Jeden Morgen wache ich pünktlich um sieben Uhr ohne Zutun meines Weckers auf. Sobald ich mich ordentlich gestreckt habe und aufgestanden bin, salutiere ich vor dem selbstangefertigten Gemälde des großen Anführers unserer deutschen Nation: Kaiser Wilhelm den Zweiten, und danke ihm für das Wirtschaftswunder. Gefolgt vom Singen unserer Nationalhymne, und zwar nicht weniger als fünfundzwanzigmal, einmal für jeden Bundesstaat des Deutschen Reiches.
Danach bete ich zum lieben protestantisch-katholischen Herrn Gott und bitte Ihn darum, dass er endlich die elendige Franzmannbrut auslöscht und England straft. Ich bete um die Sicherheit des Kaisers und seiner Familie und unserer Kolonien in Übersee, auf die wir alle sehr stolz sind. Zum Schluss bitte ich Ihn noch darum, einen Tag vergehen zu lassen, an dem die Bayern nicht aus dem Reich austreten wollen.
Um sieben Uhr dreißig, und nicht eine einzige Minute später, gibt es ein leichtes Frühstück: Vollkornbrötchen mit Bockwurst, Leberwurst und Plunderwurst, garniert mit Sülze und als Absacker einen kleinen, frisch gepressten Sauerkrautsaft. Das alles spüle ich mit einem großen deutschen Bier hinunter.
Meine liebe Frau bügelt bereits meine preußische Uniform und kümmert sich liebevoll um unsere zehn Kinder: Hans, Friedrich, Hans Friedrich, Ernst, Hermann, Ernst Hermann, Hermann Friedrich, Hans Ernst Hermann, Ernst Hermann Hans Friedrich und das Mädel.
Ich ziehe mir meine preußische Uniform an, setze die Pickelhaube auf, die ich am Abend zuvor ordentlich poliert habe, packe das Monokel auf mein rechtes Auge und begebe mich pünktlich um sieben Uhr fünfundvierzig, und keine Minute später, zur Arbeit. Natürlich mit dem Automobil, denn individuelle Mobilität ist mir als Deutscher sehr wichtig.
Auf meinen fünfminütigen Arbeitsweg fahre ich durch die schöne Innenstadt im historischen Stil, zu meiner linken Seite wird ein weiteres Schloss erbaut, wenn es einmal fertiggestellt sein wird, wird es sicherlich hervorragend zu den anderen zwanzig Schlössern im gleichen Stil passen. Gestern las ich, als ich der Goethe- und Schillerlektüre müde wurde, dass hier vor einigen Jahren noch ein gewaltiger Wald stand. Kaiser Wilhelm der Zweite soll die widerspenstigen Bäume eigenhändig erschlagen haben, damit Deutschland seinen Platz an der Sonne bekommt.
Ich fahre an den neuentstandenen Fabriken vorbei, wo sich bereits das dreckige Proletariat sammelt, um in den Werken bis zum Umfallen zu schuften. Der Flottenbau unserer Exzellenz hat viele neue Arbeitsplätze erschaffen, wodurch der faule Pöbel endlich eine Beschäftigung hat und Vater Staat nicht mehr sinnlos auf der Tasche liegt. Die unteren Klassen sind nichts weiter als ein parasitäres Geschwür, dass wir leider Gottes noch benötigen. Die Franzmänner haben ihre Neger und die Engländer ihre Inder, wir haben nur den verkümmerten, nichtsnutzigen Bodensatz unserer Gesellschaft.
Bei der Arbeit angekommen, pünktlich wohlgemerkt, grüße ich als Erstes die drei Gemälde unserer drei großen deutschen Kaiser: Wilhelm der Erste, der 99-Tage-Kaiser und Wilhelm der Zweite. Ich lege meinen Helm ab und begebe mich, die Melodie von ›Heil dir im Siegerkranz‹ auf den Lippen, zum Büro. Auf dem Weg dorthin begegne ich dem werten Herrn Kollegen und wir schwatzen ein wenig. Wir beschweren uns darüber, dass die Sozialdemokraten zu sozialdemokratisch, die Liberalen zu liberal und die Konservativen zu wenig konservativ sind.
Ich setze mich an meinen schönen deutschen Eichentisch und beginne mit der Arbeit, die ich natürlich über alles Liebe. Ab und an träume ich, in eine der vielen Kolonien auszuwandern, vielleicht sogar meine eigene zu gründen. Ich tränke jeden Tag Kokosmilch und ließe mir die Sonne auf den Bauch scheinen. Eine Gruppe von Eingeborenen stünde mir zur Seite und erfülle jeden meiner Wünsche. Das wäre das Leben.
Mittags herum stürmt unser werter Herr Chef, ein stämmiger Deutscher aus Ostpreußen mit stolzem Schnauzbart, in den Büroraum und verkündet, dass die verdammeleiten Slawen den österreichisch-ungarischen Thronfolger brutal getötet haben. Mit Bomben und Revolverschüssen! Die k.u.k-Monarchie hat den Serben bereits ein Ultimatum gestellt. Alle im Büro stehen auf und schimpfen auf die Slawen im Osten, die schon immer ein schmerzender Dorn in unserer Seite waren. Kurz darauf singen wir die deutsche Nationalhymne und ›Heil dir im Siegerkranz‹, bevor wir dann zu unserer Arbeit zurückkehren.
Danach gibt es Mittagessen, oder wie die verdammten Briten es nennen würden: lunch. Wie immer bestelle ich mir eine saftige Sauerkrautroulade mit Klößen, Rotkohl und brauner Bratensoße, dazu eine Hähnchenkeule und ein kühles Bier. Zum Nachtisch ess ich einen schönen Schokoladenpudding.
Während des Essens wird selbstverständlich ausgiebig mit den Kollegen geredet, in der Regel über die derzeitige tagesaktuelle Politik, z.B. wann dieser verdammeleite Karl Liebknecht endlich gehängt werden würde. Noch nie habe ich eine Person gesehen, die so sehr gegen das Kaiserreich hetzt wie dieser Kerl. Typisch Sozialdemokrat! Immer am Meckern und Nörgeln, immer gibt es was auszusetzen. Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, in der Bismarck dieses Sozialistenpack wie die Wildsau durch den Wald jagte. Vielleicht sollten wir dies wiederholen.
Nach dem ausgiebigen Mittagessen stürzt der Chef in die Kantine und verkündet, dass unser lieber Kaiser eine Rede anlässlich der stetigen Eskalation halten wird. Die Ereignisse scheinen sich überschlagen zu haben. Ein Serbe erschießt den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand, woraufhin Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt, woraufhin das Russische Zarenreich Österreich-Ungarn den Krieg erklärt, da sie die Schutzmacht der Serben sind, woraufhin Österreich-Ungarn das Deutsche Reiche um Beistand bittet, da wir ein Verteidigungsabkommen miteinander haben. Danach erklären wir Russland den Krieg, da sie ihre Generalmobilmachung nicht rückgängig machen! Verrückte Angelegenheit! Der Balkan war schon immer ein Pulverfass und wird es auch in Zukunft bleiben! Irgendwann wird die Welt wegen dieser Region noch in Flammen aufgehen!
Wir verlassen sofort unseren Arbeitsplatz, etwas, was selten passiert, eigentlich nie, und stürmen zum Berliner Schloss, um uns die Rede unseres großen Oberhauptes anzuhören. Leider kommen wir recht spät, eine riesige Menschenmasse hat sich schon vor Ort versammelt. Ich stehe ganz hinten, trotzdem spüre ich die Ekstase, die durch die Menge rauscht. Wir sind mitten in einem schwarz-weiß-roten Meer, ich drohe beinahe in der Vaterlandsliebe zu ertrinken.
Der Kaiser tritt auf den Balkon, da ich so weit weg bin, kann ich ihn nicht genau erkennen, doch ich fühle seine majestätische Anwesenheit. Er fängt an zu sprechen, sein Wort rollt wie eine Flutwelle über die Masse, berührt unsere Seelen zutiefst. Er spricht von ›harten, schweren Zeiten‹, von einer ›schweren Stunde‹, dass sich das ›deutsche Volk mit dem Schwert in der Hand gegen seine Feinde wehren muss‹, dass wir ›für unser braves Heer‹ beten sollen. Mit glorreichem Klang spricht er davon, dass er ›keine Parteien und Konfessionen mehr kenne, sondern nur noch Deutsche‹. Mit patriotischen Tränen der Freude falle ich meinen liberalen, sozialdemokratischen und konservativen Nachbarn in die Arme und küsse in Vergebung ihre Wangen. Wir wollen nicht mehr miteinander streiten, wir wollen gemeinsam an Deutschlands Zukunft arbeiten!
Den Rest der Rede bekomme ich gar nicht mehr so richtig mit, doch das ist auch nicht wichtig, ich habe verstanden, was der Kaiser von uns verlangt, was sein Ziel ist.
Wir werden ein besseres Deutschland, ein besseres Europa und eine bessere Welt bauen! Das Deutsche Reich wird sich bis in die russische Tundra ausbreiten und ein fruchtbares Zuhause für Millionen und Abermillionen von Deutschen schaffen. Wir werden die Franzosenbrut und ihre Negersoldaten in den Atlantik treiben, wir werden den Eiffelturm einschmelzen und eine gewaltige Büste von Kaiser Wilhelm den Großen anfertigen. Auf dem Grund der Weltmeere wird die britische Flotte schlummern, nur noch deutsche Schiffe sollen über die Ozeane fahren. Die Herrschaft der Engländer wird auf ihre erbärmlichen Inseln reduziert, ihre Kolonien verleiben wir uns ein. Das zwanzigste Jahrhundert wird ein deutsches Jahrhundert werden!
Noch am selben Abend schreibe ich mich für das Kaiserliche Heer ein, meine Kollegen, meine Freunde tun es mir gleich. Mit einem Lied auf den Lippen verlassen wir unser Vaterland, um es zu beschützen. Ich sage euch, bis Weihnachten sind wir wieder zurück! Das wird ein kurzes Abenteuer. Wir haben 1870/71 mit Leichtigkeit gesiegt, wir werden es wieder tun. Diesmal beenden wir auch, was wir angefangen haben.
So marschiere ich nun nach Frankreich, um die Menschheit zu bekehren, denn: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.