Der kühle Wind rauschte durch die Blätter des dunklen Waldes. Der Meister hielt mich fest in seinen Armen, ich spürte seine schwieligen, von der Arbeit gezeichneten Hände. Bei sich hatte er seinen ältesten Sohn, einen aufgeregten jungen Burschen. Mit leisem Schritt gingen sie durchs Unterholz, schon seit einiger Zeit verfolgten sie die Fährte eines Hirschs. Plötzlich packte der Meister seinen Sohn am Arm und deutete mit dem Zeigefinger auf etwas, er befahl ihn, ohne auch nur ein einzelnes Wort zu nutzen, ruhig zu sein. Ich verstand auch warum. Vor uns graste der Hirsch, er trug ein majestätisches Geweih auf seinem Haupt. Der König des Waldes hob seinen Kopf, blickte in unsere Richtung, die Atmung des Meistes und seines Sohnes wurde flacher, ruhiger. Ich spürte, wie schnell der Puls am Finger schlug. Nach Außen hin mochten sie die absolute Ruhe verkörpern, doch im Inneren rumorte es.
Der Meister erklärte seinen Sohn mit leisen Worten, was nun passieren soll. Für einen Moment schien er zu überlegen, dann entschied er sich. Er überreichte mich an seinen Sohn. Der Junge schaute verwundert auf mich herab, als wäre ich etwas, was er noch nie in seinem Leben gesehen hätte. Der Meister nickte sanft und lächelte dabei.
Der Sohn legte mich an, sein Finger am Abzug, atmete tief ein und schoss. Der Hirsch jaulte mit lautem Geräusch auf und brach zusammen. Direkter Treffer ins Herz. Meine Schüsse gingen nie daneben.
Die beiden jubelten. Der Meister schlug seinen Sohn stolz auf den Rücken, lachte, auch der Junge lächelte. Sein ganzer Körper zitterte vor Erregung, beinahe hätte er mich fallengelassen.
Sie gingen an ihre frisch erlegte Beute heran und begutachteten sie. Es war wirklich ein mächtiger Fang, der Meister war überaus erfreut. Das wird ein großes Festmahl werden, sagte er. Mutter, die Großeltern und die zwei Brüder werden froh sein.
Danach gab es noch viele weitere Ausflüge, doch je mehr die Zeit verstrich, desto weniger wurden sie dennoch. Eines Tages holte mich der Meister aus dem Schrank und übergab mich wieder an seinen ältesten Sohn. Er war nun ein erwachsener Kerl, überragte den Meister um einen Kopf. Recht amüsant fand ich, dass er eine merkwürdige dunkelgrüne Uniform und einen spitzen Helm trug. Das war aber keine passende Jagdausrüstung, zumindest meiner bescheidenen Meinung nach.
Der Meister drückte seinen Sohn herzlich, dann bestieg er einen laut brummenden Laster, auf den bereits andere junge Männer saßen und warteten. Sie lachten und unterhielten sich laut, einige sangen. Als der Sohn dazustieß, lachte er laut mit.
Wir fuhren weit, weit weg. Zuerst zu einem großen Bau, der Sohn steckte mich in eine Kammer, als er die Tür schloss, wurde es dunkel um mich herum. So blieb es für eine sehr lange Zeit. Dann holte er mich wieder raus und wieder bestiegen wir einen brummenden, stinkenden Laster.
Diesmal fuhr er sogar noch weiter. Das Klima wurde rauer, unangenehmer, härter, kälter. Aschefarbene Schneeflocken fielen von einem grauen, wolkenverhangenen Himmel. Auch die Gesichter der Jungen wurden härter, fester, ihr Lachen erstarrte. Ihre Augen wurden ausdruckslos. Die Gesänge verstummten. Mir schwante Übles.
Irgendwann waren wir an unserem Bestimmungsort angekommen. Eine trostlose Landschaft, nichts als Leere, soweit das Auge reicht. Der Sohn hielt mich fest umklammert. Es war anders als der Griff des Meisters. Der Sohn war unsicher, hatte Angst.
Ein älterer Herr in schicker Uniform kam auf uns zu, schrie uns an. Ich verstand es nicht wirklich. Der Sohn sprang in einen Graben, zusammen mit vielen anderen. Für lange Zeit war es still, man konnte die Anspannung förmlich spüren. Plötzlich – Einschläge! Links und rechts fiel etwas vom Himmel herab. Dreck wurde aufgewirbelt. So ging es für mehrere Minuten.
Dann – ein übles, schrilles Pfeifgeräusch! Die jungen Männer drehten sich alle um und kletterten aus dem Graben. Ich sah eine tote Landschaft vor mir, Stacheldraht und Nebel. Uniformierte Menschen, die am Boden lagen und sich nicht mehr bewegten. Der Sohn schaute weder nach links noch nach rechts, achtete nicht auf die Einschläge, die die anderen hinwegfegten. Vor uns marschierten andere Männer auf uns zu, sie trugen noch merkwürdigere Kleidung und sprachen Worte, die mir unverständlich waren. Der Sohn legte mich an und schoss – Treffer! Ein bärtiger Mann ging zu Boden. Nie ging ein Schuss von mir daneben. Das war ganz anders als die Jagden, die ich so oft miterleben durfte. Das hier war … aufregender? Gefährlicher? Noch nie hatte ich so etwas erlebt.
Plötzlich fiel der Sohn, ich landete im kalten Schlamm. Er machte keine Anstände mehr, sich aufzurichten und mich aus dem Dreck zu holen. Er blieb einfach liegen. Und so lag ich da, bis in die kühle Nacht hinein. Schließlich fand mich ein junger Mann von der gegenüberliegenden Seite und hob mich auf. Vorsichtig wischte er die Schlammreste und den Staub von mir, dann machte er sich schnellen Schrittes wieder zurück zu seinem Graben.
Doch auch er konnte mich nicht lange benutzen, ein paar Tage vergingen, dann landete auch er mit dem Gesicht nach unten im ekelhaften Schlamm. So ging es weiter und weiter. Sehr oft wechselte ich die Besitzer, wechselte in andere Hände, die zunehmend rauer und schwieliger wurden. Mal gehörte ich der einen, mal der anderen Seite.
Ich vergaß die Zeit, ich merkte mir nicht einmal mehr die Gesichter der jungen Kerle, die mich fanden. Wozu auch? Es hatte keinen Sinn gehabt. Sie lebten eh nicht lange. Mir fiel auf, dass sich ihre Uniformen änderten. Waren sie vorher noch schön bunt, wandelten sie sich zunehmend zu einem einheitlichen Grau. Bald schon bemerkte ich keinen Unterschied mehr zwischen den Seiten.
Eines Tages fand mich mein letzter Besitzer. Er hob mich vor einer wütenden Menge hoch und schrie und schrie, ich verstand nicht, worum es ging. Es war mir auch egal. Ich hatte mit der Sache abgeschlossen. Um mich herum explodierte es, Häuser brannten. Ein Mann in dreckiger, zerrissener Uniform hing an einen Baum. Wir zogen in eine Stadt, ständig wurde gebrüllt. Die Tür zu einem großen Palast wurde aufgebrochen und die Menge strömte wie eine Flut hinein. An der Speerspitze stand ich.