1. Einleitung
Das „Ministerium für Staatssicherheit“ bzw. die „Staatssicherheit“ (umgangssprachlich auch als „Stasi“ bezeichnet) ist neben der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschland“ (SED) die bekannteste Organisation der ehemaligen „Deutschen Demokratischen Republik“ (DDR) und synonym mit der Herrschaft des ostdeutschen, realsozialistischen Regimes. Noch heute gibt es viele Menschen, die über ihre Erfahrungen als Opfer der „Staatssicherheit“ sprechen oder über ihre Tätigkeiten als „Inoffizielle Mitarbeiter“ berichten.
In der vorliegenden Arbeit betrachte ich die Entwicklung der Vorgehensweise der „Staatssicherheit“ von der Ära Ulbricht bis zur Ära Honecker. Dabei prüfe ich, ob es einen qualitativen und quantitativen Unterschied zwischen den beiden Zeitabschnitten gibt.
Beginnen möchte ich mit einem kurzen Überblick über die politische Verfolgung in der „Sowjetischen Besatzungszone“ (SBZ) und die Anfänge bzw. Vorläufer des „Ministeriums für Staatssicherheit“.
Im zweiten Kapitel behandle ich die Vorgehensweise der „Staatssicherheit“ in der Ära von Walter Ulbricht. Der Schwerpunkt wird dabei besonders auf die 1950er Jahre gelegt.
Im dritten Abschnitt wende ich mich dem „Ministerium für Staatssicherheit“ unter Erich Honecker zu. Der Fokus liegt auf den in den 1970ern und 1980ern ausgearbeiteten Methoden der „Staatssicherheit“ und ihrem Vorgehen gegen den „politischen Untergrund“.
Abschließend wird aus den Argumenten und Erkenntnissen ein Fazit gezogen. In meiner Arbeit beziehe ich mich unter anderem auf die Werke von Jens Gieseke, Ulrich Herbert, Heribert Schwan, Klaus Schroeder, David Gill und Ulrich Schröter.
2. Vorgeschichte und Anfänge des Ministeriums für Staatssicherheit
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs oblag in den östlichen Gebieten Deutschlands die Verantwortung für polizeiliche und geheimdienstliche Aufgaben der sowjetischen Besatzungsmacht. Bereits beim Vormarsch der Roten begannen Sicherheitsorgane vehement, gegen echte und vermeintliche Kriegsverbrecher vorzugehen, die eroberten Gebiete von nationalsozialistischen Strukturen zu säubern und Gefangene in die Sowjetunion zu bringen. SS- und SA-Mitglieder, Wehrmachtssoldaten, Gefängnis- und KZ-Wachen wurden in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern inhaftiert, wo sie als „Wiedergutmachung“ für den rassischen Vernichtungskrieg des Dritten Reichs Zwangsarbeit leisten mussten. Schätzungsweise 15.000 bis 20.000 Gefangene wurden von Sowjetischen Militärtribunalen (SMT) zu langjährigen Lagerstrafen verurteilt.[1] Jens Gieseke sieht in diesen Kriegsgefangenenlagern eine Ähnlichkeit zu den Zwangsarbeitslagern der UdSSR[2], dem sogenannten GULag[3].
Die Behörden der SBZ brachten in die „Speziallager“ nicht nur „belastete Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher“[4], sondern auch „zunehmend, politische Gegner“[5]. Darunter fielen zu Anfang angebliche „Werwölfe“[6], NSDAP-Mitglieder der unteren Ebenen und allgemein Opfer von willkürlichen Festnahmen. Bis 1950 verhafteten und internierten die Sowjetbehörden ca. 154.000 Deutsche und 35.000 Ausländer in „Speziallagern“, wobei jeder Dritte während der Haft in der Regel aufgrund von Unterernährung oder Krankheit starb. Offiziere der „Sowjetischen Militäradministration in Deutschland“ (SMAD) plädierten für eine bessere Behandlung der Internierten, da Berichte über die Lager sich negativ auf das Ansehen der SMAD in der Bevölkerung auswirkten, und forderten die Freilassung von ungefähr 35.000 Gefangenen, doch Joseph Stalin lehnte den Vorschlag ab. Stattdessen sollten 27.500 Inhaftierte in die Sowjetunion geschickt werden, um Zwangsarbeit zu leisten. Lagerärzte fanden nicht einmal 5.000 arbeitsfähige Menschen.[7] Gieseke schreibt, „[f]aktisch war die Internierungshaft eine unbefristete Strafe ohne Urteil, während der viele an Hunger und Seuchen zugrunde gingen.“[8] Erst 1948 prüfte eine Kommission die einzelnen Fälle der Gefangenen und zwei Jahre später lösten die Sowjets die Lager auf.[9]
Der sowjetischen Besatzungsmacht ging es nicht nur um Verfolgung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, sondern auch um die Errichtung und Sicherung der kommunistischen Macht, weshalb sich die politische Verfolgung und Repression durch Sicherheitsorgane zunehmend auch gegen Sozialdemokraten, „Titoisten“[10], „Edelweiß“-Jugendgruppen[11], „konterrevolutionäre“ Christ[12]– und Liberaldemokraten (verweigerten sich der Vereinnahmung durch die SED) und einfache Denunziationsopfer richtete. Entweder wurden sie zu 10 bis 25 Jahren Zwangsarbeitslager verurteilt oder in die unwirtlichen Gegenden der UdSSR wie Sibirien deportiert.[13]
Häufig „verschwanden“ die Gefangenen einfach vom Erdboden. Angehörigen war es in der Regel nicht möglich, etwas über das Schicksal der Opfer zu erfahren.[14] Dieses Vorgehen sorgte selbst in der SMAD für Kritik. Iwan S. Kolesnitschenko, der Chef der Thüringer SMAD, forderte, dass Angehörige über Verhaftungen informiert werden und alle Verfahren rechtsstaatlich ablaufen sollten. Die jetzige Vorgehensweise liefere nur „allen feindlichen Elementen Munition für antisowjetische Propaganda.“[15]
Die Verhaftung und das „Verschwindenlassen“ von „politischen Gegnern“ sollen anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. Aloys Schaefer (1911-1999) war Mitbegründer der „Christlich-Demokratischen Union“ in Thüringen und im Eichsfeld. Er war ab dem 7. Mai 1945 Bürgermeister von Dingelstädt und ab dem 29. Juni Landrat des Kreises Heiligenstadt. Am 6. September 1946 besuchte ihn ein sowjetischer Offizier in seinem Dienstzimmer. Er erklärte ihm, Schaefer müsse nach Weimar kommen, denn es seien noch Fragen bezüglich der Ablieferungsverpflichtungen und Anbaupläne offen. Gemeinsam gingen sie zu der Wohnung von Schaefer, die von dem Offizier durchsucht wurde (angeblich seien Waffen versteckt). Danach brachte er Schaefer in die Kreiskommandantur der ehemaligen Lorenz-Kellner-Schule, wo das CDU-Mitglied in einen Keller gesperrt wurde. Kontakte zur Außenwelt waren untersagt. Am nächsten Tag brachte der Offizier Schaefer nach Weimar, wo er in das Marstall-Gefängnis eingeliefert wurde.[16]
Weder wurde ihm ein „schriftliche[r] Haftbefehl noch eine Anklageschrift“[17] vorgelegt, es gab nur einen Befehl der SMA Thüringen: „Betrifft: Die Entfernung aus dem Amt des Landrats des Kreises Heiligenstadt Dr. Schaefer und seine Übergabe an das Kriegstribunal wegen Nichtausführung der Befehle der Verwaltung der SMA.“[18] Ende September brachte ihn ein Offizier mit dem Auto in das Hauptquartier des NKWD[19]. Dort wurde ein Verhör mit ihm unter erniedrigenden Bedingungen durchgeführt. Die Verhandlungsoffiziere warfen ihm vor, ehemaliges Mitglied der NSDAP zu sein, was Schaefer verneinte. Nach mehreren Verhören sollte er ein in Russisch verfasstes Protokoll unterschreiben. Bei Weigerung wurde mit schweren Maßnahmen gedroht. Im Januar 1947 verlegten ihn die Behörden in ein sowjetisch kontrolliertes Gefängnis. Dort wurde er im Schnellverfahren[20] wegen „konterrevolutionärer Sabotage“[21] zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt, die er im ehemaligen KZ Sachsenhausen verbringen musste. Kontakte zu Freunden oder Familie hatte er in dieser Zeit nicht.[22]
Die Vorgehensweise in der SBZ entsprach der Tradition der leninistischen bzw. stalinistischen systematischen Säuberungsaktionen in der UdSSR während des Russischen Bürgerkriegs (1917-1922) und der 1930er Jahre, also der Verfolgung, Unterdrückung, Inhaftierung und mitunter auch Vernichtung von Gegnern. Die „Säuberungen“ richteten sich gegen eine Vielzahl von echten und imaginierten Feinden der kommunistischen Partei – sprich, „Kulaken“, ethnische Minderheiten, „Kapitalisten“, „Konterrevolutionäre“, Sozialdemokraten, „weiße“ Russen, Homosexuelle, abweichende Kommunisten, Regimekritiker und häufig auch die Familien der Opfer. Was die „Stalinisten“ in der UdSSR begannen, setzten sie in den besetzten Gebieten fort, auch wenn das blutige Ausmaß geringer war als in der sowjetischen Heimat.[23]
Die deutschen Kommunisten waren anfangs vom Zugang der Repressionsapparate ausgeschlossen, zu tief saß das Misstrauen der Sowjets gegenüber den Deutschen, als dass sie ihnen Waffen anvertrauen würden. Gefängnisse und „Speziallager“ unterlagen dem sowjetischen Innenministerium, um geheimdienstliche Aufgaben kümmerte sich die „Staatssicherheit“ der UdSSR[24], beide hatten jeweils 2.200 bzw. 400 Mitarbeiter in der SBZ zur Verfügung. In diesem komplexen Netzwerk aus SMAD, SMT, Innenministerium und MGB dienten Deutsche zu Beginn nur als „verdeckte Zuträger“. Die Anzahl betrug zwischen 2.300 (1946) und 3.000 (1949) Informanten. Dieses Netz blieb selbst lange nach der Gründung der DDR bestehen.[25]
Erst ab 1945/46 gab es wieder formelle Landespolizeien. Aufgebaut wurden sie unter Aufsicht und Mitwirkung der Roten Armee und NKWD-Truppen von deutschen Partisanen. Ab 1946 gab es dann auch eine Zentrale für SBZ-weite Polizeipolitik, die „Deutsche Verwaltung des Innern“ (DVdI). Innerhalb dieses Systems wurden eigene Zweige zur Bekämpfung von „politischer Kriminalität“ etabliert, die sogenannte „K 5“[26]. Gieseke argumentiert, dass es sich bei dieser Abteilung der Kriminalpolizei um ein reines „‘Hilfsorgan‘ der sowjetischen Geheimpolizei“[27] handelt, da die Bekämpfung von „politischen Kriminellen“ unter sowjetischer Vorherrschaft geschah. Auch hatte die „K 5“ niemals die personelle Stärke, um es ohne die sowjetische Hilfe zu schaffen.[28]
Die Führungspositionen der Polizei besetzten die Sowjetbehörden mit loyalen Kommunisten, in der Regel Partisanen, ehemaligen kommunistischen Häftlingen aus nationalsozialistischen Gefängnissen und KZ sowie zurückgekehrten UdSSR-Emigranten. Bürgerliche und Sozialdemokraten wurden aus den Reihen der Polizei und der „K 5“ vertrieben.[29] Schnell erarbeitete sich besonders die „K 5“ einen Ruf als „ruchloser Vollstrecker“, auch da sie „besondere Befugnisse“ von der Besatzungsmacht erhielt: „Sie durfte anstelle der Staatsanwaltschaften die Verfahren bis zur Formulierung von Anklageschriften selbst führen, sie konnte Belastete ohne Haftbefehl eines Richters selbst in Polizeihaft nehmen und erhielt auch die Kontrolle über den Strafvollzug verurteilter NS-Täter.“[30] Somit war sie ein fähiges Werkzeug zur schnellen Sowjetisierung der Zone.[31]
1948 schlugen die SED-Spitze und Walter Ulbricht die Bildung einer eigenen Geheimpolizei vor, um effektiver gegen „Saboteure“ und „Edelweiß“-Jugendgruppen vorzugehen. Ulbricht unterbreitete den sowjetischen Ministern den Vorschlag zur Umwandlung der „K 5“ zu einer „Hauptverwaltung zum Schutze der Wirtschaft und der demokratischen Ordnung“, die selbstverständlich dem MGB und dem DVdI-Präsidenten unterstellt wäre. Die Minister äußerten Bedenken, doch Stalin erlaubte es. Somit wurde am 6. Mai 1949 die „K 5“ aus der Kriminalpolizei ausgekoppelt und es begann der Aufbau der neuen „Hauptverwaltung“ unter der Aufsicht von Erich Mielke. 1950 entstand dann aus der „Hauptverwaltung“ das „Ministerium für Staatssicherheit“. Als Minister wurde Wilhelm Zaisser nominiert, der als besonders loyaler Kader galt, während die Sowjetbehörden Mielke aufgrund einiger ungeklärter Fragen in seiner Biografie und seines Status als „Westemigrant“ kritisch sahen.[32]
[1] Vgl. Jens Gieseke, Die Stasi. 1945-1990, München 2011, S. 28ff.
[2] Vgl. ebd., S. 29f.
[3] Glawnoje uprawlenije isprawitelno-trudowych lagerej i kolonij, übersetzt: „Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien“. Zur Geschichte und Dokumentation des GULag-Systems in der Sowjetunion, siehe: Aleksandr Solzhenitsyn, The Gulag Archipelago. An Experiment in Literary Investigation, London 2018.
[4] Gieseke, Die Stasi, S. 30.
[5] Ebd.
[6] Quasi nationalsozialistische Terror- und Widerstandsgruppen, die gegen die Rote Armee einen asymmetrischen Krieg führten, aber in der Regel sich nur um Jugendliche handelten, die die Sicherheitsorgane wegen illegalen Waffenbesitz verhafteten. Vgl. Gieseke, Die Stasi, S. 30f.
[7] Vgl. Gieseke, Die Stasi, S. 30ff.
[8] Ebd., S. 32.
[9] Vgl. ebd., S. 33.
[10] Über den Bruch zwischen Jugoslawien und der UdSSR bzw. zwischen „Titoismus“ und „Stalinismus“, siehe Helga Schultz, Der jugoslawische Weg, in: Reformen und Reformer im Kommunismus. Hrsg. von Wladislaw Hedeler / Mario Keßler, Hamburg 2015, S. 275-290.
[11] Oppositionelle, eher „unpolitische“ Jugendgruppen des Dritten Reichs, die gegen Zwang und Militarisierung rebellierten und daher oft in Konflikt mit der „Hitlerjugend“ kamen. Auch bekannt als „Edelweißpiraten“. Vgl. Bernhard Struck, Edelweißpiraten. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/widerstand-im-zweiten-weltkrieg/edelweisspiraten (letzter Zugriff am 03.03.2025).
[12] Über die Verhaftungswelle, die sich insbesondere gegen junge Christdemokraten richtete, berichtet Ewald Ernst. (Vgl. Ewald Ernst, Verhaftungswelle christlicher Demokraten der jungen Generation im Frühjahr 1947, in: „Gefährliche politische Gegner“. Widerstand und Verfolgung in der sowjetischen Zone/DDR. Hrsg. von Brigitte Kaff, Düsseldorf 1955, S. 205-209.
[13] Vgl. Gieseke, Die Stasi, S. 34f.
[14] Vgl. ebd., S. 36f.
[15] Zit. nach ebd., S. 37.
[16] Vgl. Aloys Schaefer, Im Widerstand gegen den Stalinismus, in: „Gefährliche politische Gegner“. Widerstand und Verfolgung in der sowjetischen Zone/DDR. Hrsg. von Brigitte Kaff, Düsseldorf 1955, S. 196-199.
[17] Ebd., S. 199.
[18] Ebd., S. 197.
[19] Narodny Kommissariat Wnutrennich Del, übersetzt „Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten“
[20] Vgl. Schaefer, Im Widerstand gegen den Stalinismus, S. 199-203.
[21] Zit. nach ebd., S. 203
[22] Vgl. ebd., S. 203f.
[23] Für eine tiefergehende Beschäftigung mit dieser Thematik, siehe Gerd Koenen, Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, München 2017, S. 714-851; S. 909-40 und Borys Lewytzkyj, Die rote Inquisition. Die Geschichte der sowjetischen Sicherheitsdienste, Frankfurt am Main 1967, S. 11-214.
[24] Ministerstwo gossudarstwennoi besopasnosti, übersetzt „Ministerium für Staatssicherheit“, MGB
[25] Vgl. Gieseke, Die Stasi, 39f.
[26] Vgl. ebd., S. 40f.
[27] Ebd., S. 41.
[28] Vgl. ebd.
[29] Vgl. ebd., S. 42f.
[30] Ebd., S. 44.
[31] Vgl. ebd.
[32] Vgl. ebd., S. 44-47.
3. Das Ministerium für Staatssicherheit unter Walter Ulbricht: Instrument des „kalten Bürgerkriegs“
Die Gründung des „Ministeriums für Staatssicherheit“ (MfS) wird auf den 08. Februar 1950 datiert. Das Gesetz zur Bildung des Ministeriums wurde zehn Tage später im „Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik“ (Nr. 15) verkündet und besteht aus zwei Paragrafen.[1] In dem ersten heißt es knapp: „Die bisher dem Ministerium des Innern unterstellte Hauptverwaltung zum Schutze der Volkswirtschaft wird zu einem selbstständigen Ministerium für Staatssicherheit umgebildet.“[2] In einigen Quellen des MfS wird auch 1949 als Gründungsjahr des Ministeriums bzw. als „erstes Jahr“ des Ministeriums genannt. Klaus Schroeder vermutet, dass sich „dies auf die Mitarbeiter der ‚Verwaltungen zum Schutz der Volkswirtschaft‘ auf DDR- bzw. Länderebene [bezieht].“[3]
Propagandistisch bereiteten die SED und insbesondere Mielke die ostdeutsche Bevölkerung auf die Gründung vor, indem sie darauf hinwiesen, dass es absolut erforderlich sei, den (äußeren) „Klassenfeind“ mit entschiedener Härte zu bekämpfen.[4] Angesichts sich häufender (angeblicher) Sabotage- und Spionagevorfälle sei, so Mielke in einem Artikel im „Neuen Deutschland“ vom 28. Januar 1950, die „Schaffung geeigneter Organe, die den Kampf gegen Agenten, Saboteure und Diversanten führen“[5], notwendig.
Wenige Tage später folgte die offizielle Gründung des „Ministeriums für Staatssicherheit“. Die genauen Strukturen, Kompetenzen, Aufgaben und Regeln waren zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht klar formuliert. Feststand aber (und das auch ohne schriftliche Dokumente), dass das MfS einzig und allein unter der Kontrolle der SED war. Loyalität und Rechenschaftspflicht galten der herrschenden Partei. Das Ministerium sollte, so wie die „Bruderorgane“ in den anderen sozialistischen Staaten, als „Schwert und Schild“ dienen.[6] Clemens Vollnhals sieht darin „keine propagandistische Leerformel“[7], sondern es „entsprach dem Elitebewußtsein eines ideologisch geprägten Ordens.“[8]
Der erste Minister der „Staatssicherheit“ wurde Wilhelm Zaisser, der anfangs über ein „überschaubares“ Heer von ungefähr 1.000 hauptamtlichen Mitarbeitern verfügte, in den nächsten fünf Jahren wuchs das Personal jedoch auf 15.000 Personen an. Bereits zu Beginn setzte das Ministerium gezielt auf sogenannte „Inoffizielle Mitarbeiter“ (IM). Bis 1952 gab es schätzungsweise 30.000 IM-Rekrutierungen.[9] Das Bundesarchiv definiert den IM wie folgt: „Inoffizielle Mitarbeiter waren das wichtigste Instrument des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), um primär Informationen über Bürger, die Gesellschaft, ihre Institutionen und Organisationen der DDR oder im Ausland zu gewinnen.“[10] Die Funktion des IM war somit, umgangssprachlich ausgedrückt, die eines „Spitzels“. Sie waren keine professionell ausgebildeten Agenten bzw. Spione, übernahmen aber ähnliche Tätigkeiten wie Überwachung, Beschaffung von Informationen und Zusammentragen von „belastenden Materialien“.
Gieseke sieht die „Staatssicherheit“ in den ersten Jahren der DDR, also der Zeit des „Hochstalinismus“, als „Instrument des ‚bürokratischen Terrors‘ in der SED-Gesellschaftspolitik und in der deutsch-deutschen Systemauseinandersetzung.“[11] Die Leiter des MfS, darunter besonders Mielke, setzten alles daran, den Stalinismus samt seiner ausufernden Repressalien auch auf ostdeutschem Gebiet umzusetzen.[12]
Damit entfesselten sie „eine Atmosphäre des kalten Bürgerkriegs, die sich zugleich aus der Systemauseinandersetzung über die innerdeutsche Demarkationslinie speiste und Apparat und Geist der Staatssicherheit nachhaltig prägte.“[13] Was bedeutet in diesem Zusammenhang „kalter Bürgerkrieg“? Ernst Nolte definiert den „aktiven“ bzw. „heißen Bürgerkrieg“ in dem Sinne, „daß sich innerhalb eines Staates zwei Gruppen von Bürgern bewaffnet gegenüberstehen, sei es, daß Aufständische die Regierung bekämpfen, sei es, daß beide Parteien über ein eigenes Territorium verfügen und eine klare Analogie zum Staatenkrieg vorhanden ist.“[14]
Für die DDR trifft beides faktisch nicht zu – weder standen sich zwei bewaffnete Gruppierungen gegenüber, die sich auf offener Straße bekämpften, vergleichbar mit den Jahren 1918 bis 1923 in der Weimarer Republik, noch gab es sezessionistische Bewegungen, die sich mit Gewalt vom Staatsgebiet lösen wollten. Zwar gab es in der DDR durchaus Gruppierungen wie die „Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit“ (KgU), die sich der Staatsmacht entgegenstellten und diese auch herausforderten, aber eine wirkliche gewalttätige Konfrontation beider Seiten fand, mit Ausnahme des Aufstands vom 17. Juni 1953, nicht statt. Ein „kalter Bürgerkrieg“ bedeutet in diesem Kontext ein eher einseitiger Konflikt gegen echte und imaginierte Feinde, der durch verschiedene Maßnahmen (z. B. Verhaftungswellen, Zerschlagung von oppositionellen Organisationen, flächendeckende Überwachung, Entführungen, Ermordungen) eine bürgerkriegsähnliche Situation heraufbeschwört, aber nicht zu einer offenen Auseinandersetzung eskaliert. In diesem Fall führte der SED-Staat einen „Bürgerkrieg“ gegen verschiedene innere wie auch äußere „Feinde“.
Und an „Feinden“ mangelte es der DDR zu keinem Zeitpunkt. Zu den Feindbildern gehörten der „Deutsche Gewerkschaftsbund“ (DGB), die Ostbüros der CDU, FDP und SPD, die bereits genannte KgU, westdeutsche Unternehmen, der „Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen“, der Berliner Rundfunksender RIAS[15], die westlichen Geheimdienste (CIA[16], SDECE[17], SIS[18] usw.) und die westdeutsche „Organisation Gehlen“ (Vorläufer des „Bundesnachrichtendienstes“).[19] Die SED-Führung sah in jedem Menschen, der von der ideologischen Staatslinie abwich, einen Saboteur, Geheimagenten und Antikommunisten im Dienste „des Feindes“. Die Anklage stand fest, sie musste nur noch „bewiesen“ werden. Diesbezügliche Geständnisse wurden in der Regel durch lange Verhöre, Isolation, direkte Gewalt und Schlafentzug erpresst.[20]
Diese Vorgehensweise hatte den Zweck, diejenigen Kräfte auszuschalten, die dem Aufbau des Sozialismus und der Herrschaft der SED gefährlich werden könnten. Blockpolitiker, Sozialdemokraten, Jugendliche, die gegen die Politik der SED mit Flugblattaktionen demonstrierten – sie alle gerieten in die Fänge des Staatsapparats und wurden mit langen Jahren in Zuchthäusern bestraft. Die Jugendlichen bekamen unter anderem Strafen von zwei bis fünfzehn Jahren Zuchthausaufenthalt.[21]
Besonderes Augenmerk soll auf den „Erfurter Schauprozess“ 1952 gelegt werden. Im Juli und August 1952 verhaftete das MfS ungefähr dreißig CDU-Mitglieder, ohne konkrete Gründe zu nennen. Franz-Josef Kos vermutet, dass sie aufgrund etwaiger Kontakte zum Ostbüro der CDU inhaftiert wurden. Auch sahen sie Jakob Kaiser, den von den Sowjetbehörden abgesetzten früheren Vorsitzenden der Ost-CDU, weiterhin als ihren Parteivorsitzenden und widersetzten sich so dem SED-treuen Kurs des amtierenden CDU-Parteivorsitzenden Otto Nuschke und des Generalsekretärs Gerald Götting. [22] Die beiden waren der Ansicht, dass „die Verhafteten ein klarer Beweis für die Zersetzungsarbeit Kaisers [waren].“[23] In ihren Augen waren die CDU-Mitglieder „käufliche Agenten, die sich für einen ‚Judaslohn‘ zu Verbrechen am Volk der DDR hergegeben hätten.“[24] Das „Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen“, das Kaiser leitete, sei ein „Spionagezentrum […], das im Auftrag der anglo-amerikanischen Imperialisten Agenten in die DDR entsandte.“[25]
Am 19. Dezember 1952 fand der 1. Erfurter Prozess statt, sieben der dreißig Verhafteten[26] wurden „beschuldigt, Verbrechen nach Art. 6 Abs. 2 der Verfassung der DDR in Verbindung mit der Kontrollratsdirektive (KD) 38 Abschnitt II, Art. III A III begangen zu haben.“[27] Artikel 6 definiert „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker sowie militärische Propaganda und Kriegshetze“[28] als Verbrechen des Strafgesetzbuches.
KD 38 diente eigentlich zur Verurteilung und Bestrafung von Nationalsozialisten, wurde aber zunehmend dafür benutzt, um gegen die Opposition vorzugehen. Die SED-Führung argumentierte, dass Antikommunismus (bzw. Antimarxismus) eine der wichtigsten Säulen des nationalsozialistischen Regimes war. Demzufolge sei Antikommunismus gleichzusetzen mit einer pro-nationalsozialistischen Einstellung.[29]
Der DDR-Justiz (und damit auch der „Staatssicherheit“) ging es bei dem Prozess weniger um die eigentlichen Angeklagten, sondern um Kaiser und das CDU-Ostbüro. Für die Justiz war Kaiser ein „imperialistischer Spion“, das bedeutete, dass alle anderen, die mit ihm zu tun hatten oder in Verbindung mit ihm standen, ebenfalls „Spione im Dienste des Feindes“ waren. Kaiser und das CDU-Ostbüro waren aber nicht erreichbar, weshalb nun die verhafteten CDU-Mitglieder als Sündenböcke „herhalten mussten“. Geständnisse wurden durch Einzelhaft und ständige Dauerverhöre (bei denen auch sowjetische Beamten mitanwesend waren) erzwungen, diese wurden dann beim Prozess wie bei einem Theaterstück aufgesagt.[30] Ähnlich wie bei anderen kommunistischen Schauprozessen „gestanden [die Angeklagten] die ihnen von der Anklage vorgeworfenen Verbrechen ein, sie unterwarfen sich der von der Justiz vorgegebenen Prozeßregie.“[31] Des Weiteren „bedauerten [sie] ihre Taten, gaben zu, eine gerechte Strafe verdient zu haben und nannten die Organisationen im Westen, für die sie gearbeitet hatten, verbrecherisch.“[32] Die Angeklagten bekamen Zuchthausstrafen zwischen acht und fünfzehn Jahren.[33]
Doch nicht nur politische Organisationen gerieten ins Visier von MfS und SED, sondern auch religiöse Gruppierungen wie die „Zeugen Jehovas“ und die „Jungen Gemeinden“. Den „Zeugen Jehovas“ wurde vorgeworfen, dass sie „Boykotthetze“ betreiben, im Dienste „feindlicher Mächte“ stehen, sich der „demokratischen Teilhabe“ verweigern und illegale Werke verbreiten. Die „Wachtturm-Gesellschaft“, also die Gesamtheit der Rechtskörperschaften der „Zeugen Jehovas“, wurde 1950 in der DDR verboten. Eine Mitgliedschaft bei den „Zeugen“ führte zur Entfernung aus dem öffentlichen Dienst, ungefähr 500 Mitglieder der Religionsgemeinschaft wurden verhaftet, sieben von ihnen in einem Schauprozess zu langen Zuchthausstrafen verurteilt – die Anklage lautete „Spionage“. Bis 1955 verhaftete die „Staatssicherheit“ ca. 2.800 „Zeugen Jehovas“.[34]
Die anderen religiösen Gruppierungen wie die „Jungen Gemeinden“ wurden von den Behörden verfolgt, da sie gegen die „Remilitarisierung“ der DDR und den Dienst an der Waffe protestierten.[35]
Der staatliche Terror erreichte seinen Höhepunkt im Juli 1952 mit der zweiten SED-Parteikonferenz. Auf dieser verkündete Walter Ulbricht den „Aufbau des Sozialismus“, was eine „Verschärfung des Klassenkampfes“ signalisiere.[36] Die Arbeiter bzw. die Proletarier müssen „den Widerstand der feindlichen Kräfte brechen“[37]. Konkret bedeutete dies einen großflächigen Angriff auf die private Wirtschaft durch ein schärferes Wirtschaftsstrafrecht. Nun begann die Kollektivierung der Handwerksbetriebe und der Landwirtschaft[38], die „verbliebenen Privatunternehmer wurden unter stärkeren Druck gesetzt“[39]. Die Grundlage dafür bot das „Gesetz zum Schutz des Volkseigentums“, wodurch selbst leichte Vergehen wie das Stehlen einzelner Güter mit Zuchthaus bestraft werden konnten – bis zu 25 Jahre. Bis März 1953 gab es Verfahren gegen nahezu 10.000 Menschen.[40]
Am Ende der „hochstalinistischen Phase“ wurden sogar Schauprozesse nach sozialistischen Vorbild (Schauprozesse in der Sowjetunion in den 1930ern, Prozesse in Ungarn, Bulgarien und in der Tschechoslowakei) gegen Kommunisten und andere SED-Mitglieder vorbereitet. Zu den durch das MfS Verhafteten gehörten Leo Bauer (Chefredakteur des „Deutschlandsenders“), Wilhelm Kreikemeyer (Direktor der „Deutschen Reichsbahn“), Kurt Müller (Vorsitzender der westdeutschen KPD), Fritz Sperling (Nachfolger von Müller), Paul Merker (ehemaliges Politbüro-Mitglied), Paul Bertz (kommunistischer Funktionär) und Lex Ende (Chefredakteur des „Neuen Deutschland“). Ihnen wurde „Spionage“ vorgeworfen, da sie Kontakte zum ehemaligen Generalsekretär der tschechischen kommunistischen Partei, Rudolf Slansky hatten, der angeblich ein US-Agent gewesen war. In der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (CSSR) wurde er deshalb zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Schauprozesse kamen in der DDR jedoch nicht zustande. Gieseke vermutet, dass die Beschuldigten nicht ihre Rolle als „reuige Sünder“ erfüllen wollten und dass die sowjetische Deutschlandpolitik die Lage verkomplizierte. Auch der Tod Stalins im Jahre 1953 könnte eine Rolle gespielt haben. Die Absage der Schauprozesse bedeutet aber nicht, dass es keine Opfer gab. Merker wurde zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, Kreikemeyer und Bertz nahmen sich in der Haft das Leben, Bauer und Müller verurteilte ein sowjetisches Gericht zu 25 Jahren Zwangsarbeit. Ende starb an Herzversagen, während er sich in „Verbannung“ in einem sächsischen Hüttenwerk befand.[41]
Einen tiefen Einschnitt erlebte das MfS durch den Aufstand am 17. Juni 1953, der das Ministerium völlig unvorbereitet traf.[42] Das Ereignis wurde unter anderem durch die Erhöhung der Arbeitsnormen ausgelöst. Die SED-Führung wollte nach dem Tod Stalins einen „Neuen Kurs“ einschlagen. Die Erhöhung in Kombination mit der seit langem andauernden Unzufriedenheit der Arbeiterschaft kulminierte in einem Aufstand, der in 242 Städten und Gemeinden zu Protesten führte. Gefordert wurde dabei nicht nur die Rücknahme der Arbeitsnormenerhöhung (das geschah gleich am ersten Tag), sondern auch der Rücktritt der Regierung, freie, demokratische Wahlen, die Wiedervereinigung von West- und Ostdeutschland und die Freilassung aller politischen Gefangenen. Allein in Halle versammelten sich 60.000 Menschen. Das Auftauchen sowjetischer Truppen samt Panzer und Geheimpolizei in Zusammenarbeit mit der „Staatssicherheit“ beendete den Aufstand rasch. Die Bilanz ist blutig: ca. fünfzig getötete Demonstranten, zwanzig tote Sowjetsoldaten, 3.000 durch sowjetische Geheimdienste festgenommene Protestler, 10.000 weitere Aufständische, die durch die DDR-Behörden verfolgt wurden.[43] Allein bis zum 07. Juli 1953 gab es 4.816 Festnahmen durch die „Staatssicherheit“.[44]
Werner Herbig, ein ehemaliger Angestellter beim Pflanzenschutzamt, der beim Aufstand mitwirkte, erzählt, wie er nach der Niederschlagung von den Sowjets festgenommen wurde, die ihm relativ freundlich behandelt haben. Das änderte sich, als die „Stasi-Büttel“ (Herbig) übernahm[45], da „ging der rauhe [sic!] Ton los, Vernehmungen nur noch nachts unter der Quarzlampe, bis die Geständnisse eben erpreßt wurden.“[46] In Dresden wurde er in einem Schauprozess wegen „Landfriedensbruch“ zusammen mit anderen, die er nicht kannte, als „Rädelsführer“ zu fünf Jahren Haft verurteilt.[47]
Die SED-Führung fand auch sehr schnell die Schuldigen für den Aufstand. In einem „Aufruf der SED an die Bevölkerung Ost-Berlins und der DDR“ vom 18. Juni 1953 heißt es, dass „faschistische Provokateure“ hinter den Unruhen stecken[48], „[a]us Westberlin entsandte Agenten und nazistische Elemente haben Kulturhäuser demoliert, Maschinen zerschlagen und Läden geplündert.“[49] Organisatoren der „Faschisten“ seien US-amerikanische und westdeutsche „Imperialisten“.[50]
Das „Versagen“ der „Staatssicherheit“ beim 17. Juni zog einige Konsequenzen nach sich. Zaisser wurde seines Amtes als Minister enthoben und aus dem Zentralkomitee der SED entfernt. Das MfS selbst wurde als Staatssekretariat in das Ministerium für Inneres eingegliedert[51], was aber keine wirklichen strukturellen Änderungen bedeutete[52] und auch nicht die Aktivitäten der „Staatssicherheit“ behinderte. Im Gegenteil, es kam zu weiteren großen Verhaftungswellen. Hermann Matern, der Vorsitzende der Parteikontrollkommission, sagte zu „Staatssicherheitskadern“: „Wir müssen hart und rücksichtslos zuschlagen. Für knieweiche Pazifisten und Mondgucker ist in unseren Reihen kein Platz. Genosse Ulbricht hat einmal auf einer ZK-Sitzung erklärt: ‚Wir müssen die Deutsche Demokratische Republik zu einer Hölle für die feindlichen Agenten machen.‘ Genossen, das ist im wesentlichen Eure Aufgabe.“[53]
Es folgten die „Aktion Feuerwerk“ gegen die Organisation Gehlen und andere „imperialistische“ Geheimdienste im Oktober/November 1953 (über hundert Festnahmen), „Aktion Pfeil“ im August 1954 (550 Festnahmen) und die „Aktion Blitz“ gegen die Ostbüros und DDR-kritische Journalisten, die sich in West-Berlin aufhielten (über 500 Festnahmen). Es wurden auch Entführungen geplant und durchgeführt, wie z. B. gegen den Journalisten Karl Wilhelm Fricke, der in der DDR zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.[54]
Ziel dieser Aktionen war nicht nur zu beweisen, dass „faschistische Provokateure“ hinter dem „Putschversuch vom 17. Juni“ steckten, sondern auch die vermeintlichen Hintermänner (die „imperialistischen Mächte“ und ihre Geheimdienste“) ausfindig zu machen und auszuschalten. Des Weiteren wollte die „Staatssicherheit“ den Beweis liefern, dass sie in der Lage war, die Staatsmacht weiterhin „effektiv“ zu schützen.[55]
Nach der Geheimrede Nikita Chruschtschows am 20. Februar 1956 setzte eine kurze Phase einer „Tauwetterperiode“ („Entstalinisierung“) ein, die Verunsicherungen innerhalb der „Staatssicherheit“ auslöste. 25.000 Häftlinge kamen 1956 frei, darunter hunderte von Blockparteien-Mitgliedern, Sozialdemokraten und SMT-Verurteilte. Unter Ernst Wollweber, dem Nachfolger von Zaisser, wurden Verhörmethoden und Haftbedingungen gemildert. Es gab Anzeichen einer Verkleinerung der „Staatssicherheit“, zumindest waren die Jahre 1956/1957 die einzigen Jahre ohne kontinuierliches Personalwachstum. Aber nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution im Herbst 1956 wurden diese „Reformversuche“ allmählich wieder erstickt. Ein Jahr später gab Wollweber sein Amt aufgrund von schwerer Krankheit auf. Ihm folgte der „Tschekist“ Mielke, der bis 1989 „Minister für Staatssicherheit“ war.[56]
Unter der Führung von Mielke wuchs der Sicherheitsapparat jährlich um 1.000 hauptamtliche Mitarbeiter an, 15.000 IM wurden pro Jahr rekrutiert.[57] Bereits unter Wollweber verfügte die „Staatssicherheit“ über 17.000 Mitarbeiter, diese Zahl wurde in jedem weiteren Jahr deutlich erhöht.[58] 1961 waren es 19.000, sieben Jahre später bereits 30.000.[59]
Unter der Ägide von Mielke und im Zuge des Posener Aufstands in Polen und der Ungarischen Revolution 1956 verschob das MfS seinen Fokus wieder auf die Bekämpfung von „Feinden im Inneren“.[60] Die Ereignisse in den beiden sozialistischen Republiken sorgten für heftige Diskussionen innerhalb der Bevölkerung. Die „Staatssicherheit“ registriert, dass „unter allen Kreisen der Bevölkerung“[61] diskutiert wird, „[h]auptsächlich aber von den Arbeitern, Angestellten und Studenten.“[62] Die „negativen Argumente“ seien größtenteils Wiederholungen westlicher Sender wie RIAS. Die Bevölkerung sei auch nicht der Meinung, dass die Ereignisse in Ungarn und Polen von „Agentenzentralen“ gesteuert werden[63], „sondern die Menschen in diesen Ländern mit dem System der Volksdemokratie nicht einverstanden sind.“[64] Studenten würden sich an „Westsendern“ orientieren[65] und im Verbund mit Professoren „die Auseinandersetzungen in den Volksrepubliken Polen und Ungarn für Forderungen an die Führung der SED und an den Staats [ausnutzen].“[66] Aus der Sicht der „Staatssicherheit“ ergab sich in dieser Situation eine Überschneidung zwischen den „inneren“ und „äußeren Feinden“. Der Aufstand vom 17. Juni (und auch die Diskussionen über die Geschehnisse in Ungarn und Polen) zeigte eindrucksvoll die tiefsitzende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der SED, der DDR und dem sozialistischen System. Doch jeder, der den Staat kritisierte und von seiner Linie abwich, war konsequenterweise ein „innerer Feind“ und „innere Feinde“ kamen nicht von allein darauf, Feinde zu sein, sondern mussten von außen gesteuert werden – in diesem Falle durch die „westlich-imperialistischen Staaten“.
In der Bevölkerung wurde auch über alternative, antistalinistische Formen des Sozialismus nachgedacht, für die „Staatssicherheit“ bedeutete dies schlichtweg „Revisionismus“. Mielke machte die „politisch-ideologische Diversion“ (PID) zum zentralen Feindbild des MfS.[67] Darunter wurde „die verdeckte Aufweichung der Bevölkerung im allgemeinen und der SED-Mitgliedschaft im besonderen durch nonkonformes Gedankengut“[68] verstanden. Gieseke schreibt dazu, dass sich die PID „zum wichtigsten überwachungsstaatlichen Leitgedanken und damit zum Lebenselixier der MfS-Präsenz [entwickelte], denn an Einflüssen westlichen Gedankengutes fehlte es in der DDR in der Tat nicht.“[69]
Im Zuge des Mauerbaus übernahm das MfS auch zunehmend Grenzkontrollen, Passkontrollen und die Bekämpfung des „Menschenhandels“ (bzw. „Republikflucht“). 1961 kam es aufgrund von Protesten gegen den Bau der Mauer zu neuen Verhaftungswellen (6.000 Inhaftierte, 18.000 Urteile wegen „Staatsverbrechen“). Zur selben Zeit kam es in der Sowjetunion, aufgrund des 22. Parteitags der KPdSU und einer Auseinandersetzung mit der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ zu einer zweiten „Entstalinisierungswelle“, wodurch es kurzzeitig zu einer Kritik an der allumfassenden Überwachung Mielkes, seinem Bestreben, sämtliche Bereiche des Lebens in der DDR zu kontrollieren, die Vorgehensweise des MfS und zu Einsparungen beim Personal. Dies hielt aber nicht lange, im Jahr 1964 bekam die „Staatssicherheit“ 52 Millionen Mark mehr und konnte 2.700 neue Mitarbeiter einstellen. Spätestens mit dem Sturz Chruschtschows und der Einsetzung von Leonid Breschnew zum neuen Generalsekretär war alles wieder beim Alten.[70]
[1] Vgl. Gesetz zur Bildung des MfS, in: MfS intern. Macht, Strukturen, Auflösung der DDR-Staatssicherheit. Analyse und Dokumentation. Hrsg. von Karl Wilhelm Fricke, Köln 1991, S. 78.
[2] Ebd.
[3] Klaus Schroeder, Der DDR-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, München 1998.
[4] Vgl. ebd., S. 432.
[5] Zit. nach ebd.
[6] Vgl. ebd., S. 432f.
[7] Clemens Vollnhals, „Ausführendes Organ der Diktatur des Proletariats“. Das Ministerium für Staatssicherheit, in: Der SED-Staat. Neues über eine vergangene Diktatur. Hrsg. von Jürgen Weber, München 1994, S. 55.
[8] Ebd.
[9] Vgl. Schroeder, Der DDR-Staat, S. 433.
[10] Helmut Müller-Enbergs, Inoffizielle Mitarbeiter. https://www.bundesarchiv.de/glossar/detail/inoffizieller-mitarbeiter-im/ (letzter Zugriff am 05.04.2025).
[11] Gieseke, Die Stasi, S. 50.
[12] Vgl. ebd.
[13] Ebd.
[14] Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Berlin 1987, S. 3f.
[15] „Rundfunk im amerikanischen Sektor
[16] Central Intelligence Agency (dt. „Zentrale Nachrichtendienstagentur“).
[17] „Service de documentation extérieure et de contre-espionnage“ (dt. „Auswärtiger Nachrichten- und Spionageabwehrdienst“).
[18] „Secret Intelligence Service“ (dt. „Geheimer Nachrichtendienst“), auch bekannt als MI6 („Military Intelligence Section 6“).
[19] Vgl. Gieseke, Die Stasi, S. 50f.
[20] Vgl. ebd., S. 51.
[21] Vgl. ebd., S. 51f.
[22] Vgl. Franz-Josef Kos, Der Erfurter Schauprozeß und die beiden Nachfolgeprozesse 1952/1953, in: „Gefährliche politische Gegner“. Widerstand und Verfolgung in der sowjetischen Zone/DDR. Hrsg. von Brigitte Kaff, Düsseldorf 1955, S. 125f.
[23] Ebd., S. 126.
[24] Ebd.
[25] Ebd.
[26] Vgl. ebd.
[27] Ebd., S. 127.
[28] Ebd.
[29] Vgl. ebd.
[30] Vgl. ebd., S. 129-135.
[31] Ebd., S. 132.
[32] Ebd.
[33] Vgl. ebd., S. 131f.
[34] Vgl. Gieseke, Die Stasi, S. 52.
[35] Vgl. ebd.
[36] Vgl. ebd., S. 53.
[37] Zit. nach ebd.
[38] Vgl. ebd.
[39] Ebd.
[40] Vgl. ebd.
[41] Vgl. ebd., S. 53ff.
[42] Vgl. Schroeder, Der DDR-Staat, S. 435.
[43] Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 714f.
[44] Vgl. Gieseke, Die Stasi, 62f.
[45] Vgl. Werner Herbig, Der 17. Juni, in: „Gefährliche politische Gegner“. Widerstand und Verfolgung in der sowjetischen Zone/DDR. Hrsg. von Brigitte Kaff, Düsseldorf 1955, S. 247.
[46] Ebd.
[47] Vgl. ebd.
[48] Vgl. SED, Aufruf der SED an die Bevölkerung Ost-Berlins und der DDR. 18. Juni 1953, in: Der 17. Juni 1953. Legende und Wirklichkeit. Hrsg. von Volker Kopp, Berlin 2003, S. 401.
[49] Ebd.
[50] Vgl. ebd.
[51] Vgl. Schroeder, Der DDR-Staat, S. 435.
[52] Die „Staatssicherheit“ war ab 1955 wieder ein eigenes Ministerium. Vgl. ebd., S. 436.
[53] Zit. nach Gieseke, Die Stasi, S. 65.
[54] Vgl. ebd.
[55] Vgl. ebd., S. 64ff.
[56] Vgl. ebd., S. 67-70.
[57] Vgl. Schroeder, Der DDR-Staat, S. 436.
[58] Vgl. Gieseke, Die Stasi, S. 71f.
[59] Vgl. Schroeder, Der DDR-Staat, S. 436.
[60] Vgl. ebd.
[61] Ministerium für Staatssicherheit, Information Nr. 279/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik. 26. Oktober 1956, in: Die DDR im Blick der Stasi 1956. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. Hrsg. von Daniela Münkel, Göttingen 2016, S. 228.
[62] Ebd.
[63] Vgl. ebd., S. 229.
[64] Ebd.
[65] Vgl. Ministerium für Staatssicherheit, Information Nr. 285/56 – Betrifft: Lage an den Universitäten und Hochschulen der Deutschen Demokratischen Republik (Zusammenfassung). 28. Oktober 1956, in: Die DDR im Blick der Stasi 1956. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. Hrsg. von Daniela Münkel, Göttingen 2016, S. 235.
[66] Ebd., S. 234.
[67] Vgl. Gieseke, Die Stasi, S. 76.
[68] Ebd.
[69] Ebd.
[70] Vgl. ebd., S. 77-84.
4. Das Ministerium für Staatssicherheit unter Erich Honecker: Mittel zur Sicherung der Macht und der politischen Stabilität
Gieseke schreibt über die Rolle des MfS in den 1970ern, dass es nun „in die Rolle des entscheidenden Garanten innenpolitischer Stabilität unter den Bedingungen der Entspannungspolitik [wuchs].“[1] Auch wenn eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR nie erreicht wurde, so schaffte sie es dennoch, zu Beginn der Ära Honecker aus der Isolation auszubrechen und ernsthafte Beziehungen mit dem Westen aufzubauen. Doch die außenpolitischen Erfolge hatten ihren Preis. Alle Augen der Welt waren nun auf die ostdeutsche Volksrepublik gerichtet, der Westen (insbesondere die Bundesrepublik) forderte humanitäre Zugeständnisse ein – die Einhaltung der 1975 unterzeichneten Schlussakte der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) und des UN-Bürgerrechtspaktes von 1976.[2]
Unter Honecker begann die DDR einen paradox wirkenden Drahtseilakt zwischen Annäherung und Abgrenzung, Entspannungs- und Abschottungspolitik. Aus der Sicht der SED-Führung ergab dieses Balancieren durchaus Sinn, denn die Außenpolitik hatte Auswirkungen auf die inneren Verhältnisse. Vollnhals schreibt, dass die „Aufweichung verhärteter Feindbilder aus dem Kalten Krieg, der freiere Informationsfluß und vor allem die Möglichkeit zu millionenfachen Westkontakten […] eine erhebliche Gefährdung der inneren Stabilität dar[stellten].“[3]
Die DDR-Führung sorgte sich um ihren Machterhalt, weshalb in den 1970er Jahren die „Staatssicherheit“ zunehmend vergrößert wurde.[4] Durch die vielen neuen Möglichkeiten der Kontaktaufnahme zwischen West und Ost, die sich aus den Verträgen ergaben, wuchs auch die Sorge des MfS vor einer „Kontaminierung“ der DDR-Bevölkerung durch „westliches Gedankengut“. Die Reisepläne der Ostdeutschen, die z. B. ihre Familien in der Bundesrepublik besuchen wollten, sollten daher, auf Anordnung von Mielke, bereits vorher (bevor sie überhaupt offiziell bekannt gegeben wurden) durch das „Ministerium für Staatssicherheit“ überprüft werden.[5] Das bedeutet konkret, dass „sämtliche DDR-Bürger, die entsprechende Westverwandtschaft hatten, so intensiv mit Post- und Telefonkontrollen sowie inoffiziellen Mitarbeitern in ihrem direkten Lebensumfeld zu überwachen, daß es [das Ministerium] von möglicherweise bevorstehenden Reiseanlässen so früh wie möglich erfahren würde.“[6]
Umfangreicher und wesentlich schwieriger zu überwachen waren die Reisen von Bundesdeutschen in das Staatsgebiet der DDR. Zum Vergleich: Ungefähr 40.000 DDR-Bürger reisten jährlich von 1973 bis 1982 privat in die Bundesrepublik, hinzu kamen bis zu anderthalb Millionen Rentnerreisen sowie Dienstreisen. Von West nach Ost kamen im selben Zeitabschnitt durchschnittlich 5 Millionen Besucher in die DDR. Dies stellte einen ungeheuren Aufwand und eine extreme Belastung für das MfS dar[7], weshalb sie sich eher auf „alle ‚politisch-operativ‘ bedeutsamen Bundesbürger und DDR-Gastgeber sowie alle ‚Konzentrationspunkte‘, wie bevorzugte Reiseziele im MfS-Fachjargon hießen“[8], fokussierten. Trotz dieser Einschränkung erklärte Mielke vor seinen Leuten, „daß die Organisierung der operativen Kontrolle über diese Personenkreise auf Grund ihrer Vielfalt und des großen Umfangs die operativen Diensteinheiten vor komplizierte Probleme [gestellt werden].“[9]
Ein weiteres Problem für die „Staatssicherheit“ wurde die sich stetig vergrößernde „Ausreisebewegung“. Im Zuge der KSZE und der Unterzeichnung der Schlussakte 1975 in Helsinki durch Honecker „beriefen sich immer mehr Menschen in der DDR auf die damit anerkannten Menschenrechte und Grundfreiheiten, allen voran die ‚Freizügigkeit‘, also das Recht, das eigene Land zu verlassen.“[10] Die Schlussakte war zwar kein völkerrechtlich bindender Vertrag, aber dadurch, dass Honecker sie offiziell unterzeichnete und zumindest oberflächlich die darin enthaltenen Forderungen anerkannte, erhielt sie enormes Gewicht. Ausreisewillige ab 1975 referenzierten immer wieder auf diese Unterzeichnung. Sie wurden auch zunehmend mutiger, traten öffentlich auf, formten sich zu Gruppen, ließen nicht locker.[11]
Als Reaktion darauf wurde 1976 eine „Zentrale Koordinierungsgruppe“ innerhalb des MfS eingerichtet. Zusätzlich wurde von Mielke am 18. März 1977 der Befehl 6/77 zur „Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung feindlich-negativer Handlungen im Zusammenhang mit rechtswidrigen (Übersiedlungs)Ersuchen“ erlassen. MfS-Mitarbeiter wurden beauftragt, den Charakter, die Gesinnung, die berufliche Funktion, die Lebensgewohnheiten, die Verbindungen zu anderen Personen und die Motive von ausreisewilligen Antragsstellern zu ergründen und aufzuklären[12], „um bereits im Vorfeld evtl. geplante ‚feindlich-negative‘ Handlungen zur Beschleunigung der Ausreise zu verhindern.“[13]
Dafür wurde auch ein „Dreistufenprogramm“ entworfen. An erster Stelle stand die Bekämpfung „ausländischer Unterstützer“ wie die Emigrantenorganisation „Internationale Gesellschaft für Menschenrechte“[14], da aus der Sicht der MfS-Führung die Menschen in Ostdeutschland unmöglich aus eigenem Antrieb die DDR verlassen wollten, sondern diese von „westlichen Agentenzentralen“ und „Imperialisten“ verführt wurden. Zweitens sollte auf die Antragsteller zugegangen werden, damit sie „aufgeklärt“ werden können.[15] Das hatte den Zweck, „die Motive auszuloten und Ansatzpunkte zu finden, damit sie ihr Begehren aufgaben.“[16] Auf der dritten Stufe stand die präventive Maßnahme zur Ermittlung und Erforschung von möglichen Antragstellern[17], „bevor sie ihren weitreichenden Schritt taten, der sie ja bereits ins gesellschaftliche Abseits brachte.“[18]
Die „Staatssicherheit“ kannte fünf geheimdienstliche Methoden, die sie in der Ära Honecker weiter verfeinerte, um gezielt gegen Dissidenten, „Agenten“ und „Saboteure“ vorzugehen. Die erste Methode auf der untersten Stufe bildete die sogenannte Sicherheitsprüfung. Diese wurde gegen einen großen Kreis von Personen in gehobenen Positionen eingesetzt.[19] Dabei wurden sie „auf ihr Gesamtverhalten sowie ihre politische Einstellung hin überprüft.“[20] Entscheidungen, die bei diesen Sicherheitsprüfungen getroffen wurden, hatten enorme Konsequenzen für die Karriere und das Leben der Zielperson. Vier Kategorien von Menschen waren von Sicherheitsüberprüfungen betroffen: Bewerber für staatliche Leitungspositionen, von staatlichen Leitern vorgeschlagene Personen, dem MfS negativ aufgefallene Personen, die sich in Verantwortungsbereichen aufhalten, und Antragsteller für bestimmte Genehmigungen (z. B. Besuchsreisen in den Westen). Bei einer Überprüfung checkt die „Staatssicherheit“ ihre Datenspeicher, was sie zur Person und ihren Angehörigen finden kann. Für die Erlangung von Informationen über den konspirativen Weg, greift das MfS auf IM im Umfeld der zu überprüfenden Person zu.[21]
Die zweite Methode bildete die „Operative Personenkontrolle“ (OPK). Diese richtete sich besonders gegen drei Arten von Menschen: Personen, die im Verdacht stehen, Staatsverbrechen zu begehen; Bewerber und Inhaber von staatlichen Leitungspositionen, denen unterstellt wird, dissidente Ansichten zu vertreten, und Personen, die abweichende Positionen vertreten und/oder Kontakt zu solchen haben.[22] In der „Richtlinie Nr. 1/81 über die Operative Personenkontrolle (OPK)“ vom 18. April 1981 wird diese als Maßnahme mit „aktiv vorbeugende[m] Charakter“[23] beschrieben, die
wirksame Beiträge zur Vorbeugung und Aufdeckung feindlich-negativer Handlungen, zum rechtzeitigen Erkennen und Verhindern gegnerischer Wirkungsmöglichkeiten, zur vorbeugenden Sicherung durch den Gegner besonders gefährdeter Personen und damit zur Klärung der Frage ‚Wer ist wer?‘ in den Verantwortungsbereichen[24]
leisten sollen. Zur OPK kam es, wenn das MfS Informationen besaß, die es durch die Arbeit von IM erhielt, die eine solche Kontrolle rechtfertigen. Dabei wurde jeweils immer nur eine Person, in eher seltenen Fällen auch mehrere Personen (z. B. wenn sie gemeinsam in einer Gruppe agierten oder es sich um Angehörige handelte), kontrolliert. Wie bei fast allen Maßnahmen der „Staatssicherheit“ wurde auch hier auf IM zurückgegriffen[25], „um praktisch alles, was der Betreffende an der Arbeitsstelle, zu Hause, in der Nachbarschaft, während der Arbeit und in der Freizeit tat und sagte, zu überwachen und alle bedeutenden Aussagen und Handlungen schriftlich zu melden.“[26] Dabei sollten die IM nicht nur passiv agieren, sondern auch aktiv eingreifen, um die zu kontrollierende Person von „feindlich-negativen“ Handlungen abzubringen. Des Weiteren wurden die Post und das Telefon überwacht und die Wohnung durchsucht. Wurde der Verdacht bestätigt, konnte ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden.[27] Aber ca. „75 Prozent der OPK führten nach Angaben von ehemaligen Mitarbeitern zu keinem verwertbaren Ergebnis, da keine begründeten Verdachtsmomente vorlagen, doch wurden die gesammelten Materialien in der Abteilung XII eingespeichert.“[28]
Die dritte Methode waren die „Operativen Vorgänge“ (OV). In der „Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung von Operativer Vorgänge (OV)“ von Januar 1976 heißt es:
Mit der zielstrebigen Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge ist vor allem vorbeugend ein Wirksamwerden feindlich-negativer Kräfte zu unterbinden, das Eintreten möglicher Schäden, Gefahren oder anderer schwerwiegender Folgen feindlich-negative Handlungen zu verhindern und damit ein wesentlicher Beitrag zur kontinuierlichen Durchsetzung der Politik der Partei- und Staatsführung zu leisten.[29]
Wie auch bei der OPK wird ein OV eingeleitet, wenn sich Verdachtsmomente für „feindlich-negative Handlungen“ durch gesammeltes Material bestätigt haben. Ziel von OV waren insbesondere oppositionelle Gruppen. Dabei wurde das sogenannte „Herausbrechen“ angewandt[30], „wenn es dem MfS nicht möglich war, IM einzuschleusen, oder wenn innerhalb der zu bearbeitenden Gruppe Widersprüche oder Differenzen festgestellt wurden oder geschaffen werden konnten.“[31] Die „Staatssicherheit“ suchte sich eine geeignete Person zum „Herausbrechen“ aus und überredete bzw. zwang sie durch Erpressungen zur Zusammenarbeit mit dem MfS. Weigerte sie sich weiterhin, wurde sie unter einem Vorwand in Untersuchungshaft genommen, wodurch eine Rückkehr zur Gruppe unmöglich wurde.[32]
Eine zweite Anwendung innerhalb von „Operativen Vorgängen“ war das „Zersetzen“. Die „Richtlinie Nr. 1/76“ beschreibt es folgendermaßen:
Maßnahmen der Zersetzung sind auf das Hervorrufen sowie die Ausnutzung und Verstärkung solcher Widersprüche bzw. Differenzen zwischen feindlich-negativen Kräften zu richten, durch die sie zersplittert, gelähmt, desorganisiert und isoliert und ihre feindlich-negativen Handlungen einschließlich deren Auswirkungen vorbeugend verhindert, wesentlich eingeschränkt oder gänzlich unterbunden werden.[33]
Zum Einsatz kam die „Zersetzung“, wenn sich herausgestellt hat, dass ein „Staatsverbrechen“ begangen wurde[34], „es aber aus politischen Gründen unzweckmäßig erschien, mit strafrechtlichen Mitteln vorzugehen.“[35] Das „Zersetzen“ konnte sich gegen Individuen und Gruppierungen als auch gegen Organisationen richten.[36]
Mittel des „Zersetzens“ „waren vor allem die systematische Schädigung des öffentlichen Rufs, des Ansehens und des Prestiges, wozu wahre, überprüfbare und den Ruf schädigende Angaben zu ‚verdichten‘ waren mit unwahren, aber glaubhaft erscheinenden Fakten.“[37] In erster Linie war es eine Form von „psychologischer Kriegsführung“. Das Leben der Zielperson sollte ruiniert, der berufliche Weg blockiert, der Mensch aus seinem Freundes- und Familienkreis isoliert werden. Gruppen wurden darin manipuliert, über Nichtigkeiten zu diskutieren und zu streiten.[38] Zum Einsatz kamen dabei auch IM, deren Auftrag lautete, „immer wieder bestimmte Grundsatzdiskussionen anzuzetteln oder die Schwierigkeiten innerhalb der Sprache zu bringen.“[39] Weitere Maßnahmen waren die Verlegung des Arbeitsplatzes an einen weit entfernten Ort, eine vorgetäuschte Enttarnung durch das „Ministerium für Staatssicherheit“ und die ständige Vorladung zu gesellschaftlichen Organisationen bzw. staatlichen Dienststellen.[40]
Die zwei letzten Methoden bildeten die Überwachung der Post und des Telefons. Für die Postkontrolle galt die „Dienstanweisung Nr. 3/85 zur politisch-operativen Kontrolle und Auswertung von Postsendungen durch die Abteilung M“, die besagt, dass „mit speziellen politisch-operativen und wissenschaftlich-technischen Mitteln und Methoden Postsendungen, die im internationalen und nationalen Verkehr der Deutschen Post befördert werden, zu kontrollieren und auszuwerten“[41] waren. Post von außerhalb der DDR wurde danach kontrolliert, ob diese Materialien bzw. Gegenstände enthielt, die sich gegen die Staatsideologie richteten.[42] Im Vordergrund standen dabei Sendungen, „die von sogenannten Agenturen, also gedeckten Arbeitsgruppen westlicher Geheimdienste, in der BRD oder West-Berlin auf den Weg gebracht worden waren, um zugleich auch feststellen zu können, wer die Empfänger waren.“[43] Die Post, die im Inneren der DDR versandt wurde, überprüfte das MfS auf dissidentes bzw. „feindliches“ Gedankengut. Dies erfolgte unter strengster Geheimhaltung und in enger Zusammenarbeit mit der Deutschen Post.[44]
Bei der Telefonüberwachung wurden jährlich ungefähr 7.000 Menschen gezielt abgehört. Ziel der Überwachung waren nicht nur Oppositionelle, sondern auch Politbüromitglieder, Personen in staatlichen Leitungspositionen, Pastoren, Bischöfe, Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller. Auch bei Personen, die aufgrund einer OPK oder OV observiert wurden, wandte die „Staatssicherheit“ die Telefonüberwachung an.[45] Die Telefongespräche „wurden auf Band aufgezeichnet, von speziell geschulten Mitarbeitern ausgewertet und in Form zusammenfassender Protokolle an die auftraggebenden Diensteinheiten übergeben.“[46] Neben dem Abhören von Telefongesprächen kamen auch Videokameras, Fotos und Abhöranlagen in Privat- und Diensträumen zum Einsatz.[47]
Die hier besprochenen Maßnahmen deuten darauf hin, dass ab den 1970er Jahren eine zunehmende „Professionalisierung“ innerhalb des „Ministeriums für Staatssicherheit“ stattfand, um über die größer werdenden Widerstands- und Protestgruppierungen Herr zu werden. Statt Verhaftungswellen fokussierte sich das MfS auf mehr konspirative Methoden und verdeckte, gezielte Schläge. Rein „stalinistische“ Vorgehensweisen waren im Anbetracht dessen, dass die Weltöffentlichkeit in der Ära Honecker vermehrt ihre Aufmerksamkeit auf die DDR richtete und die SED außenpolitische Erfolge (wie die völkerrechtliche Anerkennung) erreichen wollte, nicht mehr zeitgemäß. Gieseke schreibt dazu: „Die Zugeständnisse im internationalen und deutsch-deutschen Raum hätten es der SED schwerer gemacht, mit offener Repression auf Widerstände in der Bevölkerung zu reagieren, weil sie die negativen Schlagzeilen und mögliche Stockungen in den Verhandlungen gefürchtet habe.“[48]
Aber ein komplettes Zurückfahren des Sicherheits- und Repressionsapparats war auch nicht möglich, da das die Macht der SED und des sozialistischen Staates gefährdet hätte. „Staatsverbrechen“ bzw. „feindlich-negative Handlungen“ sollten nicht durch im Nachhinein erfolgte Festnahmen und durch Zuchthaus bestraft werden, sondern sie sollten bereits präventiv (und möglichst ohne Aufmerksamkeit) verhindert werden. Erich Mielke schreibt in der MfS-Richtlinie Nr. 1/76 – „Die Bearbeitung Operativer Vorgänge“ darüber folgendes:
Der zuverlässige Schutz der gesellschaftlichen Entwicklung und die allseitige Gewährleistung der inneren Sicherheit der DDR erfordern vom Ministerium für Staatssicherheit die zielstrebige und schwerpunktmäßige vorbeugende Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung aller subversiven Angriffe des Feindes. […] Mit der zielstrebigen Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge ist vor allem vorbeugend ein Wirksamwerden feindlich-negativer Kräfte zu unterbinden, das Eintreten möglicher Schäden, Gefahren oder anderer schwerwiegender Folgen feindlich-negativer Handlungen zu verhindern und damit ein wesentlicher Beitrag zur kontinuierlichen Durchsetzung der Politik der Partei- und Staatsführung zu leisten.[49]
Für Mielke und das MfS bedeutete dieses Vorgehen die „harte[ ] Klassenauseinandersetzung mit dem Imperialismus“[50], demzufolge auch die Sicherung und Stabilisierung der DDR und des „Friedens“.[51]
Wichtig bei der Machtsicherung war nicht nur die flächendeckende, totale Überwachung, sondern auch die Zusammenarbeit mit den „Inoffiziellen Mitarbeitern“, die zur wichtigsten Stütze des MfS-Apparates wurden.[52] Der Einsatz von IM zieht sich von der Interimszeit unter sowjetischer Führung bis zum Ende der DDR, wo sie unersetzlich für die Aufgaben des „Ministeriums für Staatssicherheit“ wurden. Das zeigen auch die Zahlen. 1988 gab es ungefähr 109.000 IM. Dazu kamen 32.000 Personen, die die IM bei ihrer konspirativen Tätigkeit unterstützten (z. B., indem sie ihre Privatwohnung zur Verfügung stellten) und nochmal in ähnlicher Anzahl „Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit“. Insgesamt gab es also 173.000 Personen, die „inoffiziell“ mit dem MfS zusammenarbeiteten. Statistisch ergab das einen IM auf 120 DDR-Bürger.[53] Zum Vergleich: In den Jahren 1950 bis 1952 gab es „nur“ ca. 30.000 „Inoffizielle Mitarbeiter“ (damals unter der Bezeichnung „Geheimer Mitarbeiter“ oder „Geheimer Informator“).[54]
In einem ähnlichen Umfang wuchs auch der Anteil der „Hauptamtlichen“. Waren unter der Leitung von Wollweber bereits 17.000 Mitarbeiter, gab es zur Zeit des Mauerbaus 20.000, beim Amtsantritt von Honecker 45.500, 1982 81.500 und Ende Oktober 1989 91.015.[55] Gieseke schreibt, dass „die Staatssicherheit bis Anfang der achtziger Jahre ihren Personalstand etwa alle zehn Jahre [verdoppelte].“[56] Am Ende der DDR kam ein MfS-Mitarbeiter demzufolge auf 180 DDR-Bürger.[57]
Dieses ungeheure Wachstum des Apparats schlug sich auch im Etat nieder. 1989 verschlang das „Ministerium für Staatssicherheit“ ungefähr 4,195 Milliarden Mark, davon 2,355 Milliarden Mark allein für die Personalkosten der „hauptamtlichen“ Mitarbeiter.[58]
Ab den 1970er und besonders ab den 1980er Jahren rückte der Kampf gegen den „politischen Untergrund“[59] für Mielke und das MfS ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Was genau unter „politischer Untergrundtätigkeit“ zu verstehen ist und wer diese verübte, war anfangs für MfS-Mitarbeiter nicht sonderlich klar. Erst nach und nach wurde dieser Begriff für die sich langsam entwickelnde politische Opposition benutzt. Anfangs gingen das „Ministerium für Staatssicherheit“ und die Staatsführung gegen Oppositionelle und Bürgerrechtler vor, indem sie einfach aus dem Land ausgewiesen wurden, wie es 1976 mit Wolf Biermann geschah.[60] Dieser stand bereits 1971 aufgrund seines Dramas „Dra Dra Dra“ unter der Beobachtung der „Staatssicherheit“. In einem Bericht vom 12. November 1971 heißt es:
Das Theaterstück soll von der Aussage her gesellschaftliche Probleme des Kampfes unterdrückter Menschen gegen ihre Unterdrücker sichtbar machen. Dabei unterlässt es Biermann [sic!] offensichtlich bewusst, konkret auszudrücken, für welche Gesellschaftsordnung sein Stück zutreffend ist. Er stellt es den Akteuren frei, diese Fabel gegen die Verhältnisse in der kapitalistischen Ausbeuterordnung oder gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung auszulegen. […] In diesem stellte Biermann [sic!] wiederholt den ‚Drachen‘ [das Stück basiert auf einer Drachentöterlegende] der Staatsmacht gleich, die ein den Bürgern entgegengesetztes feindliches Unterdrückungs- und Ausbeutungsinstrument darstellen würde.[61]
Die Ausbürgerung von Oppositionellen erwies sich aber nicht als idealer Weg im Kampf gegen die „politische Untergrundtätigkeit“, da sie für Entrüstung innerhalb wie außerhalb der DDR sorgte.[62]
Ab den 1980er Jahren wurde der Kampf gegen die PUT nochmal intensiviert. In jeder seiner Reden erwähnte er den „politischen Untergrund“ und sah die Organisatoren selbstverständlich im Ausland angesiedelt.[63] Der Staatsminister „verdonnerte jene Diensteinheiten zum Kampf gegen den politischen Untergrund, die sich seit Bestehen des MfS auf die Sicherung des Systems konzentrierten. […] Die Bekämpfung des politischen Untergrunds wurde zur Gesamtaufgabe des MfS erklärt.“[64] Zur PUT gehörte nach Ansicht von Mielke auch die sogenannte Republikflucht, mit der die DDR seit Beginn ihrer Existenz zu kämpfen hatte.[65] Zur Eindämmung der Republikflucht, der Übersiedlung und der Fluchthilfe (allgemein als „Menschenhandel“ bezeichnet) „wurden etwa vier Fünftel der Gesamtkapazität des MfS eingesetzt.“[66] IM wurden in Fluchthilfeorganisationen eingeschleust, um Fluchtwillige direkt in die Hände der „Staatssicherheit“ zu leiten. Das Ministerium verpflichtete seine 219 Kreisdienststellen dazu, Ausreisen zu verhindern, indem frühzeitig festgestellt werden sollte, wer ausreisewillig war, und dann Einfluss auf die Antragsteller und deren unmittelbaren Familien- und Freundeskreis zu nehmen, um die „Flucht“ rechtzeitig zu vereiteln. Doch das MfS sah sich trotz alledem einer stetig größer werdenden Flut von Ausreiseanträgen und einer selbstbewusst auftretenden Ausreisebewegung ausgesetzt.[67] Mielke nannte die Republikflüchtlinge und Ausreisewilligen auf einer Dienstkonferenz im Jahre 1984 „Feinde, kriminelle Elemente und andere Unverbesserliche“[68].
Clemens Vollnhals interpretiert den Ausbau und die Aktivitäten des MfS in der Ära Honecker wie folgt:
Es spricht viel für die Hypothese, daß der enorme Ausbau des Staatssicherheitsdienstes in den siebziger und achtziger Jahren nicht nur unter quantitativen Gesichtspunkten zu betrachten ist, sondern eine neue Qualität erreichte. Das MfS substituierte – zumindest partiell – zentrale Steuerungsfunktionen in Schlüsselbereichen. Es zersetze die Gesellschaft, um die Stabilität eines mehr schlecht als recht funktionierenden Staatswesen zu sichern.[69]
Gieseke kommt zu einem etwas anderen Schluss. Er sieht den massiven Ausbau des MfS-Apparats
als Ausdruck einer hypertrophen, völlig aus dem Ruder gelaufenen Sicherheitsbürokratie, die sich zunehmend mit sich selbst beschäftigte und die von ihr produzierten Massen an Informationen gar nicht mehr bewältigen konnte. So gesehen wäre nicht nur die DDR an den Kosten des Apparats zugrunde gegangen, sondern der Apparat gleichsam an sich selbst erstickt.[70]
[1] Ebd., S. 86.
[2] Vgl. Vollnhals, „Ausführendes Organ der Diktatur des Proletariats“, S. 64f.
[3] Ebd., S. 65.
[4] Vgl. ebd., S. 65f.
[5] Vgl. Gieseke, Die Stasi, S. 88.
[6] Ebd.
[7] Vgl. ebd., S. 89.
[8] Ebd.
[9] Ebd.
[10] Ebd., S. 91.
[11] Vgl. ebd., S. 90f.
[12] Vgl. Schroeder, Der DDR-Staat, S. 438.
[13] Ebd.
[14] Vgl. Gieseke, Die Stasi, S. 91.
[15] Vgl. ebd.
[16] Ebd.
[17] Vgl. ebd.
[18] Ebd.
[19] Vgl. David Gill / Ulrich Schröter, Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums, Berlin 1991, S. 123.
[20] Ebd.
[21] Vgl. ebd., S. 123-126.
[22] Vgl. ebd., S. 127.
[23] Ebd.
[24] Zit. nach ebd.
[25] Vgl. ebd., S. 127ff.
[26] Ebd., S. 129.
[27] Vgl. ebd., S. 129f.
[28] Ebd., S. 131.
[29] Zit. nach ebd.
[30] Vgl. ebd., S. 134ff.
[31] Ebd., S. 136.
[32] Vgl. ebd., S. 136f.
[33] Zit. nach ebd., S. 137.
[34] Vgl. ebd.
[35] Ebd.
[36] Vgl. ebd., S. 137.
[37] Ebd., S. 138.
[38] Vgl. ebd.
[39] Ebd.
[40] Vgl. ebd., S. 137ff.
[41] Zit. nach ebd., S. 140.
[42] Vgl. ebd., S. 141.
[43] Ebd.
[44] Vgl. ebd., S. 141-144.
[45] Vgl. ebd., S. 146.
[46] Ebd.
[47] Vgl. ebd.
[48] Gieseke, Die Stasi, S. r74.
[49] Erich Mielke, MfS-Richtline Nr. 1/76. „Die Bearbeitung Operativer Vorgänge“. Januar 1976, in: MfS intern. Macht, Strukturen, Auflösung der DDR-Staatssicherheit. Analyse und Dokumentation. Hrsg. von Karl Wilhelm Fricke, Köln 1991, S. 93f.
[50] Ebd., S. 93.
[51] Vgl. ebd.
[52] Vgl. Heribert Schwan, Erich Mielke. Der Mann, der die Stasi war, München 1997, S. 125.
[53] Vgl. Vollnhals, „Ausführendes Organ der Diktatur des Proletariats“, S. 68f.
[54] Vgl. Gieseke, Die Stasi, S. 58.
[55] Vgl. ebd., S. 71f.
[56] Ebd.
[57] Vgl. ebd., S. 72.
[58] Vgl. ebd.
[59] Im Staatssicherheitsjargon als „politische Untergrundtätigkeit“, abgekürzt PUT, bezeichnet.
[60] Vgl. Schwan, Erich Mielke, S. 177f.
[61] MfS, Information Nr. 1078/71 über die Absicht des „freischaffenden Schriftstellers“ Wolf Biermann, einen Antrag auf eine Reise nach Schweden zu stellen, in: Die DDR im Blick der Stasi 1971. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. Hrsg. von Daniela Münkel, Göttingen 2022, S. 255.
[62] Vgl. Holger Kulick, Einer der Anfänge vom Ende der DDR. Die Biermann-Ausbürgerung 1976. Fünf zeithistorische Videos aus „Kennzeichen D“. https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/343310/einer-der-anfaenge-vom-ende-der-ddr-die-biermann-ausbuergerung-1976/ (letzter Zugriff am 11.04.2025).
[63] Vgl. Schwan, Erich Mielke, S. 182.
[64] Ebd., S. 183.
[65] Vgl. ebd.
[66] Ebd., S. 185.
[67] Vgl. ebd., S. 185-188.
[68] Zit. nach ebd., S. 189.
[69] Vollnhals, „Ausführendes Organ der Diktatur des Proletariats“, S. 72.
[70] Gieseke, Die Stasi, S. 74.
5. Schlussbetrachtungen
Wie entwickelte sich das Vorgehen der „Staatssicherheit“ von der Ära Ulbricht zu der Ära Honecker? Können qualitative und quantitative Unterschiede festgestellt werden?
Die Entwicklung der Vorgehensweise der „Staatssicherheit“ war nicht linear, bereits unter Ulbricht sind verschiedene Phasen erkennbar. Besonders in den 1950er Jahren, in der „hochstalinistischen Phase“ (bzw. der Zeit des „kalten Bürgerkriegs“), agierte das MfS wie eine terroristische Geheimpolizei. Es gab unzählige Verhaftungen von politischen Gegnern und religiösen Gruppierungen (Politiker der Blockparteien, rebellierende Jugendliche, Zeugen Jehovas, Abweichler, die „Jungen Gemeinden“, andere Kommunisten), brutale Verhöre (Schlafentzug, Isolation, Manipulation, physische Gewalt), Nötigung und Erpressung von Unternehmen durch ein autoritäres Wirtschaftsrecht, drakonische und lange Zuchthausstrafen für nichtige Vergehen, bereits vorgefertigte Geständnisse, Anklage- und Urteilsschriften sowie Schauprozesse nach sowjetischem Vorbild. In den ersten Jahren der DDR war die „Staatssicherheit“ ein effektives Mittel, um jegliche Opposition auszuschalten und zu unterdrücken und somit die Macht der SED zu konsolidieren.
In der Zeit der „Entstalinisierung“ folgte eine kurze Phase der Lockerung der Repressionen. Staatsminister Wollweber versuchte zaghaft, den Sicherheitsapparat zu reformieren, doch diese Entwicklung wurde spätestens mit dem Amtsantritt von Mielke komplett abgebrochen. Bis zum Mauerbau 1961 folgten weitere Verhaftungswellen. Mit dem Abschluss der Bauarbeiten übernahm das MfS die Überwachung der Grenzen.
Unter Honecker erreichte das Ministerium seine größten personellen und finanziellen Ausmaße, wobei die Ansätze dafür bereits unter Ulbricht angelegt wurden. Mit der beginnenden Annäherung des Westens und dem Drahtseilakt zwischen Anerkennung und Abschottung konnte sich die SED-Führung ein offenes repressives Vorgehen nicht mehr leisten. Zu groß war die Sorge, die außenpolitischen Erfolge wieder zunichtezumachen. Gleichzeitig konnte die Partei die Repression aber auch nicht lockern, da zu jeder Zeit eine Furcht vor „westlichem Gedankengut“, also vor einem Machtverlust, bestand. Der Schwerpunkt wurde auf Präventivmaßnahmen verlegt. „Politische Verbrecher“ sollten aufgehalten werden, noch bevor sie aktiv wurden. Dabei wurde u. a. auf die Methode der „Zersetzung“ gesetzt, d. h., eine Person sollte gesellschaftlich zerstört werden. Der Sinn dahinter war, jeglichen demokratischen Widerstand von Anfang an im Keim zu ersticken. Einige politische Oppositionelle wie Wolf Biermann wurden auch einfach abgeschoben.
Die Überwachung der Telefone, der Post, der Grenzen, des Zolls, der Wirtschaft und der Bevölkerung erreichte unter Honecker ihren Höhepunkt. Doch selbst mit solch einer totalen Überwachung konnte das MfS die vielen Krisen, die die DDR plagten, weder aufhalten noch verhindern.
Sowohl unter Ulbricht als auch unter Honecker stützte sich das MfS auf ein gewaltiges Netzwerk von IM. Unter Honecker erreichten auch die IM ihren Höchststand.
Festzuhalten ist, dass unter Honecker das Vorgehen des „Ministeriums für Staatssicherheit“ weniger offensichtlich brutal und repressiv war, es dafür aber mehr flächendeckende Überwachung, Zersetzungsmethoden und Präventivmaßnahmen gab. Die „Staatssicherheit“ war zu keinem Zeitpunkt etwas anderes als eine bürokratische Unterdrückungs- und Terrormaschine. Ihr Zweck war es, die Macht einer unbeliebten Partei zu sichern – einer Partei, die ohne die Hilfe ihrer Geheimpolizei und ganz besonders ohne die Rückendeckung durch sowjetische Panzer wahrscheinlich schon lange gestürzt worden wäre.
6. Literatur- und Quellenverzeichnis
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