2018, S. 24.
[3] Ebd., S. 27.
[4] Vgl. ebd., S. 24.
[5] Eine rechtsextrem-royalistische französische Gruppierung um den Schriftsteller und Publizisten Charles Maurras. Zur Ideologie und Geschichte, siehe: Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, 5. Aufl., München 2000.
[6] Zit. nach: Sönke Neitzel, Der Totale Krieg, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/zeitalter-der-weltkriege-321/183865/der-totale-krieg/ (letzter Zugriff am 18.08.2025).
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] Vgl. Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2018, S. 513-516.
[10] Vgl. ebd., S. 517f.
[11] Ebd., S. 517.
[12] Vgl. ebd., S. 1000.
[13] Ebd., S. 1001.
[14] Vgl. ebd.
[15] Vgl. Erich Ludendorff, Der totale Krieg, Viöl 1999, S. 4f.
[16] Ebd., S. 5f.
[17] Ebd., S. 25.
[18] Ebd.
[19] Vgl. Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung. In: Ders., Betrachtungen zur Zeit. Hrsg. von Klett-Cotta (= Sämtliche Werke, 9), 2. Aufl., Stuttgart 2017, S. 123-126.
[20] Ebd., S. 128.
[21] Vgl. Beatrice Heuser, Den Krieg denken. Die Entwicklung der Strategie seit der Antike, Paderborn 2010, S. 226f.
[22] Vgl. Neitzel, Der totale Krieg, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/zeitalter-der-weltkriege-321/183865/der-totale-krieg/ (letzter Zugriff am 19.08.2025).
[23] Thomas Rohkrämer, Daily Life at the Front and the Concept of Total War. In: On the Road to Total War. The American Civil War and the German Wars of Unification 1861-1871. Hrsg. von Stig Föster / Jörg Nagler, USA 1997, S. 498.
[24] Ebd., S. 516.
[25] Ebenfalls ein durchaus problematischer Begriff, geht er doch auf den Vordenker der „Neuen Rechten“ und selbsternannten Faschisten Armin Mohler zurück. Siehe hierfür: Armin Mohler / Karlheinz Weißmann, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch, 6. Aufl., Graz 2005.
3. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71
3.1 Ein kurzer Überblick über die Ursachen und den Verlauf des Kriegs
Der Deutsch-Französische Krieg war der dritte und letzte Krieg in der Reihe der Reichseinigungskriege, die Deutschland führte – zuerst 1864 gegen Dänemark, dann 1866 gegen Österreich.
Während der 1860er Jahre konsolidierte Otto von Bismarck den Norddeutschen Bund als eine zentraleuropäische Macht. Er organisierte geheime Verteidigungsabkommen mit den süddeutschen Staaten und veröffentlichte diese 1867, ein deutliches Signal Richtung Österreich und Frankreich. Doch die vollständige Vereinigung Deutschlands hatte für Bismarck keine Eile, wusste er doch, dass die süddeutschen Staaten nicht gezwungen werden können, dem Bund beizutreten.[1] Zum Generalquartiermeister Albert Freiherr von Suckow sagte er: „If Germany achieves its national aim in the nineteenth century, that seems to me a great thing.“[2] Für Bismarck war die Vereinigung letztendlich nur „eine bloße Zeitfrage“[3]. Was er brauchte, war „[a]n external enemy […] to forge a German crown in the fires of war“[4] – dieser „äußere Feind“ sollte Frankreich sein.
Durch den Sieg Preußens 1866 war Frankreich in Sorge über eine mögliche deutsche Gefahr, Spannungen zwischen den Staaten stiegen. Die erste Gelegenheit, Frankreich zu provozieren, bot sich mit der Luxemburgkrise 1867, bei der Bismarck der deutschen Presse mitteilen ließ, dass Frankreich beabsichtigte, das Großherzogtum Luxemburg zu annektieren, was zu einer Welle der Empörung führte – zuvor hatte Bismarck Kaiser Napoleon III. noch dazu ermutigt, diesen Schritt zu tun. Die zweite Gelegenheit zeigte sich bei der spanischen Thronfolge, bei der die Möglichkeit bestand, dass Leopold von
Hohenzollern-Sigmaringen Kandidat für die Nachfolge auf dem spanischen Thron sein könnte. Bismarck erkannte die Chance und unterstützte die Kandidatur Leopolds. Im Juli 1870 wurde bekanntgegeben, dass Leopold, nachdem er und König Wilhelm I. überzeugt waren, sich offiziell um den spanischen Thron bewarb. Das führte zu einem nationalistischen Aufschrei in Frankreich. Vom französischen Außenminister Antoine Agénor de Gramont wurde die Angst vor einer „hohenzollerischen Umzingelung“ Frankreichs geschürt. Gramont entsandte Vincent de Benedetti, den französischen Botschafter in Berlin, nach Bad Ems, da Wilhelm I. sich dort aufgrund einer Kur aufhielt. Der Botschafter traf sich mit dem preußischen König[5] und schaffte es, dass Wilhelm I. „in einem versöhnlichen Ton antwortete und schließlich auch akzeptierte, dass Leopold von seinem Anspruch auf den spanischen Thron Abstand nehmen musste“[6]. Gramont schickte daraufhin den Botschafter ein zweites Mal zu Wilhelm I. und verlangte eine schriftliche Zusicherung, was der preußische König freundlich ablehnte. Bismarck erhielt später die Zusammenfassung des Treffens, bekannt als „Emser Depesche“, die er, indem er einige Wörter herausstrich, so abänderte, dass die Zurückweisung nicht höflich, sondern brüsk wirkt. Das ins Französische übersetzte Telegramm wurde danach heimlich der Presse in Frankreich übergeben, was die bonapartistische Regierung wie von Bismarck erhofft zu einer Mobilmachung provozierte.[7] Am 19. Juli 1870 erklärte Frankreich Preußen den Krieg, um einen Sturz des bonapartistischen Regimes zu verhindern.[8]
Nach der Kriegserklärung schwappte eine Welle des Patriotismus durch den Norddeutschen Bund und die süddeutschen Staaten. Der Bund mobilisierte 434.000 Männer, der Süden zusätzliche 85.000. Ziel war ein schneller Sieg, um die Friedensbedingungen zu diktieren, bevor andere Mächte sich in den Konflikt einmischen können. Drei Armeen (insgesamt 309.000 Soldaten) marschierten auf Metz und Straßburg zu, um die französischen Kräfte zu umzingeln, bevor sie das Rheinland angreifen können. Es kam zu einem durchaus schwachen Angriff auf Saarbrücken, doch die Deutschen errangen Siege über die Franzosen in Bomy, Froschwiller-Wörth und Spichern. Die Koordination der deutschen Armeen war miserabel, Generäle agierten häufig eigenständig, ignorierten Befehle von Helmuth von Moltke, dem Generalstabschef. Aber die Koordination der französischen Kräfte war wesentlich katastrophaler, wie es sich bei den Schlachten von Mars-la-Tour und Gravelotte unter der Führung von Marschall François-Achille Bazaine zeigte. Die Moral der französischen Soldaten sank, die Nachschubwege brachen nach und nach weg. Nachdem sich Bazaine in die Stadt Metz zurückgezogen hatte, konnte Moltke ungefähr die Hälfte der Armee Frankreichs dort binden. Napoleon III. erwies sich als unfähig, die Stadt zu befreien, und zog nach Sedan, wo er am 2. September 1870 vernichtend geschlagen und gefangen genommen wurde.[9]
Mit dem Sturz des Kaisers wurde die Dritte Republik ausgerufen und der Krieg weitergeführt.[10] Die Franzosen wollten den Kampf noch nicht aufgeben, „[t]he country had plenty of weapons, the harvest was in, and many Frenchmen were not averse to getting paid and fed at government expenses.“[11] Die Deutschen sahen sich jedoch einer stetig wachsenden Kriegsmüdigkeit und überstrapazierten Nachschubwegen gegenüber. Moltke plante deshalb einen Marsch auf Paris, um die Hauptstadt einzunehmen und so den deutschen Sieg zu zementieren. Ab dem 23. September 1870 hatten 250.000 deutsche Soldaten Paris umzingelt, sahen sich aber nicht in der Lage, diese zu erobern, da die verteidigenden Truppen und die Nationalgarde in einer deutlichen Überzahl waren. Am 27. Oktober konnte Metz erobert werden, was deutsche Truppen freisetzte, die sich ebenfalls auf den Weg nach Paris machten. Es folgte über den Winter eine Reihe von harten und schweren Kämpfen, besonders mit den „francs-tireurs“ – Partisanenkämpfern, die sich aus der Bevölkerung rekrutierten und keine regulären Uniformen trugen. Am 27. Februar 1871 unterzeichnete die französische Regierung einen Waffenstillstand, da die Pariser Bevölkerung drohte zu verhungern und die Armee unter General Charles Denis Bourbaki, die eigentlich zur Hilfe eilen sollte, zerschlagen wurde und in die Schweiz floh.[12]
Mit dem Vertrag von Frankfurt war der Krieg am 10. Mai 1871 offiziell beendet. Wilhelm I. und Moltke drängten mit der Zustimmung von Bismarck auf Annexionen[13], „both as a marker of victory and to increase Germany’s security.“[14] Deutschland bekam die Regionen Elsass und Lothringen, Frankreich musste fünf Milliarden Francs an Reparationen zahlen. Die Zahlungsfrist betrug fünf Jahre, während dieser Zeit wurde die deutsche Besetzung fortgesetzt.[15]
Am 18. Januar 1871 riefen die deutschen Fürsten, die führenden Militärs und die deutschen Regimentsabgeordneten das Deutsche Kaiserreich im Spiegelsaal von Versailles aus.[16]
[1] Vgl. Katja Hoyer, Blood and Iron. The Rise and Fall of the German Empire 1871-1918, Cheltenham 2022, S. 52f.
[2] Zit. nach: ebd., S. 52.
[3] Zit. nach: Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, 13. Aufl., München 2018, S. 625.
[4]Hoyer, Blood and Iron, S. 53.
[5] Vgl. Clark, Preußen, S. 626f.
[6] Ebd., S. 627.
[7] Vgl. ebd. S. 627f.
[8] Vgl. Ernst Engelberg, Bismarck. Sturm über Europa, München 2017, S. 434.
[9] Vgl. Peter H. Wilson, Iron and Blood. A Military History of the German-speaking Peoples since 1500, London 2024, S. 394ff.
[10] Vgl. ebd., S. 396.
[11] Ebd.
[12] Vgl. ebd., S. 396f.
[13] Vgl. ebd., S. 397
[14] Ebd.
[15] Vgl. ebd.
[16] Vgl. Immanuel Geiss, Der lange Weg in die Katastrophe. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs 1815-1914, 2. Aufl., München 1991, S. 114.
3.2 Soldatische Mentalität und militärisches Vorgehen
Durch die Einführung der Wehrpflicht Anfang der 1860er wurde während der Reichseinigungskriege zum ersten Mal ein großer Teil der deutschen Bevölkerung militärisch mobilisiert. Der Ausbruch des Deutsch-Französischen Kriegs löste unter den Deutschen eher gemischte Reaktionen aus.[1] Familienväter, Bauern und Arbeiter betrachteten den kommenden Krieg deutlich kritisch, stand für sie doch bei Verwundung oder Tod ihre gesamte Existenz auf dem Spiel.[2] Diejenigen, die den Krieg hingegen bejubelten, waren „junge Männer ohne Familien und meist ohne berufliche Verantwortung und Lebenserfahrung, Angestellte, Schüler, Studenten“[3], junge Menschen aus dem nationalliberalen Bürgertum und Berufssoldaten. Sie betrachteten den Krieg mit nationalistischem Eifer als ein „großes Abenteuer“[4], „mixed with anti-French ressentiments.“[5] Bis zur Schlacht von Sedan gab es beim Großteil der deutschen Soldaten kaum Chauvinismus und Hass gegen die Franzosen. Trotzdem wurde Frankreich als Aggressor betrachtet, gegen den Deutschland einen gerechtfertigten Verteidigungskrieg führe und dem „eine Lektion erteilt“ werden müsse.
Die meisten gewöhnlichen Soldaten besaßen ein Verständnis von „Richtig“ und „Falsch“ in der traditionellen Linie des „Gerechten Kriegs“, sprich die Immunität von Nichtkombattanten und die Vermeidung von gewalttätigen Exzessen wurde gewahrt, auch wenn es in einigen Fällen zu solchen kam, besonders während intensiver Schlachten. Diese Vorfälle blieben aber bis zu einem gewissen Grad selten.[6] Rohkrämer schreibt dazu:
For the German army, whose campaign was marked by exceptional success, there was very little temptation to intensify warfare and violate the traditional ius in bello [sic!]. Most soldiers came to expect the quick victories that they had experienced in the two prevoius wars of unification and expected to be home by Christmas. Central food supplies were sufficient, and the army did not have to live off the land.[7]
Nach der Schlacht von Sedan begann sich das aber deutlich zu ändern. Das bonapartistische Regime unter Napoleon III. brach zwar zusammen, doch es bildete sich daraufhin die Dritte Republik Frankreichs, die den Kampf durch die Mobilisierung der „Nationalen Garde“ und der „franc-tireurs“ weiterführte. Auf der anderen Seite besaß Deutschland keinerlei Interesse an einem „moderaten Frieden“. Es ging nicht mehr nur darum, den Feind zu besiegen, er sollte zusätzlich noch permanent geschwächt werden. Es begannen die Belagerungen von Paris und Metz, andere Teile der deutschen Streitkräfte unter der Führung von Ludwig von der Tann-Rathsamhausen und Edwin von Manteuffel drangen tiefer in südliche französische Gebiete ein[8], „[a]part from a few major battles, the Germans pursued the French troops in long and tiring marches, which were frequently interrupted by small military encounters.“[9]
Die Lebensbedingungen der Soldaten verschlechterten sich zusehends, Hunger und Seuchen breiteten sich aus, die Nachschubwege wurden überstrapaziert.[10] Durch den Winter war es unmöglich, draußen zu schlafen, weshalb die deutschen Soldaten ihr Quartier in französischen Häusern suchten. Die Kommunikation wurde durch die Sprachbarriere erschwert, was zu Frustration und Konflikten zwischen Deutschen und Franzosen führte. Soldaten, die des Französischen mächtig waren, schafften es, überwiegend entspannte Beziehungen zu den Einwohnern aufzubauen[11], „[a]lthough there were a few well-educated soldiers who expressed strong prejudices against the French, most of them lived in harmony the population and praised their friendly and helpful manner.“[12] Von einer durch chauvinistische Gefühle getriebenen Entgleisung oder gar einer Dämonisierung des Feindes kann hier aber nicht die Rede sein.
In der kalten Jahreszeit nahmen jedoch die Plünderungen auch wegen des Zusammenbruchs der Nachschubwege deutlich zu. Verlassene Gebäude wurden in der Regel leer geplündert, auch französische „Gastgeber“ mussten oft unter Androhungen und gar Anwendungen von Gewalt ihre Vorräte hergeben.[13] Dieses Vorgehen trieb die französische Bevölkerung zur Verzweiflung, wie Karl Zeitz vom 2. Thüringischen Infanterie-Regiment Nr. 32 berichtet. Als seine Truppe gerade Lebensmittel und Vieh entwendete, kamen Frauen zu ihnen, „rissen wild die Kleider auseinander und schrien: ‚Da, mordet uns gleich, wenn wir nun einmal umkommen sollen; das ist besser als verhungern!‘ Sie nahmen ihre Kinder und warfen sie vor die Bajonette: ‚Spießt sie auf, das ist alles, was wir haben!‘“[14] Der Soldat schreibt, dass das „Jammern und Barmen der armen Einwohner […] immer höchst peinlich [ist].“[15] Mit zunehmender Dauer des Krieges verlieren die Soldaten ihren Anstand und handeln nur noch aus Eigeninteresse. Doch laut Rohkrämer gab es auch Soldaten, die durchaus Mitleid mit den französischen Zivilisten verspürten. Frantz von Wantoch-Rekowski, ein Offizier im Königs-Grenadier-Regiment, schreibt in seinem Kriegstagebuch, dass er sich jedes Mal schlecht fühlte, wenn er den Franzosen „das letzte Vieh“ wegnahm, er vergleicht sich selbst mit einem „Erzengel“.[16] Doch trotz schlechten Gewissens nahm er ihnen ihr Eigentum weg – „But what could I do? Our good soldiers should not suffer deprivation.“[17]
Den Bewohnern von belagerten Städten wurde in der Regel erlaubt, diese zu verlassen, um z. B. Kartoffeln auf dem Feld zu ernten. Manchmal gaben die deutschen Soldaten den Zivilisten auch Proviant, wenn sie darum baten. Erst als das Oberkommando befahl, dass die Bewohner in den Städten bleiben sollen, koste es, was es wolle, wurde diese Handlung (wenn auch mit einem schlechten Gewissen der Soldaten) eingestellt.[18]
Wirklichen Hass empfanden die deutschen Truppen nur gegen die „franc-tireurs“, die sie aufgrund ihrer Angriffe aus dem Hinterhalt fürchteten. Ihr Vorhandensein verschärfte auch das Dilemma zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, da in einem Partisanenkrieg laut Rohkrämer die gesamte Bevölkerung zum potenziellen Feind wird. Die Soldaten verstanden die Motive der „franc-tireurs“ nicht, sie sahen sie als „Mörder und Halsabschneider“, die auch als solche dann dementsprechend behandelt wurden. Auf Angriffe durch „franc-tireurs“ folgten oft hasserfüllte Racheaktionen.[19] Husser, ein badischer Soldat, beschreibt solch eine Tat, nachdem ein versteckter Scharfschütze einen Soldaten auf einem Pferd getroffen hatte: „[The German Soldier was] running up the stairs, stabbing the merchant who had fired the shot, dragging him down by his feet and throwing him into the street […], a huge soldier came running along, jumped in full rage on the shouted: ‚You bastard! I have to take my revenge as well! You pig!‘“[20] Gerechtfertigt wurde dieses Verhalten durch Husser folgendermaßen: „We had to act like this, just to protect our lives; if the situation were reversed the French would have probably burned the whole town.“[21] Rohkrämer berichtet aber auch davon, dass es einen Soldaten gab, der seine Kameraden davon abhielt, einen Franzosen zu lynchen, den sie trotz mangelnder Beweise für einen „franc-tireur“ hielten.[22]
Bei der Schlacht von Châteaudun am 18. Oktober 1870 brannten deutsche Soldaten die Stadt nieder, indem sie die Häuser anzündeten. Zivilisten, egal ob männlich oder weiblich, die sich mit der Waffe in der Hand zur Wehr setzten, wurden umgebracht[23], „man fand sie unter den Fenstern und Schießscharten durch Kopfschüsse getötet.“[24] Ähnlich dachten auch die deutschen Kommandanten über die „franc-tireurs“. In Städten mit Partisanenaktivitäten befahlen sie die Plünderung und Zerstörung des Ortes, sie nahmen Personen aus der Oberschicht als Geisel und drohten, sie zu erschießen.[25] General Leonhard von Blumenthal klagte über die Nachsichtigkeit und Barmherzigkeit seiner Truppen, die es nicht schafften, gefangengenommene Partisanen hinzurichten.[26] Die brutale Praxis ging nicht spurlos an den Soldaten vorbei. Karl Zeitz, der bei der Zerstörung von Châteaudun dabei war, schreibt später, nachdem der „Kampfesrausch“ abgeklungen war:
Wir hatten auf unseren späteren Zügen noch wiederholt Châteaudun zu durchschreiten. Wir taten es nie, ohne von dem Elende, welches sich da zeigte, tief ergriffen zu werden. Näherten wir uns der Stadt, so verstummten alle Lieder, kein heiteres Wort wollten mehr über unsere Lippen, lautlos marschierten wir durch die Straßen, die Bilder des Jammers und des Grauens schlossen den Mund.[27]
Der Soldat Franz Plitt vom 3. Kurhessischen Infanterie-Regiment Nr. 83 hatte wesentlich weniger Mitleid. Er beschreibt die Zerstörung als „ein schaurig-schönes Schauspiel“[28], was durchaus an den „amoralischen Ästhetizismus“ Ernst Jüngers erinnert, den er in seinen (Kriegs-)Tagebüchern pflegte.
All das Mitleid und das Nachdenken über die eigene Grausamkeit hielten die deutschen Streitkräfte und ihr Oberkommando nicht davon ab, belagerte Städte mit Artillerie zu bombardieren, wie im Falle von Straßburg. Moltke wollte die Stadt so schnell wie möglich erobern, um die versammelten Truppen für neue Manöver einzusetzen. Zum Einsatz kamen sowohl Feldartillerie als auch schwere Geschütze, die die bewohnten Viertel der Stadt angriffen. Durch deutsche Brandbomben wurden insgesamt 2.000 Zivilisten getötet oder verwundet, 450 Häuser zerstört und 10.000 Menschen obdachlos gemacht. Die Bitte des Bischofs von Straßburg, dass doch wenigstens Frauen und Kinder die Stadt verlassen dürfen, wurde von Moltke vehement abgelehnt.[29]
Die Hauptstadt Paris wurde seit September 1870 von 150.000 deutschen Soldaten umzingelt und belagert. In der Stadt selbst befanden sich 400.000 Verteidiger (75.000-80.000 reguläre Linientruppen, 195.000 Nationalgardisten, 115.000 Mobilgardisten, 18.000 Mann Freikorps). Eine Erstürmung der Stadt war unmöglich und Ausfälle wurden durch deutsche Kräfte verhindert. Um einen schnelleren Sieg zu erringen, schlug Bismarck die Bombardierung der Stadt vor, was nur von Kriegsminister Albrecht von Roon unterstützt wurde, während beinahe alle Generäle (einschließlich Blumenthal), Moltke und Kronprinz Friedrich Wilhelm dagegen waren. Blumenthal setzte auf die Methode des Aushungerns.[30] Die Menschen in Paris sollten, wenn es nach ihm ginge, „wie die tollen Hunde krepieren.“[31] Am 5. Januar 1871 begann die militärisch sinnlose Beschießung der Stadt. 300 bis 400 Granaten wurden täglich verschossen. Bei diesen Angriffen kamen 97 Menschen ums Leben.[32] Die deutschen Soldaten begrüßten die Bombardierung, da sie seit drei Monaten vor den Toren der Stadt ausharren mussten und sich einen schnelleren Sieg durch den Beschuss erhofften.[33] Der bayerische Jäger Oskar Leibig schreibt über die Ereignisse: „Everybody involved will forever remember the three weeks of bombardment of Paris … With us the first gunshot brought a great change. It raised our spirits by a hundred percent. […] The German guns had a noble sound by which you could tell their tremendous effect.“[34] Durch die Belagerung gingen die Lebensmittel zu Ende, alle verfügbaren Tiere (Katzen, Hunde, Ratten, Zootiere) wurden geschlachtet. Krankheiten breiteten sich in der eingeschlossenen Bevölkerung aus. Im Januar starben pro Woche 4.500 Menschen.[35]
Trotz der oft beschworenen „Erbfeindschaft“ zwischen Frankreich und Deutschland sahen sich die Soldaten untereinander als gleich an, wenn von den afrikanischen und arabischen Kolonialtruppen (den sogenannten „Turkos) abgesehen wird, denen häufig mit Hass und Abscheu begegnet wurde. [36] Gegenüber den regulären Truppen war Hass selten ein Motivator. Die meisten Soldaten sprachen in ihren Memoiren davon, wie sie von „Patriotismus“, „Abenteuerlust“, „Kameradschaft“ und einem Verlangen, ihre „Männlichkeit unter Beweis zu stellen“, angetrieben wurden. Der einzelne Soldat hatte gar Hemmungen, wirklich hilflose Gegner zu töten. Richtige Aggressionen traten nur im Kampf zutage. Durch die moderne Kriegsentwicklung sahen die Soldaten ihre Gegner häufig nicht einmal, wodurch sie diese nicht als Menschen wahrnahmen. Erst im hitzigen Nahkampf mit dem Bajonett entfesselte sich echte Brutalität. Mit zunehmender Kriegsdauer sank auch die Hemmschwelle zum Töten und der Hass gegenüber dem Feind wuchs. Gleichzeitig nahm aber auch die Motivation, weiterzukämpfen, ab, da der Krieg in den Augen der Soldaten „bereits gewonnen“ war.[37]
Ideologie spielte bei den einzelnen Soldaten kaum eine Rolle. Zusammengeschweißt wurden sie durch Kameradschaft untereinander und durch die Erfahrungen im Krieg, nicht durch politisch-patriotische Reden. Die einzige politische Veranstaltung, der mit Jubel seitens der Soldaten begegnet wurde, war die Verkündung des Friedens und somit das Ende des Krieges. Auch hinterließ der Krieg, laut Rohkrämer, keinen tiefen Graben zwischen den französischen und deutschen Soldaten. Weder war Hass in den Tagebüchern präsent noch wurde ein neuer Krieg gefordert.[38]
Allgemein äußerten die deutschen Soldaten häufig Skrupel, besonders hinsichtlich der Behandlung von Zivilisten, und versuchten, die Taten irgendwie moralisch zu rechtfertigen, auch wenn die Zerstörung und Gewalt in einigen Fällen, wie es manche Teilnehmer des Ersten Weltkriegs später tun, verherrlicht wurden. Das deutsche Oberkommando schien hingegen keinerlei Skrupel zu haben, unzählige Zivilisten zu verletzen oder gar zu töten, wenn es den Krieg auch nur ein wenig vorantreibt.
Nur eine Minderheit, nämlich das liberale Bürgertum, begrüßte den Krieg gegen Frankreich. Der große Teil der männlichen Bevölkerung sah ihm eher mit Sorgen entgegen. Eine Ideologisierung und Indoktrination der deutschen Soldaten fand nicht statt, auch eine extreme Freund-Feind-Unterscheidung fehlte. Was die Soldaten zum Kämpfen motivierte, wenn sie diese Motivation denn überhaupt niederschrieben, war nicht der Hass gegen Franzosen oder Frankreich, sondern die „Lust“ auf Abenteuer und die Möglichkeit, den Krieg als eine Art „Männlichkeitsprüfung“ zu nutzen.
Zivilisten wurden weitgehend von den Soldaten geschont, die meisten von ihnen handelten in der Linie des „gerechten Krieges“, auch wenn es stellenweise zu Exzessen kam. Wo sich allerdings Hass, Grausamkeit und gewalttätige Überreaktionen niederschlugen, war der Kampf gegen (mitunter vermeintliche) „franc-tireurs“. Hier verschwammen auch die Grenzen zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. Die französischen Partisanen wurden in der Regel ohne Prozess hingerichtet und jeder Angriff auf deutsche Soldaten mit überwältigender Härte vergolten.
Belagerungen und Bombardierungen von Städten wurden ohne große Rücksicht auf die Zivilbevölkerung ausgeführt. In den Köpfen führender Militärs war beinahe jede Maßnahme gerechtfertigt, um schneller zum Sieg zu kommen. Ein ideologisch motivierter Vernichtungsfeldzug wurde dennoch nicht geführt.
Allgemein lässt sich festhalten, dass im Bereich der soldatischen Mentalität und des militärischen Vorgehens zumindest leichte Ansätze eines totalen Kriegs zu finden sind. Mit zunehmender Dauer des Krieges, besonders nach dem Sieg von Sedan, sank die Hemmschwelle zum Töten, wuchs die Frustration unter den Soldaten und der Hass gegen Franzosen nahm langsam zu. Die Soldaten des Deutsch-Französischen Kriegs sind mit den Soldaten der Wehrmacht und der SS, die ja die Kriegsmaschinerie des totalitären NS-Systems waren, kaum zu vergleichen.
[1] Vgl. Rohkrämer, Daily Life at the Front and the Concept of Total War, S. 499.
[2] Vgl. Tobias Arand, 1870/71. Die Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges erzählt in Einzelschicksalen, 3. Aufl., Hamburg 2019, S. 125.
[3] Vgl. ebd., S. 126.
[4] Vgl. Rohkrämer, Daily Life at the Front and the Concept of Total War, S. 499.
[5] Ebd.
[6] Vgl. ebd., S. 500.
[7] Ebd.
[8] Vgl. ebd.
[9] Ebd., S. 501.
[10] Vgl. ebd.
[11] Vgl. ebd., S. 504.
[12] Ebd.
[13] Vgl. ebd., S. 504f.
[14] Karl Zeitz, Kriegserinnerungen eines Feldzugsfreiwilligen aus den Jahren 1870 und 1871, Altenburg 1905, S. 101.
[15] Ebd.
[16] Vgl. Rohkrämer, Daily Life at the Front and the Concept of Total War, S. 505.
[17] Zit. nach ebd.
[18] Vgl. ebd., S. 501f.
[19] Vgl. ebd., S. 506ff.
[20] Zit. nach ebd., S. 508.
[21] Zit. nach ebd.
[22] Vgl. ebd.
[23] Vgl. Arand, 1870/71, S. 446f.
[24] Zeitz, Kriegserinnerungen eines Feldzugsfreiwilligen aus den Jahren 1870 und 1871, S. 137.
[25] Vgl. Rohkrämer, Daily Life at the Front and the Concept of Total War, S. 508.
[26] Vgl. Klaus-Jürgen Bremm, 70/71. Preußens Triumph über Frankreich und die Folgen, Darmstadt 2019, S. 175.
[27] Zeitz, Kriegserinnerungen eines Feldzugsfreiwilligen aus den Jahren 1870 und 1871, S. 137f.
[28] Franz Plitt, Rückerinnerungen eines Dreiundachtzigers, Kassel 1903, S. 51.
[29] Vgl. Bremm, 70/71, S. 182-185.
[30] Vgl. Gerd Fesser, Sedan 1870. Ein unheilvoller Sieg, Paderborn 2019, S. 108f.
[31] Zit. nach ebd., S. 109.
[32] Vgl. ebd.
[33] Vgl. Rohkrämer, Daily Life at the Front and the Concept of Total War, S. 502.
[34] Zit. nach ebd.
[35] Vgl. Fesser, Sedan 1870., S. 109f.
[36] Vgl. Rohkrämer, Daily Life at the Front and the Concept of Total War, S. 507, 511f.
[37] Vgl. ebd., S. 503, 509-513.
[38] Vgl. ebd., S. 514ff.
3.3 Aufbau der Heimatfront
Der Krieg gegen Frankreich brachte neue Herausforderungen und Schwierigkeiten für die deutschen Länder. Ein „begrenzter Kabinettskrieg“ ohne Beteiligung der Bevölkerung war aufgrund der fortschreitenden Industrialisierung nicht mehr möglich. Alexander Seyferth schreibt, dass der „ausbrechende Krieg […] in einem weit höheren Maße die Unterstützung der Wirtschaft und Gesellschaft [benötigte] als die beiden kurzen Feldzüge 1864 und 1866.“[1] Die Veränderung der „Emser Depesche“ und antifranzösische Ressentiments allein reichten nicht aus, um eine stabile Heimatfront aufzubauen, besonders angesichts der starken antipreußischen Haltungen, die in den südlichen deutschen Gebieten besonders weit verbreitet waren. Um die Bevölkerung zur Heimatfront zusammenzuschweißen, benötigten die deutschen Monarchien treue und funktionsfähige Staatsapparaturen. Die Beamtenschaft und die Polizei waren weitgehend loyal. Etwaige Partikularisten und andere Abweichler wurden kurz vor oder während der Mobilisierungsphase vorsichtshalber aus dem Dienst entlassen, um einen reibungslosen Vorgang zu gewährleisten.[2]
Der von König Wilhelm I. eingesetzte Generalgouverneur für die Küstenlande, Eduard Vogel von Falckenstein, ging in Nordschleswig besonders hart gegen Beamte vor, die in seinen Augen zu wenig gegen die dänische Minderheit taten. Sie wurden kurzerhand aus dem Dienst entfernt.[3] Vorgesetzte rieten ihren Mitarbeitern an, dass sie „oppositionell eingestellte“ Kollegen unverzüglich zu melden haben.[4] So wies der Oberpostdirektor Schiffmann vom Bezirk Hannover an:
Sollte ein Beamter, Unterbeamter oder contractlicher Diener wider Verhoffen [sic!] dieser Erwartung nicht entsprechen oder sich so weit vergessen, Mißtrauen oder Unzufriedenheit unter der Bevölkerung zu wecken, oder wol [sic!] gar zu feindlichen Handlungen sich gebrauchen zu lassen, so haben die Post-Anstalten davon unverzüglich Anzeige zu erstatten, damit ein solcher Verräther an der heiligen Sache des Vaterlandes sofort unschädlich gemacht und gegen ihn mit der ganzen Strenge der Gesetze eingeschritten werden kann.[5]
Staatsdiener wurden demnach auf ihre „vaterländische Treue“ und ihren „Patriotismus“ hin geprüft. Sollten sie den angelegten Maßstäben nicht gerecht werden, mussten sie mit erheblichen Konsequenzen wie dem Verlust des Berufs, Verhaftungen und (womöglich) öffentlichen Anprangerungen rechnen. Denunziation wurde somit zur staatlichen Pflicht.
Auch die Polizei sollte vermehrt gegen Oppositionelle vorgehen. Dafür wurde sie besser besoldet als andere Soldaten. Aufgrund ihrer personellen Unterbesetzung waren ihrer Effektivität jedoch erhebliche Grenzen gesetzt.[6] Seyferth schreibt, dass „[s]elbst die dreigliederige Ordnungsmacht Preußen […] nur über punktuelle Stützpunkte [verfügte], bei denen der Apparat über eine respektable Anzahl an Polizisten verfügte.“[7] Die Autorität der Polizei war demnach gering, Widerstände gegen sie standen während des Krieges auf der Tagesordnung. Eine Aufstockung des Personals und finanzielle Anreize konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ordnungskräfte bestenfalls bei kleineren, unorganisierten regionalen Konflikten eingesetzt werden konnten.[8] Von einem regelrechten Polizeistaat, wie man ihn im faschistischen Italien oder im nationalsozialistischen Deutschland sehen konnte, kann während dieser Zeit nicht die Rede sein. Dazu fehlten einfach die Möglichkeiten.
Trotz ihrer geringen Anzahl und Ineffizienz ging die Gendarmerie nach ihren Möglichkeiten gegen etwaige „Landesverräter“ vor, wie z. B. gegen polnische Agitatoren und Sozialdemokraten, in deren Organisationen sogar Spitzel eingeschleust wurden. Die strafrechtlichen Maßnahmen beschränkten sich aber auf kurzfristige Verhaftungen. Die meisten wurden ohne weitere Strafen wieder freigelassen. Maßnahmen durften nie zu offensichtlich und invasiv sein, ansonsten hätten sie die Illusion einer gemeinsamen, freiwilligen und standhaften Heimatfront zerstört.[9]
Um die Polizeikräfte ebenso wie das Militär zu unterstützen, förderten die Staaten die Gründung von Freiwilligenkorps. Die Bürger sollten dazu mobilisiert werden, aktiv das Vaterland zu schützen und gegen „Andersdenkende“, die die Heimatfront bedrohen könnten, vorzugehen. Das Problem bestand darin, dass sich verhältnismäßig wenig Menschen für die Milizen meldeten. Der Schutzrat Schupenberg, der mit der Organisation von Freiwilligenmilizen an der Nordsee betraut wurde[10], schrieb in seinem Bericht,
„daß die überwiegende Mehrzahl der Bewohner – zumindest solange kein sicherer Rückhalt durch eine stärkere Militairmacht und durch Armierung der Küste nicht vorhanden – zur Übernahme von Waffendiensten nicht geneigt [war, A.S.] [sic!], indem man befürchtete, daß durch militairische Theilnahme an der Abwehr der Franzosen die Letzteren zu grausamen Repressalien gegen Land und Leute sich rächten.[11]
Die Milizen, die von Beamten zusammengestellt werden konnten, bekamen dann auch Befugnisse, polizeiliche Aufgaben wie das Verfolgen von Oppositionellen zu übernehmen.[12] Ihre Funktion ähnelte der einer (wenn auch mit mehr Befugnissen ausgestatteten) „Nachbarschaftswache“ oder der Hilfspolizei im Nationalsozialismus. Seyferth formuliert es folgendermaßen: „Die Bevölkerung betrieb […] politische Selbstbereinigung auf Initiative des Staates.“[13]
Mit der Verhängung des Belagerungszustandes bzw. des Kriegszustandes auf der Grundlage von § 68 der Verfassung des Norddeutschen Bundes war es König Wilhelm I. nicht nur möglich, bestimmte Artikel der preußischen Verfassung außer Kraft zu setzen, sondern auch die Autonomie von Gebieten, die durch „feindliche Invasionen“ bedroht waren (z. B. die Küstengebiete), einzuschränken. Jegliche politische Gewalt wurde auf das Militär und die Generalgouverneure übertragen.[14] Das „bedeutete de facto eine fast unumschränkte Machtgewalt der Militärbefehlshaber in den betroffenen Gebieten, da die sogenannten Generalgouverneure lediglich ihren militärischen Vorgesetzten und dem Kabinett des preußischen Königs verantwortlich waren.“[15] Sie waren in der Lage, nach Belieben, demokratische Grundrechte auszusetzen, wie „die Artikel 5 und 6 über die persönliche Freiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Artikel 27 und 28 über die Gewährleistung der freien Meinungsäußerung und der Unantastbarkeit der Presseparagraphen, der Artikel 29 und 30 bezüglich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit“[16] sowie den Artikel 36 zum Einsatz von militärischer Macht im Inneren, um Unruhen bzw. Aufstände zu unterdrücken.[17] Es ist ein Fall bekannt, wo der Generalgouverneur Falckenstein führende Persönlichkeiten der Sozialistischen Arbeiterpartei bis zum Ende des Krieges festnehmen ließ, sich dafür sieben Jahre später verantworten musste, da die Maßnahme die Grenzen des damaligen Kriegsrechts überschritt. Die preußische Staatskasse zahlte daraufhin auf Empfehlung Bismarcks Entschädigungen an die inhaftierten Sozialisten.[18] Demnach konnten Generalgouverneure nicht völlig uneingeschränkt agieren. Ihr Handeln konnte gesetzliche Konsequenzen hervorrufen.
Die deutschen Staaten verfügten auch über genügend Möglichkeiten, die schon vor dem Deutsch-Französischen Krieg existierten, um die Presse an die Heimatfront zu binden und zu gewährleisten, dass sie im Sinne der offiziellen Regierungspolitik handelt. Es gab durchaus subversive Methoden wie die Pflicht zum Impressum, einen Kautions- (eine Kaution konnte zwischen 2.500 und 5.000 Reichstaler betragen) und Konzessionszwang, das Recht von Behörden, Zeitungen beschlagnahmen zu lassen, und Gegendarstellungen in Umlauf zu bringen. Artikel, die gegen das Gesetz verstießen, konnten mit erheblichen Geldbußen bestraft werden. Hinzu kam, dass Poststellen sich einfach weigern konnten, bestimmte Zeitungen zu verteilen.[19]
Bismarck war durch die sogenannten „Reptilienfonds“ (beschlagnahmte Gelder der Königsfamilie aus Hannover) auch in der Lage, ohne jegliche parlamentarische Kontrolle regierungstreue Zeitungen finanziell zu unterstützen. Zusätzlich besaß Preußen seit 1860 ein „Literarisches Büro“, mit dem es propagandistische Artikel in allen möglichen Zeitungen veröffentlichen und Redakteure (wie Theodor Fontane) finanzieren bzw. bestechen konnte. Inwieweit die genannten Maßnahmen einen nennenswerten Einfluss auf die Bevölkerung hatten, lässt sich heute schwer ermitteln.[20]
Gleich zu Beginn des Krieges wurde die Presse von staatlicher Seite aus daran erinnert, ihre „patriotische Pflicht“ zu erfüllen.[21] Der preußische Innenminister war sich sicher, dass die meisten offiziellen Zeitungen dem nachkommen werden, warnt aber, dass „an denjenigen Stellen, wo jene Zuversicht nicht begründet erscheinen sollte, […] alsbald auf die strafrechtlichen Folgen der Nichtbeachtung der zu stellenden Forderung hinzuweisen [ist]. Das königliche Regierungs – Präsidium [sic!] wolle mit Sorgfalt darüber wachen, daß der Mahnung überall Folge gegeben werde […].“[22] Kritische Berichterstattung wurde von Anfang an schwer bestraft. Zeitungen, die sich nicht der nationalistischen Euphorie anschließen wollten, wie die „Deutsche Volkszeitung“, wurden verboten. Den Redakteur der „Sächsischen Volkszeitung“ nahmen die Behörden in Gewahrsam, um die Ausbreitung weiterer regierungsfeindlicher Artikel zu verhindern. Preußen nutzte die Chance, um den Einfluss separatistisch-oppositioneller Zeitungen der Dänen und Polen sowie (nach dem Sieg in Sedan) sozialdemokratischer Blätter zu begrenzen bzw. gleich zu verbieten. Ebenso wurde die Einfuhr kritischer Blätter aus dem Ausland unterbunden und diese zuweilen auch auf den Index gesetzt.[23]
Die deutschen Regierungen manipulierten die Presselandschaft nicht nur durch Zensur, Gesetze und Repressionen gegen Redakteure, sondern auch durch „positive Maßnahmen“. Kriegsberichterstatter mussten sich bei staatlichen oder militärischen Stellen anmelden und auf eine Zulassung hoffen. Der Staat konnte so die Anzahl begrenzen und sich aussuchen, wer überhaupt über den Krieg berichten darf. Somit wurde der Informationsfluss gezielt gesteuert und verhindert, dass etwaige kritische Nachrichten über das Heer oder die Kriegsführung an die Öffentlichkeit gelangten.[24]
Zu guter Letzt möchte ich über die (finanzielle) Versorgung und Unterstützung der notleidenden Soldatenfamilien sprechen, die die deutschen Staaten auf die private Sphäre abwälzten, indem sie auf die bereits erprobten Unterstützervereine zurückgriffen. Königin Augusta rief insbesondere Frauen dazu auf, wohltätige Organisationen zu gründen und so ihre „patriotische Pflicht“ zu erfüllen. Innerhalb kurzer Zeit wurden in Deutschland 359 patriotische Frauenvereine mit insgesamt 30.000 Mitgliedern gegründet. Ebenso rieten die Behörden ihren Beamten dazu, solche Organisationen zu gründen.[25] Klaus-Jürgen Bremm erklärte das Prinzip folgendermaßen: „Namhafte Vertreter der Obrigkeit und des patriotischen Großbürgertums besetzten überall ehrenamtlich die Führungspositionen der formal privaten Hilfsorganisationen und entschieden über die Verwendung der Spendengelder, die zum größten Teil aus den Taschen der ‚Untertanen‘ stammten.“[26] Die verschiedenen Organisationen wurden dann auf Bestreben von Wilhelm I. unter einem Zentralkomitee in Berlin zusammengefasst.[27]
Durch diese Herangehensweise animierte die Regierung nicht nur die Bevölkerung, freiwillig Teil der Heimatfront zu werden, indem sie an den Patriotismus und die christliche Nächstenliebe appellierte, sondern vermied auch, ganz im Sinne der Doktrin des vorherrschenden Wirtschaftsliberalismus, eine Erhöhung der Steuern.[28] Bremm schreibt, „[o]hne die Opferbereitschaft des privaten Sektors hätte der Krieg gegen Frankreich fraglos zu massiven sozialen Verwerfungen und gewiss zu einem Chaos in der Versorgung der allein auf deutscher Seite angefallenen 90.000 Kriegsverletzten geführt.“[29] Die Bereitschaft zu spenden nahm aber nach dem Sieg von Sedan deutlich ab, da sich eine zunehmende Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung breit machte. Der Kölner Hilfsverein meldete gegen Ende des Jahres 1870, dass seit Mitte Oktober ungefähr 40.000 Taler eingegangen waren – zum Vergleich: In den ersten drei Kriegsmonaten kam das Dreifache zusammen.[30]
Der Deutsch-Französische Krieg stellte die deutschen Regierungen vor neue Herausforderungen. Im Gegensatz zu den beiden bisherigen Kriegen, die recht schnell vorüber waren, musste nun die Bevölkerung angesichts des Aufwandes ins Geschehen einbezogen werden. Um eine „geeinte Heimatfront“ aufzubauen oder zumindest den Anschein zu erwecken, nutzten die deutschen Staaten mitunter sehr autoritäre Maßnahmen. Doch diese durften wiederum nicht zu übergriffig und offensichtlich sein, ansonsten könnte es die Illusion einer sich freiwillig gebildeten, geeinten Heimatfront zerstören. Abgesehen davon, fehlten den deutschen Staaten die Möglichkeiten, autoritär zu handeln. Es mangelte an Personal für die Polizei und die Bevölkerung zeigte wenig Interesse an der Mitwirkung in Bürgerwehren. Aber die preußische Regierung griff in einem bis dato unbekannten Ausmaß in die Autonomie deutscher Gebiete, die „invasionsgefährdet“ waren, durch die Einsetzung von Generalgouverneuren ein. Diese konnten nach eigenem Ermessen Grundrechte außer Kraft setzen und unliebsame Personen verhaften lassen. Ihre Befugnisse waren weit gefasst, aber wie am Beispiel von Falckenstein gezeigt, nicht unbegrenzt.
Die Zensur der Presse, das Vorgehen gegen die Opposition und die Mobilisierung gegen „innere Feinde“ scheinen Merkmale vieler kriegführender, auch demokratischer und autoritärer Staaten, nicht nur totalitärer, zu sein, wie in den USA unter Abraham Lincoln (Zensur der Presse[31]) und Franklin D. Roosevelt (Deutsche, Italiener und Japaner in Internierungslager[32]), in der Ukraine (Verbot und Auflösung oppositioneller Parteien mit Nähe zum russischen Staat[33]) und in Russland (verstärkt polizeiliches Vorgehen gegen Kritiker[34]). Die deutschen Länder wichen nicht großartig von dem ab, was auch andere Staaten während ihrer Kriege praktizierten. Viele der Pressegesetze gab es bereits vor dem Deutsch-Französischen Krieg und die meisten Oppositionellen, die inhaftiert wurden, kamen nach kurzer Zeit wieder frei. Allgemein scheint Krieg dem Staat, egal ob nun von demokratischer, autoritärer oder totalitärer Natur, eine passende Gelegenheit zu bieten, die Presse auf Kurs und die unliebsame Opposition zum Schweigen zu bringen.
Die Versorgung der Familien, deren Väter, Brüder und Söhne in Frankreich kämpften, wälzten die deutschen Staaten auf Privatpersonen und gemeinnützige Vereine ab. Eine übergeordnete staatliche Behörde, die sich darum kümmerte, gab es nicht. Das widerspräche auch dem liberalen Denken des 19. Jahrhunderts. Beim Aspekt der Heimatfront gibt es im Deutsch-Französischen Krieg gewisse Überschneidungen mit dem „totalen Krieg“, wie das Vorgehen gegen die Opposition, die Ausschaltung von Grundrechten, die Zensur der kritischen und die Mobilisierung der loyalen Presse. Diese gibt es aber auch bei anderen kriegsführenden Nationen. Des Weiteren fehlten einfach staatliche Strukturen und personelle Kräfte. Auch gingen die Maßnahmen nie zu weit. Es gab keinen „Volkssturm“, keine „totale Mobilmachung“ vom Greis bis zum Kleinkind, keine Masseninternierung von Staatsgegnern, keine Hinrichtungen wegen „Wehrkraftzersetzung“.
[1] Alexander Seyferth, Die Heimatfront 1870/71. Wirtschaft und Gesellschaft im deutsch-französischen Krieg (= Krieg in der Geschichte, 35), Paderborn 2007, S. 265.
[2] Vgl. ebd., S. 266-269.
[3] Vgl. ebd., S. 270.
[4] Vgl. ebd., S. 271.
[5] Zit. nach ebd.
[6] Vgl. ebd., S. 274f.
[7] Ebd., S. 275.
[8] Vgl. ebd., S. 275f.
[9] Vgl. ebd., S. 305.
[10] Vgl. ebd., S. 288.
[11] Ebd.
[12] Vgl. ebd., S. 289.
[13] Ebd.
[14] Vgl. ebd., S. 282f.
[15] Ebd., S. 283.
[16] Ebd.
[17] Vgl. ebd.
[18] Vgl. Bremm, 70/71, S. 159.
[19] Vgl. Seyferth, Heimatfront 1870/71, S. 326ff.
[20] Vgl. ebd., S. 329ff.
[21] Vgl. ebd., S. 338.
[22] Zit. nach ebd.
[23] Vgl. ebd., S. 339-342.
[24] Vgl. ebd., S. 356-364.
[25] Vgl. Bremm, 70/71, S. 154f.
[26] Ebd., S. 155.
[27] Vgl. ebd.
[28] Vgl. ebd., S. 156f.
[29] Ebd., S. 157.
[30] Vgl. ebd., S. 158.
[31] Vgl. David Asp, Civil War. U.S. https://firstamendment.mtsu.edu/article/civil-war-u-s/ (letzter Zugriff am 09.09.2025).
[32] Vgl. Emily Brosveen, The Untold Story of Texas Internment Camps During WWII, https://www.tshaonline.org/handbook/entries/world-war-ii-internment-camps (letzter Zugriff am 09.09.2025).
[33] Vgl. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Politisches System und aktuelle Politik in der Ukraine, https://osteuropa.lpb-bw.de/ukraine-politisches-system (letzter Zugriff am 09.09.2025).
[34] Vgl. Andrei Karew, Opposition in Russland. Sieben Jahre Straflager, https://taz.de/Opposition-in-Russland/!5906588/ (letzter Zugriff am 09.09.2025).
3.4 Eingriffe in die Wirtschaft
Der Deutsch-Französische Krieg brachte die Wirtschaft in den deutschen Staaten in Bedrängnis. Deutsche, die in Frankreich arbeiteten und sich dort eine Existenz aufbauten, mussten das Land mit Ausbruch des Krieges schlagartig verlassen. Bis Ende November kamen allein in Bayern und Baden bis zu 12.000 Flüchtlinge an, die nun dringend Versorgung und Arbeit benötigten. Die Mobilisierung von nahezu einer Million wehrpflichtiger Männer riss ein gewaltiges Loch in die Wirtschaft. Die Einziehung und der Transport der Soldaten wurden vom Militär genaustens geplant[1], aber
[k]aum eine Behörde in Berlin, Dresden, Stuttgart oder München hatte ernsthaft in Betracht gezogen, welche Auswirkungen der plötzliche Ausfall einer gewaltigen Zahl meist hoch qualifizierter Arbeitskräfte auf Industrie und Gewerbe haben würde, wenn zudem durch die fast gänzliche Blockade der Eisenbahnen das damals wichtigste Transportmittel von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Verfügung stand.[2]
Bereits wenige Tage nach dem Ausbruch des Krieges kam es zu einem Mangel an Lebensmitteln in der bayerischen Rheinpfalz. Fast die gesamte Wirtschaft in der linksrheinischen Region brach aufgrund der Beschlagnahme von Transportmitteln und der Unterbringung von Soldaten zusammen. Zusätzlich belastete eine steigende Inflation die Bevölkerung. Um soziale Unruhen zu verhindern, nutzten die Regierungen die gewohnten Methoden der Zensur und der polizeilichen Einschüchterung[3], „[m]angelnder Kredit und leere Kassen, aber auch die traditionelle liberale Wirtschaftsideologie vieler deutscher Staaten verhinderten soziale Ausgleichsmaßnahmen für die betroffenen Bürger.“[4] Anfangs sahen das nationalliberale Bürgertum und die Unternehmer über diese Probleme hinweg, erhofften sie sich doch bei einem Sieg Vorteile wie die Vereinigung der deutschen Länder. Doch mit zunehmender Dauer stellte sich auch bei der kriegseuphorischen Schicht Ernüchterung ein.[5]
Der Krieg bestimmte die Form des Marktes, alles wurde der Nachfrage des Militärs untergeordnet. Wirtschaftliche Sektoren, die dieser neuen Nachfrage nicht nachkamen, nahmen erheblichen Schaden durch Umsatzeinbußen, während andere Unternehmen, die darauf schnell genug reagieren konnten, in der Lage waren, Vorteile daraus zu ziehen.[6] Seyferth schreibt, dass der Krieg „so weitreichend in die Produktion der Güter ein[griff], daß ganze Industriezweige aus dem Boden gestampft wurden, um dem Bedarf gerecht zu werden.“[7] Diejenigen, die besonders vom Krieg profitierten, waren u. a. die Unternehmen, die mit Leder arbeiteten und so die Truppen mit Ersatzteilen belieferten, die Brennstoffproduzenten sowie die Nahrungsmittelhändler, während z. B. Bauunternehmen, kleine Gewerbe, Handwerker und Händler, die für private Haushalte produzierten, unter dem Krieg sehr zu leiden hatten. Von der Benutzung (und dem Ausbau) der Eisenbahn konnte die Wirtschaft hingegen kaum profitieren, da diese vollständig unter die Kontrolle des Militärs kam.[8]
Die Wirtschaft, und damit auch das liberale Bürgertum, sicherte den deutschen Regierungen die Unterstützung zu, da sie sich ein vereintes Deutschland und Annexionen erhoffte, vorausgesetzt, der Krieg bliebe kurz und begrenzt, womit auch das wirtschaftliche Risiko überschaubar sei. In der ersten Hälfte des Krieges konnten die Staaten dieses Versprechen durchaus einhalten[9],
[i]n der zweiten Kriegsphase jedoch mußten die deutschen Regierungen auf die veränderte Situation in den nun vermehrt auf ein rasches Ende des Krieges drängenden Unternehmen reagieren und dafür Sorge tragen, daß der Kriegskurs trotz augenblicklicher materieller Einbußen bis zum Ende des Feldzuges Unterstützung erhielt.[10]
Die deutschen Staaten besaßen verschiedene Instrumente, wie das mächtige Nachfragemonopol des Militärs, um die Wirtschaft in die „richtige“ Richtung zu lenken. Aufträge bekam, wer schnell, billig und in Massen produzieren sowie kurzfristig liefern konnte. Politische Rücksichten spielten dabei eine eher untergeordnete Rolle, wichtig waren der Bedarf des Militärs und der Preis.[11]
Die Staaten stützten sich bei ihrer Kriegswirtschaft weniger auf Kleinbetriebe, da diese die hohe Nachfrage nicht befriedigen konnten, sondern auf Großunternehmen – ob nun bei der Herstellung von Kanonen (Krupp), dem Bau von Eisenbahnwaggons oder der Produktion der sogenannten „Erbswurst“. Diese „Partnerschaft“ war aber keine auf Augenhöhe. Die Behörden, ob nun zivil oder militärisch, nahmen kaum Rücksicht auf die Interessen der Wirtschaft. Fahrzeuge wurden in hoher Zahl beschlagnahmt, neugebaute Eisenbahnwaggons durften nur zu militärischen Zwecken verwendet werden, Personen wurden eingezogen, egal ob sie nun wirtschaftlich für eine Region wichtig waren oder nicht.[12] Seyferth schreibt, dass „das Militär auch nicht weiter auf die zahlreichen Klagen, daß die zu Beginn des Feldzuges requirierten Fuhrwerke in der Heimat dort dringend benötigt wurden[, reagierte].“[13]
Die Gefahr von inneren Unruhen und Hungersnöten in den deutschen Ländern bestand während der gesamten Kriegsdauer. Um diese Gefahr abzuwenden, nutzten die Regierungen verschiedene Maßnahmen, wie z. B. die Schaffung von zeitlich begrenzten Arbeitsplätzen durch Haus- und Straßenbauprojekte oder durch Arbeitsbeschaffungsprogramme in Gebieten mit hoher Erwerbslosigkeit (militärische Projekte wie den Bau von Bahnlinien). In anderen Orten gab es einen erheblichen Mangel an Arbeitskräften durch die Mobilisierung der männlichen Bewohner (besonders im Bereich der Landwirtschaft), weshalb Behörden und Regierungspräsidenten entweder Personal vom Kriegsdienst gezielt freistellten, gemeinsame Arbeitseinsätze in Dörfern organisierten oder sich dafür einsetzten, dass Frauen, besonders in der Rüstungsindustrie, Arbeitsplätze bekamen, um die fehlenden Männer zu ersetzen.[14] In Bayern wurde gar ein „Kriegs-Ministerialreskript“ erlassen, „wonach die Arbeiter der Firmen, die solche Güter [gemeint sind kriegswichtige Materialien] herstellten, als unabkömmlich eingestuft wurden und nicht eingezogen werden konnten.“[15]
Um den Nahrungsmittelengpässen Herr zu werden, animierten die Regierungen die deutsche Bevölkerung zu Lebensmittelspenden für Hungerleidende, stellten die Spekulation mit Nahrungsmitteln unter Strafe (wie im Falle von Baden) oder kauften Getreide in großen Mengen. Durch die militärische Benutzung der Eisenbahnen war aber ein schneller Transport nicht möglich. Alles in allem waren die Staaten nicht in der Lage, die großen Probleme (Nahrungsmittelknappheit, hungernde Bevölkerung, Missernten, Seuchenausbrüche), die der Feldzug mit sich brachte, einzudämmen. Es konnten nur die schlimmsten Auswirkungen leicht abgemildert werden. Das Ziel, dass es zu keinen großflächigen Unruhen kam, wurde immerhin erfüllt.[16]
Eine weitere wirtschaftspolitische Maßnahme, die die Staaten ergriffen, war bis auf wenige Ausnahmen das Exportverbot von „kriegswichtigen Gütern“ wie Kohle, Eisen, Blei, Schwefel, Salpeter, Waffen und auch Pferde.[17] Weitestgehend versuchten die Regierungen, auf die Wirtschaft im Außenhandel zuzukommen. Seyferth beschreibt die eher liberale Einstellung folgendermaßen:
Solange wichtige militärische Argumente nicht dagegen standen, bemühten sich die deutschen Staaten, den großen Unternehmen die Ausführung ihrer Geschäfte möglichst leicht zu machen. Diese Politik wurde nicht zuletzt verfolgt, um die Vertreter der Wirtschaft gewogen zu stimmen und sich ihre Unterstützung für den Kriegskurs zu erhalten.[18]
Der Grund für das Exportverbot war tatsächlich nicht der Krieg gegen Frankreich, sondern die Sorge, dass polnische Separatisten die Waffen und das Kriegsmaterial für eine Erhebung nutzen könnten.[19]
Eine weitere Maßnahme, die die deutschen Staaten und insbesondere der Norddeutsche Bund ergriffen, um die Wirtschaft zu unterstützen, war die Einrichtung von Darlehenskassen und staatlichen Banken sowie die Gründung von Kassenvereinen. Dadurch sollten etwaige Finanzierungsprobleme überbrückt und eine mögliche Krise verhindert werden.[20] Im Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammern Württembergs heißt es zu der Funktion der Kassenvereine: „Diese hatten den Zweck, Wechsel zu discontieren und Werthpapiere zu belehnen und sollte so einem Ersatz für die mangelnde Notenbank dienen.“[21] Die Zusammenarbeit zwischen Staat und privaten Banken im Süden Deutschlands erwies sich als deutlich besser, um die Probleme auf dem Finanzmarkt zu lindern, als die Einrichtung der Darlehenskassen im Norden, die kaum genutzt wurden.[22]
Abschließend lässt sich sagen, dass der Krieg die Wirtschaft in den deutschen Ländern in Bedrängnis brachte. Die Staaten ergriffen zur Lösung der Probleme und zur Verhinderung einer Krise, die mögliche Unruhen auslösen könnte, eine Mischung aus wirtschaftsliberalen und autoritären Maßnahmen. Den Unternehmen wurde mithilfe von Darlehenskassen und Kassenvereinen finanzielle Unterstützung zugesichert, im Binnenhandel wurde nicht eingegriffen und auch der Export nicht kriegsrelevanter Waren war weiterhin erlaubt. Durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Integration von freien Arbeitskräften sollte die Arbeitslosigkeit auf einem tolerierbaren Level gehalten werden. Die notleidende Bevölkerung wurde mittels privater Initiativen unterstützt, da ein Wohlfahrtsystem vollkommen fehlte und auch nicht in das Konzept des Wirtschaftsliberalismus passte. Und wenn doch ein Streik oder Unruhen drohten, halfen Zensur und Polizei, diese zu unterdrücken.
Die Staaten kooperierten während des Krieges in erster Linie mit Großunternehmen, da nur diese wirklich in der Lage waren, die Nachfrage zu befriedigen. Grundsätzlich ging es aber nicht um das Befinden der Unternehmen, sondern es galt das Primat des Militärs. Fuhrwerke und Pferde wurden beschlagnahmt, Arbeiter (bis auf einige Ausnahmen) eingezogen. Eingekauft wurde bei Unternehmen, die das Militär schnell, in Massen und billig beliefern konnten. Die Großunternehmer unterstützten die deutschen Staaten zumindest anfangs willig, da sie sich von einem deutschen Sieg den Wegfall der inneren Grenzen und durch die Annexion von Elsass und Lothringen die Erschließung neuer Ressourcen erhofften.
Von einer „totalitären Kriegswirtschaft“ kann hier nicht die Rede sein. Die Unternehmen wurden, bis auf die Eisenbahnen, nicht unter staatliche Kontrolle gebracht. Es wurden nicht, wie es im Ersten Weltkrieg der Fall war, große Behörden ins Leben gerufen, um die Wirtschaft zu organisieren, es gab keine Einheitsgewerkschaften und Arbeitsfronten, keine Planwirtschaft (oder allgemein keine längerfristige Planung), kein Über-Ministerium, das alle Bereiche der Wirtschaft durchdrang, keinen Wohlfahrtsstaat und auch keinen, wie Seyferth feststellte, zentralen Koordinator wie Walther Rathenau.[23] Dazu hätte es auch einen geeinten Zentralstaat benötigt, der schlichtweg noch nicht existierte. Die deutschen Staaten arbeiteten mit der Wirtschaft eng zusammen, und diese war, wenn von militärischen Belangen abgesehen wird, weitgehend frei, zu handeln, wie es ihr beliebte.
[1] Vgl. Bremm, 70/71, S. 150f.
[2] Ebd.
[3] Vgl. ebd., S. 152f.
[4] Ebd., S. 153.
[5] Vgl. ebd., S. 151.
[6] Vgl. Seyferth, Heimatfront 1870/71, S. 209.
[7] Ebd.
[8] Vgl. ebd., S. 209ff., 213.
[9] Vgl. ebd., S. 498f.
[10] Ebd., S. 499.
[11] Vgl. ebd., S. 499ff.
[12] Vgl. ebd., S. 501-505.
[13] Ebd., S. 505.
[14] Vgl. ebd., S. 513-517.
[15] Ebd., S. 517.
[16] Vgl. ebd., S. 518f.
[17] Vgl. ebd., S. 523ff.
[18] Ebd., S. 525.
[19] Vgl. ebd., S. 524f.
[20] Vgl. ebd., S. 526f.
[21] Zit. nach ebd., S. 527.
[22] Vgl. ebd., S. 527f.
[23] Vgl. ebd., S. 569.
4. Schlussbetrachtungen
Die dargelegten Argumente zeigen, dass es sich beim Deutsch-Französischen Krieg nicht um einen „totalen Krieg“ handelt. Die Frage, ob sich dieser „on the road to total war“ befand, lässt sich schwer beantworten, das ist eher ein Feld für die kontrafaktische Geschichte. Angesichts des Standes der Technologie wage ich zu bezweifeln, dass aus dem Deutsch-Französischen Krieg auch mit mehrjähriger Dauer ein „totaler Krieg“ geworden wäre,
Die deutschen Soldaten waren nicht ideologisiert, sie sahen ihre französischen Gegner als gleichwertig an – es gab also keinen „Vernichtungskrieg gegen Untermenschen“. Nur eine Minderheit sah dem Krieg überhaupt mit freudiger Erwartung entgegen, die meisten dachten an ihre Familie, ihren Hof und ihre berufliche Laufbahn. Mit zunehmender Dauer des Krieges sank aber durchaus die Hemmschwelle zum Töten und die Gewalt begann, sich zu normalisieren. Jedes Mittel (Bombardieren, Aushungern und Niederbrennen von Städten) schien irgendwann recht zu sein, wenn es nur den Krieg endlich beendet. Das Mitleid mit der französischen Bevölkerung wurde von Hunger, Kälte, Müdigkeit und dem Wunsch, nach Hause zurückzukehren, überschrieben. Den „franc-tireurs“ gegenüber flammte der Hass auf, die französischen Partisanen (echte und vermeintliche) waren auch Opfer der grausamsten Vergeltungen.
Für den Aufbau und die Aufrechterhaltung der Heimatfront nutzten die deutschen Staaten eine Mischung aus liberalen und autoritären Maßnahmen. Die Presse wurde entweder zensiert, durch Gesetze am Erscheinen gehindert oder durch Beeinflussung auf den gewünschten Kurs gebracht. Viele dieser Gesetze und Maßnahmen, wie die Impressumspflicht oder die hohe Kaution, gab es bereits vor dem Krieg. Oppositionelle, wie Sozialdemokraten und Separatisten unter den nationalen Minderheiten, wurden polizeilich überwacht, ihre Presseorgane verboten und mitunter wurden sie auch verhaftet. Für diese Tätigkeiten fehlten aber Personal, um sie umfassend umzusetzen. Auch die Gründung von Bürgerwehren erzielte nicht die erwünschten Ergebnisse.
Die Versorgung von Soldatenfamilien wurde fast komplett vom privaten Sektor übernommen. Die Regierungen ermutigten die Menschen, besonders Frauen, dazu, Vereine zu gründen und an Bedürftige zu spenden, dabei appellierten sie an den Patriotismus und die christliche Nächstenliebe der deutschen Bevölkerung. Die privaten Initiativen waren eine wesentliche Unterstützung der Kriegsführung und der Einbindung des Volkes.
Im wirtschaftlichen Bereich tendierten die Staaten zu eher liberalen Maßnahmen, auch wenn der Primat des Militärs galt. Die Zusammenarbeit fand überwiegend mit Großunternehmern statt, während Kleinbetriebe unter der wirtschaftlichen Last, die der Krieg mit sich brachte, zu leiden hatten. Arbeitsbeschaffungsprogramme wurden zwar mitunter erlassen, erreichten aber nie das Ausmaß wie im Ersten oder gar Zweiten Weltkrieg. Von einer „totalen Kriegswirtschaft“ kann hier nicht die Rede sein. Sie war auch nicht notwendig, der Krieg dauerte „nur“ neun Monate. Die deutschen Staaten waren nicht gezwungen, all ihre Ressourcen und ihr Menschenmaterial zu mobilisieren.
Die Frage bleibt offen, ob der „totale Krieg“ als Begriff in der Geschichts- und Militärwissenschaft überhaupt einen Sinn hat. Die problematischen Hintergründe und die nicht eindeutigen Merkmale habe ich bereits im ersten Kapitel erläutert und wie festgestellt wurde, kann ein Krieg nie zu einem „totalen Krieg“ werden, er kann sich diesem höchstens annähern. Der heute nicht mehr auszuschließende Einsatz von Nuklearwaffen als weitere Annäherung bedeutet das Ende der Menschheit.
Alle bisherigen Kriege und Konflikte zeigen, dass sich Menschen nicht endlos politisch-militärisch mobilisieren lassen, irgendwann setzt Kriegsmüdigkeit ein, entwickelt sich Widerstand.
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