In den letzten zwei Wochen geschahen Dinge, die meine gesamte Glaubenswelt einmal auf den Kopf stellten. Noch immer zittern meine Hände, ich fürchte mich vor dem Einbruch der Nacht, vor dem, was dort im Schutze der pechschwarzen Dunkelheit lauert. Der Nebel vor meinen Augen wurde gelüftet, nun sehe ich die Welt, wie sie wirklich ist, und ich kann nie wieder zu diesem Zustand glücklicher Ignoranz zurückkehren. Dieses Tor ist für immer verschlossen.
Doch der Reihe nach, wie bereits erwähnt, begann alles vor zwei Wochen, als ich nichtsahnend über einen Flohmarkt schlenderte, auf der Suche nach kostbaren Raritäten, die ich für ein Schnäppchen erwerben und in meine Wohnung stellen konnte. Schon seit meiner frühesten Kindheit wurde ich von Relikten der Vergangenheit angezogen, egal ob es sich nun um alte Spieluhren, Taschenuhren, Waffen, Gemälde, Möbel, Bücher oder Küchengeräte handelte. Irgendetwas an diesen stummen Zeugen einer längst vergangenen Zeit faszinierte mich. Ich liebte es, im Antiquitätengeschäft meines Großvaters zu stöbern, der in seinen jungen Tagen ein Abenteurer war und oft von seinen Expeditionen in die deutschen und französischen Kolonien wertvolle Schätze mitbrachte. Nach dem Krieg beschränkte er sich auf Reisen durch Europa, aber auch von dort brachte er sehr interessante Sachen mit nach Hause.
Es war ein sonniger Frühlingstag, doch leider spürte ich die warmen Strahlen nicht, da der Wind eisig blies, also ein ganz normaler Tag mitten im April, ich hörte, dass es später sogar noch regnen solle. Doch davon ließ ich mir nicht die Stimmung vermiesen. Gott sei Dank, hatte ich mich aber warm angezogen, ansonsten wäre ich wahrscheinlich bitterlich erfroren.
Ich betrachtete die vielen verschiedenen Stände, wo Leute, in der Regel waren es Rentner und manchmal Polen und Türken, ihren kostbaren Kram zur Schau stellten. Einer verkaufte Unmengen von Schallplatten aus den 1920er Jahren, ein anderer mittelalterliche Schwerter, die sich bei genauerer Betrachtung aber als plumpe Fälschungen erwiesen und somit nicht meiner Aufmerksamkeit wert waren.
An einem anderen Stand sah ich eine halbe Bibliothek mit Werken von Autoren, die mir auf dem ersten Blick zumindest nichts sagten, doch ihre Namen hatten einen aristokratischen Klang: Clark Ashton Smith, Lord Dunsany, Pierre Drieu la Rochelle, Knut Hamsun, Hubert E. Gilbert, Arthur Machen. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, was diese Menschen schrieben. Auch ein Blick auf ihre Bücher verriet nicht viel, waren es doch entweder braune, in Leder gebundene Exemplare oder ihre Cover völlig nichtssagend.
Am darauffolgenden Tisch entdeckte ich einen wunderschönen Gehstock, handgeschnitzt aus Elfenbein, der Knauf bestand aus Silber und war wie Kaiser Wilhelm I. geformt. Sehr kurios! Aber leider vermochte ich nicht, diesen exquisiten Gegenstand zu kaufen, mein mageres Gehalt reichte einfach nicht aus und der dunkelhaarige Verkäufer ließ nicht mit sich verhandeln. Welch ein Spielverderber! Das gehörte doch zu einem guten Flohmarkt dazu!
Wie dem auch sei, schwierig ist das Los des Studenten der mittelalterlichen Metaphysik, und ich ging weiter. Nach einiger Zeit, es müsste Mittag gewesen sein, kam ich zu dem Stand, wo sich der Gegenstand befand, der mein ganzes Leben verändern würde.
Der Händler verkaufte eine Unzahl von Küchengeräten und Haushaltswaren. Nähmaschinen aus Jugoslawien, Mixer aus den östlichen Provinzen der Sowjetunion, einen Toaster aus Großbritannien, ein Besteck-Set aus dem faschistischen Italien, worauf Bilder von Mussolini eingraviert worden waren. Was aber meine Aufmerksamkeit einfing, war ein originaler, elektrischer, deutscher Kühlschrank aus dem Jahre 1933, ein bisschen mehr als halb so groß wie ich. Wie es der Zufall so wollte, hatte mein eigener vor nicht allzu langer Zeit den Geist aufgegeben, weshalb ich dringend auf der Suche nach einem neuen Kühlschrank war.
Der ältere Herr näherte sich fast unbemerkt von hinten an mich heran und berührte meine Schulter. Ich erschrak, war ich doch tief in Gedanken versunken. Das Aussehen des Mannes irritierte mich auch leicht. Er hatte eine krumme Hakennase, ein paar graue Haarbüschel hingen an seinem Kopf, sein Gesicht war faltig, die Augen tief eingesunken, die Iris hatte eine ungesunde, gelbe Färbung. Seine Zähne waren krumm und schief, sie schienen nicht wirklich in den Kiefer zu passen. Er war wesentlich kleiner als ich und lief gebückt, seine schlichte Kleidung hing fast lose an seinen dürren Körper. Ich schätzte ihn auf ungefähr achtzig Jahre.
Er stellte sich als Rorodlam Daobanad vor und behauptete, er stamme aus Kadath. Damals war mir der Name dieses Ortes unbekannt, ich hielt ihn für eine Provinz im Nahen Osten oder vielleicht sogar in Osteuropa.
»Ich sehe, Sie haben ein Auge auf dieses kostbare Exemplar geworfen. Ja ja, eine Schönheit, nicht wahr?« Seine Stimme klang wie altes Sandpapier und er zischte wie eine Schlange.
»Gewiss, es ist ein beeindruckendes Stück Ingenieurskunst. So etwas wird heutzutage einfach nicht mehr hergestellt«, bedauerte ich.
»Wohl wahr, wohl wahr, junger Mann. Ich muss Ihnen auch sagen, dass dieses kleine Gerät etwas sehr besonderes ist, einzigartig könnte man schon fast sagen. Was behaupte ich da? Diese Maschine ist einzigartig! Nur ein einzelnes Exemplar wurde bis zum heutigen Tage hergestellt!« Er streichelte die eierschalenfarbene Maschine mit seiner knochigen Hand.
»Ach ja?« Ich war mir nicht sicher, ob er mir einen Bären aufbinden wollte, aber meine Neugier, die einem ja immer zu gefährlichen Orten führte, war definitiv geweckt.
»Gewiss, gewiss doch!«, zischte er. »Der Motor stammt aus den Fabriken des fernen Carcosas.«
»Aber es ist doch ein deutsches Gerät oder irre ich mich etwa?«
Seine Augen begannen zu funkeln. »Ja, deutsch. Definitiv. Aber das Herz stammt nicht von hier. Es war keine deutsche Seele, die dieses Technikwunder schuf, auch wenn es sich ebenfalls um eine faustische handelte.« Sein Grinsen wurde breit, ich konnte jeden einzelnen, schiefen Zahn erkennen. Es überraschte mich, dass diese nichtsdestotrotz strahlend weiß und vom Zustand her makellos waren. Das Lächeln, wenn man es denn so nennen konnte, bereitete mir trotzdem eine Gänsehaut.
Ich kam dann zu der Gretchenfrage: »Und was ist der Preis des guten Stücks? Es muss doch sicherlich ein Vermögen kosten.«
Wieder funkelten seine Augen und er kicherte leise. »Junger Herr, da irren Sie sich gewaltig. Wissen Sie, ich schleppe dieses Gerät von Jahr zu Jahr, von Flohmarkt zu Flohmarkt, von Land zu Land, mit mir herum und das schon seit geraumer Zeit, länger als Sie sich denken können. Langsam werde ich alt und mein armer Körper macht das einfach nicht mehr mit. Das ständige Stehen, der eisige Wind, die brennende Sonne, das schwere Tragen, und es wird ja auch nicht leichter, all das zehrt an mir. Ich sehe, Sie haben ein starkes Interesse an dieses Objekt und Sie scheinen mir sympathisch zu sein, deshalb mach ich Ihnen ein Sonderangebot, was Sie unmöglich ablehnen können.«
Damit lag er goldrichtig, der Preis, den er mir nannte, war gut, teuflisch gut, fast schon zu schön, um wahr zu sein. Ich hörte zwar leichte Alarmglocken in meinem Kopf läuten, es musste doch einen Haken geben, aber wie konnte ich zu dem hier ›Nein‹ sagen? Schließlich brauchte ich einen Kühlschrank und dieser hier war einfach perfekt. Seine geringe Größe reichte für meine kleine Wohnung mehr als nur aus. Und es war immerhin ein einzigartiges Objekt, zumindest laut den Behauptungen von Herrn Daobanad. Damals dachte ich, dass das alles nur Verkäufergeschwätz war, aber dann hätte er doch nicht diesen unverschämt niedrigen Preis genannt … Fast so, als hätte er ihn loswerden wollen.
Ich öffnete den kleinen Kühlschrank und warf einen prüfenden Blick hinein. Im Inneren war er komplett sauber, nicht ein einziger Rost- oder Schimmelfleck war zu erkennen. Der untere Bereich war durch vier Gitter geteilt, die man einzeln herausnehmen konnte, ähnlich wie bei einem Herd. Im oberen Bereich befand sich ein kleines Gefrierfach. Interessanterweise fand ich nirgendwo den Namen der Firma, die das Gerät fabriziert hatte. Ich las nur das Herstellungsjahr: 1933 sowie den Herstellungsort: Deutschland … und Carcosa.
Die Außenhülle des Kühlschranks bestand aus weißem Holz unbestimmter Art, das sich sehr glatt anfühlte. Ich kann es bis heute nicht wirklich beschreiben, aber es war wie ein … Ei, wenn das in irgendeiner Weise der Sache näherbringt.
Das Gerät stand auf vier ›Füßen‹, die wie die Pfoten eines Hundes geformt waren. Wer hätte gedacht, dass solch eine moderne Maschine mit solch archaischen Details bestückt war.
»Und? Was sagen Sie, werter Herr?«, die Stimme des Verkäufers riss mich aus meiner Gedankenwelt. Ich blinzelte, es war, als wäre ich für einen Moment in einen Traum abgetaucht gewesen.
»Sie haben mich überzeugt!«, sagte ich mit einer Stimme, die in meinen Ohren fremd klang. »Ich kaufe den Kühlschrank!«
»Gut, sehr gut.« Er reichte mir seine Hand und ich schlug ein, sein Griff war fester und kräftiger, als ich erwartet hatte.
Nach einigen Augenblicken, in denen er mich mit seinen gelben Augen fixierte, ließ ich seine Hand, die sich wie Pergament anfühlte, los und bezahlte seinen geforderten Preis. Er nahm das Geld, steckte es unachtsam in seine Hosentasche, kicherte vor sich hin, als hätte er einen Witz gehört, den nur er verstehen würde, und verschwand dann in sein Zelt, das sich neben seinen Verkaufsstand befand.
Nun bestand nur noch das Problem der Transportation. Wie bekomme ich das schwere Teil von A nach B beziehungsweise vom Flohmarkt zu meiner Wohnung? Ich verließ also den Flohmarkt, mittlerweile verdunkelte sich der Himmel, die Vorhersage, dass es nachher noch regnen sollte, traf demnach zu, weshalb ich mich definitiv beeilen und das ganze Vorhaben so schnell wie möglich hinter mich bringen wollte. Wie dem auch sei, ich ging zu einer Telefonzelle, die sich am Rande des Flohmarkts befand, ihr Inneres stank nach Urin, anscheinend wurde sie des Öfteren als öffentliche Toilette benutzt.
Ich rief einen meiner guten Freunde an, der tatsächlich über ein größeres Auto und eine Sackkarre verfügte. Zufälligerweise hatte er sogar Zeit, er wäre innerhalb von fünfzehn bis zwanzig Minuten am vereinbarten Standort. Das ließ mir noch eine gewisse Zeit, um über den Flohmarkt zu schlendern und vielleicht noch die eine oder andere Kostbarkeit zu erwerben. Doch leider war meine Suche nicht fruchtbar, viele der angebotenen Gegenstände waren nichts weiter als Ramsch … oder weit über meinem Budget. Da war dieses eine Gemälde von Friedrich II., welches perfekt für mein Schlafzimmer gewesen wäre, doch der Händler verlangte mein letztes Hemd dafür! Sehr schade, es hätte zu meiner Büste von Friedrich Wilhelm I. gepasst, aber wir können nicht alles im Leben haben.
Bald kam auch schon mein guter Freund und wir luden gemeinsam den unerwarteterweise schweren Kühlschrank in seinen Transporter. Ich setzte mich nach vorn, schnallte mich an und wir fuhren, nach einem sehr holprigen Start, das Auto war nicht mehr das jüngste, los. Ich kannte den jungen Mann von der hiesigen Universität, er studierte dort Orthodoxe Theologie, seine Familie stammt aus einer russischen Gemeinde, die auf dem Höhepunkt von Stalins Paranoia aus der Sowjetunion floh, da sie fürchtete, dass es den Orthodoxen bald ebenfalls an den Kragen gehen würde.
Wir erreichten meine Wohnung in der Altstadt, ein ruhiger Ort, fernab vom Trubel und Lärm, abgesehen von den Horden von Touristen, die in den warmen Sommermonaten die Straßen fluteten und ihren Dreck hinterließen.
Gemeinsam brachten wir den schweren Kühlschrank nach oben in den vierten Stock, kein leichtes Unterfangen, war doch das Treppenhaus eng und verwinkelt. Mehrere Male mussten wir auch stehenbleiben, um uns auszuruhen. Oft hatte ich das Gefühl, als würde der Kühlschrank mir gleich aus der Hand rutschen, als würde er wackeln und sich wehren.
Ich schloss die Tür zu meiner bescheidenen Wohnung auf und wir stellten das Gerät in mein Wohnzimmer, normalerweise stehen Kühlschränke ja eigentlich in der Küche, doch diese ist bei mir eher von kleinerer, schmalerer Natur. Wir brachten ihn also in mein Wohnzimmer, wo er perfekt reinpasste, zwischen meinen vielen Büchern über Gnostizismus und Waldwichtel, zwischen den Büsten und Gemälden, die ich über die Jahre angefertigt habe.
Mein Freund streckte seinen angestrengten Rücken durch und schloss dann den Kühlschrank an einer verfügbaren Steckdose an. Mit einem lauten Brummen erwachte die Maschine zum Leben. Und ab diesen Zeitpunkt begann mein Ärger.
Wir entschieden uns, noch den Abend miteinander zu verbringen. Ich kaufte ein paar Biere im Laden die Straße runter und stellte sie in den neuen Kühlschrank. Bier genießt man bekanntlich kalt, warm schmeckt es einfach nicht. Das ist einfach ein Fakt.
Ich setzte mich auf die kleine, grüne Ledercouch, die mir meine Mutter mitgegeben hat, mein Freund hatte es sich bereits bequem gemacht und betrachtete meine Bibliothek, die eine gehörige Portion des Raumes einnahm. Besonders fixiert war sein Blick auf ein altes, verstaubtes Buch: ›Malleus maleficarum‹, der ›Hexenhammer‹ von Heinrich Kramer. Ein seltenes Werk, was man nicht überall bekommt. Ich musste dafür so einige Flohmärkte und Antiquitätenläden durchstöbern, bis ich es endlich fand.
»Da ich das Büchlein gerade sehe, könnte ich es mir eventuell mal ausleihen?«, fragte er. »Ich schreibe momentan eine Hausarbeit über Hexenverfolgungen und in welchem Verhältnis sie zur kirchlichen Lehre standen. Da kommt mir der ›Hexenhammer‹ gerade recht. Unsere Uni-Bibliothek scheint ihn nicht im Bestand zu haben … oder vielleicht wollen sie ihn auch einfach nicht herausrücken, du weißt ja, manchmal sind sie etwas eigensinnig.«
»Ja ja, ich weiß, was du meinst. Ich brauchte mal für meine Arbeit Ludwig Prinns ›De Vermis Mysteriis‹. Und ich war durchaus sicher, dass unsere Bibliothek dieses Werk besaß, denn ich hatte es im Regal gesehen, doch als ich wiederkam, um es auszuleihen, war es nicht mehr da. Ich fragte die Bibliothekarin, vielleicht kennst du sie ja, die mit den brünetten Haaren und den strengen Zopf, sie sagte mir, dass sie das gewünschte Buch nicht im Bestand haben. Genau genommen hatte sie noch nie von diesem Werk gehört. Sie kannte weder den Titel noch den Autor. Ich erklärte ihr, dass Ludwig Prinn einer der berühmtesten deutschen Alchemisten sei und das jede Bibliothek, die etwas auf sich hält, seine Werke zur Verfügung stellen sollte. Sie hat einfach nur mit den Schultern gezuckt! Kannst du dir das vorstellen? Ich fragte sie, ob sie das Werk vielleicht unter seinen deutschen Titel kenne: ›Die Geheimnisse des Wurms‹. Oder ob vielleicht die englische Übersetzung, ›Mysteries of the Worm‹, verfügbar sei. Da bekam ich auch nur Kopfschütteln und genervtes Augenrollen als Antwort!«
»Und was hast du dann gemacht?«
»Ich hab mich mit Friedrich Wilhelm Conrad von Junzt ›Unaussprechlichen Kulten‹ begnügt. Nicht unbedingt das, was ich wollte, und ein weitaus minderwertigeres Buch, aber ich nahm, was ich kriegen konnte. Wie dem auch sei, irgendwie sind wir jetzt abgeschweift. Um auf deine Ausgangsfrage zurückzukommen: Selbstverständlich kannst du dir den ›Hexenhammer‹ ausleihen, vorausgesetzt du gehst damit pfleglich um! Es hat mir einige Mühen gekostet, das Buch zu erhalten. Es war auch nicht billig!«
»Keine Sorge«, versicherte er mir. »Ich verspreche dir, ich werde vorsichtig damit umgehen. Ich weiß ja, wie sehr du deine Bücher schätzt.«
Als er zum Regal ging, um sich das Werk zu nehmen, begann der Kühlschrank plötzlich zu rattern, zu stottern und knirschende Geräusche von sich zu geben. Mein Freund hielt inne und schaute zum neuerworbenen Gerät rüber.
»Oha, das klingt gar nicht gut. Stimmt etwas mit dem Motor nicht?«
Ich stand auf und betrachtete den Kühlschrank, schaute, ob hinten alles in Ordnung war, konnte aber auch nichts erkennen. Ich haute einmal gegen und das Rattern hörte sofort auf.
»Wer weiß, das gute Stück ist ja auch schon ein paar Jahrzehnte alt … Was sagst du, wollen wir uns endlich ein Bier gönnen?«
»Dazu sage ich nicht nein.«
Ich öffnete die Tür und holte das Bier heraus, doch als meine Finger die dunkelbraune Flasche berührten, hielt ich irritiert inne. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Sehr seltsam«, sagte ich laut zu mir selbst.
Mein Freund schaute mich ebenfalls irritiert an. »Was denn?«, fragte er.
»Das Innere des Kühlschranks ist kalt, aber das Bier ist genauso warm wie zuvor. Ich würde sogar sagen, dass es ein wenig wärmer geworden ist.«
»Ach, das kann doch gar nicht sein«, entgegnete er selbstsicher und schnappte sich ebenfalls eine Flasche. »Oh, du hast recht. Richtig lauwarm. Merkwürdig …«
»Vielleicht habe ich etwas falsch eingestellt, aber das kann nicht sein … das Innere ist kalt, so wie es sein sollte.«
Der Kommilitone beugte sich zu mir über. »Lass mich mal gucken.« Er steckte seinen Kopf hinein und schaute sich um, wahrscheinlich hoffte er, einen geheimen Schalter oder dergleichen zu finden. Plötzlich begann der Kühlschrank zu rattern, doch diesmal wackelte, vibrierte er gar. Erschrocken zog mein Gast den Kopf raus, dabei haute er sich ihn an der Kante an. Er stieß einen Schmerzlaut aus und rieb sich dann den Schädel.
»Was für ein doofes Missgeschick«, zischte er durch zusammengepresste Zähne.
Der Kühlschrank hörte währenddessen mit seinen Macken wieder auf.
»Wirklich seltsam«, sagte ich. »Aber dann müssen wir uns wohl mit warmem Bier begnügen.«
»Ohne mich«, der junge Student verzog angewidert das Gesicht. »Da trink ich lieber aus einer Pfütze … oder einer Toilettenschüssel. Außerdem ist mir die Lust vergangen, ich bekomme gerade üble Kopfschmerzen. Hab mich wohl schlimmer gestoßen, als ich vermutet habe.«
»Na denn, das muss der Abend wohl beendet werden. Sehr schade.« Ich hatte mich eigentlich schon darauf gefreut.
»Wir wiederholen das, keine Sorge. Ich werde jetzt erstmal nach Hause gehen, muss mich ein wenig ausruhen.«
»Mach das, und vielen Dank für deine Hilfe heute.«
»Keine Ursache, mach ich doch gern.«
Ich brachte ihn zur Tür und wir verabschiedeten uns. Später am Abend als ich alleine auf der Couch saß und genüsslich in Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹ blätterte, bemerkte ich, dass mein Freund vergessen hatte, den ›Hexenhammer‹ mitzunehmen, der alte Schusselkopf. Ich entschied mich, da es ja doch schon recht spät war, ihm das Buch am nächsten Tag vorbeizubringen, das war ich ihm für seine Hilfe mehr als nur schuldig. Während ich so darüber nachdachte und plante, sprang mein schwarzer Kater Sambubu mir auf dem Schoß und verlangte seine Streicheleinheiten, die ich ihm selbstverständlich auch gab. Die Erinnerung schmerzt noch immer.
Am nächsten Tag ging ich wie versprochen zu der Wohnung meines guten Freundes, die ein Spaziergang von ungefähr fünfundzwanzig Minuten von meinem Zuhause entfernt lag, der ›Hexenhammer‹ klemmte währenddessen unter meinem Arm. Ich pfiff ein fröhliches Lied, doch als ich ankam, bot sich mir ein furchtbarer Anblick an und die Melodie verstarb auf meinen Lippen.
Vor der Wohnung stand ein Krankenwagen mit blau-leuchtenden Signalen, zwei Sanitäter schoben eine Trage aus dem Haus, darauf lag, ich konnte es klar erkennen, mein Freund. Ich rannte los, beinahe verlor ich den ›Hexenhammer‹, aber in diesem Moment wäre es mir sogar egal gewesen. Ich sprach die beiden Sanitäter an, fragte, was los sei. Sie schauten mich zuerst irritiert an, wollten wissen, wer ich bin und was ich mit dem Mann zu tun habe. Ich erklärte es ihnen mit aufgeregter Stimme. In diesem Moment sprach ich wohl ohne Punkt und Komma, der eine Notarzt legte seine Hand auf meine Schulter, während der andere meinen Freund in den Krankenwagen schob, und versuchte mich erst einmal zu beruhigen.
Er hatte ein freundliches, rundes Gesicht mit stoppeligen Barthaaren. Es erinnerte mich an meinen Vater, das half vielleicht.
Der Mann sagte mir, dass mein Freund heute Morgen von seiner Lebensgefährtin gefunden wurde. Er soll bewusstlos im Bad gelegen haben. Noch konnten sie nicht wirklich feststellen, was genau passiert war, aber die im Krankenhaus werden es schon herausfinden. Momentan befinde er sich in einem kritischen Zustand, sein Puls und seine Atemfrequenz seien sehr schwach.
Der Sanitäter verabschiedete sich, nannte mir noch das Krankenhaus, und sprang dann in den Wagen, der mit plärrenden Sirenen davonjagte.
Die schlechten Nachrichten rissen an diesem Tag nicht ab, kurze Zeit später er fuhr ich, ich war schon auf dem Weg zum Krankenhaus, dass mein Freund auf der Fahrt verstorben sei. Sie fanden heraus, dass es wegen einer starken Hirnblutung war, vermutlich aufgrund eines Sturzes. Jemand teilte mir irgendwann mit, dass bei der Obduktion sich herausstellte, dass sein gesamtes Gehirn förmlich geplatzt sei. Damals konnte ich mit dieser Information nichts anfangen, doch jetzt ergibt das Sinn.
Am Abend kehrte ich in meine Wohnung zurück, ich hatte noch ein langes Gespräch mit seinen Eltern geführt, die verständlicherweise völlig schockiert waren. Ich bemerkte, dass es drinnen unangenehm kalt war, obwohl es den ganzen Tag eigentlich warm war. Zuerst begab ich mich ins Wohnzimmer, der Kühlschrank ratterte wieder, doch das bemerkte ich nur nebenbei, ich war auf die Heizung fixiert, die ich sofort auf Stufe vier hochdrehte. Nach einer gewissen Zeit wurde es dann auch endlich wieder etwas wärmer. Ich setzte mich auf meine Couch, völlig erschlagen, mit der Welt fertig, die Nerven lagen blank und ich gab mich meinen Gefühlen hin. Sambubu schlich sich auf leisen Pfoten an und versuchte, mich zu trösten, ich nahm ihn feste in den Arm, drückte ihn an mich und weinte bittere Tränen in sein schwarzes Fell. Erstaunlicherweise ließ er die Tortur über sich ergehen.
Der Kühlschrank ratterte daraufhin noch stärker, noch lauter. Ein heißglühender Zorn kroch in mir hoch, ich stand kurz davor, den Stecker aus der Steckdose zu reißen, doch ich besann mich wieder. Warum sollte ich auch auf ein Stück aus Holz, Plastik und Metall wütend sein? Was konnte es für meine Lage?
Am nächsten Tag ging alles wieder seinen mehr oder wenigen gewohnten Tag, das Leben lief ohne Ausnahme weiter, es machte keine Pause, legte keinen Zwischenstopp für Tragödien ein. Ich begab mich den örtlichen Gemischtwarenladen, schließlich wollte ich endlich den Kühlschrank befüllen, obwohl mich das ungekühlte Bier noch immer irritierte. Ich machte eine mentale Notiz, dass ich die Sache mal von einem handwerklichen Fachmann begutachten lassen würde. Ich kaufte nur ein paar Kleinigkeiten: etwas Brot, Frischkäse, Scheibenkäse, eine Gurke, Tomaten, Schinken, ein Glas Milch und tatsächlich Eiscreme, weil ich darauf Appetit hatte.
Zurück in der Wohnung öffnete ich den Kühlschrank, woraufhin Sambubu anfing, fürchterlich zu fauchen, seine Rückenhaare stellten sich auf, er spuckte sogar, so etwas hatte ich noch nie bei ihm erlebt. Normalerweise war er ein sehr friedlicher Kater, der nicht einmal eine Maus töten konnte.
Ich stellte die Lebensmittel schnell in den Kühlschrank und sobald die Tür zu war, verstummte das Fauchen schlagartig. Ich fand das durchaus merkwürdig, doch dachte ich mir nichts Näheres dabei. Kann man mir es verübeln? Ich war definitiv mit anderen Dingen zu diesem Zeitpunkt beschäftigt … Währenddessen ratterte und stotterte der Kühlschrank, als würde er lachen, als würde er vor sich hin kichern.
Da ich mich sehr ausgelaugt an dem Tag fühlte, ging ich früh zu Bett, doch dort fand ich keine Ruhe. Üble Nachtmahre suchten mich heim, verloren und einsam stolperte ich über eine antarktische Landschaft, über wie unter mir nur weißes Nichts, der eisige Wind zerrte an meine dünnen Klamotten, die bei genauerer Betrachtung nur übergeworfene Lumpen waren. Noch nie habe ich in einem Traum solch eine Kälte verspürt, sie fühlte sich so echt an. Was wäre gewesen, wenn ich nicht rechtzeitig aufgewacht wäre? Wäre ich dann jämmerlich erfroren? Hätte man meine Leiche am nächsten Tag (oder in den nächsten Wochen) steif und blau angelaufen gefunden? Allein der Gedanke lässt mich erschaudern, selbst jetzt noch. Die Kälte hatte sich wie ein Eiszapfen in mein Gedächtnis gebohrt.
Wie Viktor Frankenstein wanderte ich durch die Eiswüste, in der Ferne sah ich einen hohen Turm, das musste wohl mein Ziel gewesen sein. Nach einiger Zeit stand ich vor ihm, die Spitze ragte in den weißen Himmel, das Ende konnte ich gar nicht mehr erkennen. Ein großes Tor öffnete sich plötzlich, blutrotes Licht überflutete mich. Große, klauenartige Hände umklammerten den Rand des Eingangs, etwas streckte seinen hässlichen Kopf nach draußen. Ich sah nicht völlig, was dort aus dem Turm hinauskroch, denn ich wachte schreiend auf, doch es hinterließ in mir ein Gefühl von schauriger Blasphemie.
Ich starrte in die Finsternis meines Zimmers, Sambubu schlummerte tief neben mir, der Aufruhr schien ihm gar nicht gestört zu haben. Manchmal wünsche ich mir die stoische Ruhe von Katzen. Der Raum war bitterkalt, mein Atem bildete kleine Wolken in der Luft. In der Ferne glaubte ich, das schwere Dröhnen und Klackern des Kühlschranks zu hören, es war lauter als sonst. In diesem Moment hielt ich das aber schlichtweg für eine auditive Halluzination, die mein verängstigtes Gehirn produzierte. Schweißüberströmt schlief ich mit Schwierigkeiten wieder ein.
Am nächsten Morgen wachte ich völlig erschöpft auf, mein Kopf dröhnte wie ein Flugzeugmotor. Mit schlaftrunkenen Augen schwankte ich zum Kühlschrank, riss die Tür auf und schnappte mir das Glas Milch, was ich am vorherigen Tag gekauft hatte. Genüsslich legte ich die Flasche an meine Lippen in freudiger Erwartung an eine kühle Erfrischung, doch sobald die Milch in meinen Mund strömte, spuckte ich sie augenblicklich wieder aus. Sie schmeckte ranzig, verdorben, sauer. Kurzgesagt: ungenießbar.
Es wunderte mich, hatte ich sie doch erst kürzlich gekauft, da konnte sie doch nicht so schnell schlecht werden. Ich schaute mir die anderen Lebensmittel ebenfalls an, die Situation war nicht besser. Die Gurke und die Tomate waren von schwarzem Schimmel überzogen, ich konnte das Gemüse (oder Obst?) gar nicht mehr erkennen, es war nur ein pelziges Etwas zu sehen. Auf dem Scheiben- und Frischkäse befanden sich ebenfalls grüne Schimmelflecken. Der Schinken war seltsamerweise nicht mehr auffindbar.
Ich öffnete das Gefrierfach, nur um dort eine geschmolzene Eiscreme vorzufinden, die einen ranzigen, ekelhaften Geruch verströmte, der meinen Magen umdrehen ließ.
Angewidert schmiss ich alles in den Mülleimer, der Appetit war mir gehörig vergangen. Mit einem entnervten und müden Seufzen nahm ich mir einen Lappen und einen Eimer Wasser und wischte den Kühlschrank sauber, der wieder anfing, laut zu rattern. Wütend schlug ich gegen ihn, doch das sorgte nur für eine schmerzende Hand. Das Dröhnen wurde lauter, schwoll ab und an wie eine Sirene. In diesem Moment war ich wirklich überzeugt davon, dass das Teil mich auslachte.
Ich hatte genug an diesem schrecklichen Morgen und entschied, spazieren zu gehen, um den Kopf wieder klarzukriegen. Ich schnappte meinen Mantel, streichelte noch zum Abschied Sambubu, der mich mit großen grünen Augen anguckte, und verließ die Wohnung.
In Gedanken ließ ich die letzten Tage Revue passieren. Welch tragische Wendung mein Leben doch nahm! Alles seit ich diesen Kühlschrank mein Eigen nannte, als würde auf dieser dummen Maschine ein grässlicher Fluch liegen, der mich nun heimsuchte. Wie nah ich doch der Lösung damals kam …
Während ich durch die Altstadt lief, ließ mich irgendwie das Gefühl nicht los, als wäre mir kalt, obwohl doch die Sonne schien und es schön warm war, als hätte eine düstere Kälte Besitz von mir ergriffen. Ständig drehte ich mich um, eine unerklärliche Angst packte mich, dass ich verfolgt werden würde, dass da ein böser Schatten hinter den dunklen Ecken der Gassen lauere.
Ich schaute auf meine dünnen Hände und erschrak! Nicht nur waren sie blass, sie wiesen an einigen Stellen blau-lila Flecken auf. Die Kälte, die mir anscheinend in die Knochen gekrochen war, schien nicht nur psychologischer, sondern auch physischer Natur zu sein. Ich eilte wieder zurück nach Hause, ich fühlte mich nicht mehr sicher draußen, ich fühlte mich verfolgt, doch im Nachhinein betrachtet, lockte etwas mich wieder zurück, meine Rückkehr war nicht gänzlich freiwillig.
Der kalte Schlüssel öffnete die hölzerne Tür und ich trat in meine Wohnung, die mich frostig begrüßte. Mein Atem bildete weiße Wolken, die Fenster waren beschlagen; weiße, kristalline Flecken wuchsen an den Glasscheiben, ein leichter Nebel kroch niedrig über dem Boden, er schien aus dem Wohnzimmer zu kommen. Ich wollte nicht dorthin, ich wollte mir nicht ansehen, was mich dort erwartete. Ich wollte es einfach nicht sehen, nicht wahrhaben.
Angsterstarrt stand ich im Flur, unfähig mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Die Tür hinter mir fiel von selbst zu und ohne nachzusehen, wusste ich, dass ich sie in diesem Moment nicht öffnen konnte. Etwas wollte, dass ich blieb, dass ich Zeuge wurde. Eine unbekannte Kraft begann an meinen Beinen zu zerren, ließ sie einen Schritt nach dem anderen machen. Mit blankem Entsetzen schaute ich auf meine Extremitäten herab, die sich gegen meinen Willen fortbewegten. Es war, als würde ich einen Kinofilm in meinem Kopf schauen, ohne Möglichkeit aufzustehen und schleunigst zu verschwinden.
Mein Körper brachte mich in das Wohnzimmer, wo es am kältesten war. Ich zitterte am ganzen Leib und sah mit Schrecken, dass die Tür des Kühlschranks sperrangelweit auf stand. Wie schaurige Knochenhände kroch der Nebel heraus, betastete den Boden und hinterließ einen feuchten Glanz auf dem Laminat. Das Brummen und Dröhnen der Maschine war tiefer als üblich, es klang wie kehliges Lachen aus einem bodenlosen, schwarzen Abgrund.
Im Kühlschrank lag etwas … Es war der zerstückelte, angebissene, halberfrorene Körper von Sambubu, seine leblosen Augen, nun vollkommen weiß, starrten mich flehend an. Ich sank auf die Knie, ich hörte meinen Herzschlag in den Ohren, alles fühlte sich taub an, die Zeit schien langsamer zu laufen. Ich weiß nicht, ob es eine Halluzination war, ab diesem Punkt bin ich mir über gar nichts mehr sicher, aber ich hatte das Gefühl, als würde sich der Raum ausdehnen und wieder zusammenziehen, als würde mein Blick in den offenen Kühlschrank gezogen werden.
Nein, es war nicht nur mein Blick … es war mein gesamter Körper, der wie durch einen Magneten angezogen wurde. Ich kroch nämlich langsam auf das Gerät zu, die Rückwand fehlte, wenn sie denn überhaupt je dagewesen war, dahinter befand sich nur strahlend weißes Licht, von dort kroch auch der Nebel raus. Ich erinnerte mich wieder an meinen Traum, an diese endlose Eiswüste. Das würde mich sicherlich dort erwarten, sollte ich dieser Höllenmaschine zu nahe kommen.
Wie durch ein Wunder schaffte ich es, mich für einen kurzen Moment aus dem Bann zu lösen, ich schnappte mir ein schweres Buch aus dem Regal und schleuderte es blindlings in den Schlund des Kühlschrankes hinein. Die Tür schloss sich augenblicklich und alles wurde normal, ich hatte wieder die Kontrolle über meinen Körper, der Nebel und die Kälte hatten sich verzogen. Es war, als wär ich aus einem üblen Traum erwacht.
Ich verschwendete nicht eine einzelne Sekunde, sondern verließ sofort meine Wohnung. Ich ging zu dem einzigen Ort, von dem ich wusste, dass er mir Hilfe geben konnte.
Fernab des lauten Trubels in der Stadt befand sich die St. Tryphonkirche, eine der wenigen katholischen Kirchen, wenn nicht sogar die einzige, in der Gegend. Es war eine sehr alte, frühgotische Kirche, erbaut im Jahre 1199. Während des Dreißigjährigen Krieges versuchten schwedische Soldaten das Gebäude niederzubrennen, doch ein plötzlich eintretender Regenschauer verhinderte einen Brand. Im Zweiten Weltkrieg, als die Stadt unter einem Bombenhagel litt, war die Kirche eines der wenigen Bauwerke, die noch unbeschadet standen, so konnte hunderten von Menschen das Leben gerettet werden.
Ich öffnete die großen, schweren Türen und trat hinein, die Kirche war leer. Touristen verirrten sich selten in diese Gegend, auch wenn es sich durchaus lohnen würde, und die katholische Gemeinde war quasi nichtexistent. Ein Priester im religiösen Gewand kniete vor dem Altar und betete leise. Ich begab mich zu ihm, auf halben Weg stand er auf und wandte sich mir zu. Sein Gesicht und seine Augen waren sanft, er war bereits ein älterer Herr, der wahrscheinlich auf die Sechzig zu ging.
Ich schilderte ihm mein Problem. Zuerst dachte ich, dass er mich für wahnsinnig halten würde, für einen Spinner, der zu viele Horrorfilme geschaut hat, er würde mich beschimpfen und hinausjagen, doch nichts dergleichen geschah, stattdessen legte er seine kräftige Hand auf meine Schulter und sprach im freundlichen Ton: »Mein Sohn, ich weiß nicht, ob ich der Richtige für diese Aufgabe bin. Eigentlich müsste ich dem Diözesanbischof um Erlaubnis bitten. Wahrscheinlich müsste ich sogar den Heiligen Stuhl kontaktieren, der dann jemanden schickt. Aber wie du diesen Fall beschreibst … scheint die Zeit zu drängen. Es müssen wohl die Formalia übersprungen werden … Gib mir nur einen Moment, ich hole meine Sachen, dann können wir los.«
Er verschwand in einem kleinen Raum und kam nach wenigen Augenblicken wieder, in seiner Hand hielt er eine kleine Flasche, eine Bibel und ein Kreuz. Er nickte mir zu, wir begaben uns dann zu meiner Wohnung.
Als wir vor der Tür standen, spürte ich bereits die Kälte. Der Priester schaute mich an und sagte mit einem Lächeln: »Mein Kind, ich muss zugeben, das ist schon ein wenig aufregend. Ich habe noch nie so etwas gemacht … ich war vor vielen Jahren mal bei einem Exorzismus dabei, das werde ich nie vergessen. Davor dachte ich immer, das sei ein Mythos, eine Legende, nichts als bäuerlicher Aberglaube … aber wenn du siehst, wie ein junges Mädel die Decke hoch krabbelt und Dinge sagt, die es unmöglich wissen kann, dann …«, er beendete den Satz nicht, sondern trat in die Wohnung hinein.
Alles war neblig, die Kälte war unerträglich. Wir beide zitterten am gesamten Körper. Ich führte den Priester in das Wohnzimmer, wo der Kühlschrank uns bereits erwartete. Er wackelte leicht, das Rattern und Dröhnen war deutlich zu hören. Die Fenster waren zugefroren, Eiszapfen hingen von der Decke.
Der Priester kniff die Lippen zusammen. »Ja, das ist eindeutig.«
Er holte sein Kreuz heraus und näherte sich langsam dem Gerät. Es begann sich daraufhin heftig zu schütteln. Ich hielt es für das Beste, einen gewissen Abstand zum Geschehen einzunehmen.
Zuerst fing er mit einem stillen Vorbereitungsgebet an, dann bekreuzigte er sich, woraufhin der Kühlschrank zu fauchen schien, begrüßte das Gerät und besprengte es mit ein wenig Weihwasser. Die Tropfen zischten, als sie auf das weiße Holz landeten. Dann begann er mit der Litanei, dem Psalmgebet und der Evangelienlesung. Er legte seine Hand auf den Kühlschrank, das Dröhnen schwoll gefährlich an. Ich hatte das Gefühl, dass der Motor gleich explodieren würde, doch der Priester ließ sich davon nicht beirren. Er machte einfach weiter: das Glaubensbekenntnis, das Gebet des Herrn, wieder das Kreuzzeichen und zum Schluss eine Anhauchung. Dem Kühlschrank gefiel das überhaupt nicht, er wackelte und klapperte, seine hundeartigen Füße schienen sich in das Laminat zu krallen.
Dann sagte der Priester mit ruhiger Stimme die deprekative Formel auf: »Gott, du Schöpfer und Verteidiger des Menschengeschlechtes, schaue auf diesen deinen Diener, den du nach deinem Bild geformt hast und zur Teilhabe an deiner Herrlichkeit berufst: Der alte Feind quält ihn grausam, er unterdrückt ihn mit roher Gewalt, er verwirrt ihn mit furchtbarem Schrecken. Sende über ihn deinen Heiligen Geist: Er mache ihn stark im Kampf, lehre ihn beten in der Bedrängnis und wappne ihn mit seinem machtvollen Schutz.«
Der Kühlschrank schrie auf, etwas, was ich nicht für möglich hielt. Es war ein markerschütternder Schrei, es klang nach Verzweiflung, Angst … und vielleicht auch Schmerzen.
»Erhöre, Heiliger Vater, das Seufzen und Flehen der Kirche: Lass nicht zu, dass dein Sohn vom Vater der Lüge besessen wird; dass dein Diener, den Christus mit seinem Blut losgekauft hat, in der Gefangenschaft des Teufels festgehalten wird; dass der Tempel deines Geistes von einem unreinen Geist bewohnt wird.«
Die Tür im Wohnzimmer knallte zu, der gesamte Raum schien wie bei einem Erdbeben zu wackeln.
»Erhöre, barmherziger Gott, die Bitten der seligen Jungfrau Maria, deren Sohn, sterbend am Kreuze, das Haupt der alten Schlange zertreten und alle Menschen derselben Mutter als Kinder anvertraut hat: Das Licht der Wahrheit leuchte in diesem deinem Diener auf, die Freude des Friedens halte Einzug in ihm, der Geist der Heiligkeit nehme ihn in Besitz und mache ihn durch seine Einwohnung wieder heiter und rein.«
Der Kühlschrank riss eigenhändig seine Tür auf, weißes grelles Licht überströmte uns, blendete uns, der Priester ging ein paar Schritte zurück, doch fuhr unbekümmert fort.
»Erhöre, Herr, die Bitte des heiligen Erzengels Michael und aller Engel, die dir dienen: Gott der Mächte, wehre ab die Gewalt des Teufels; Gott der Wahrheit und der Huld, halte seine hinterhältigen Nachstellungen ab; Gott der Freiheit und der Gnade, löse die Fesseln der Bosheit.«
Ein weiterer Schrei ertönte, diesmal viel lauter und boshafter.
»Erhöre, Gott, der du das Heil der Menschen liebst, das Gebet deiner Apostel Petrus und Paulus und aller Heiligen, die mit deiner Gnade den Bösen besiegt haben: befreie diesen deinen Diener von aller feindlichen Gewalt und bewahre ihn unversehrt, damit er – neu befähigt zu ungestörter Hingabe – dich von Herzen liebe und dir in Werken diene, dich verherrliche mit Lob und dich preise mit seinem Leben. Durch Christus, unseren Herrn.«
Der Priester stand kerzengerade vor dem Kühlschrank und richtete sein goldenes Kreuz auf ihn.
Voller Überzeugung rief er: »Ich beschwöre dich, Satan, Feind des menschlichen Heils, erkenne an die Gerechtigkeit und Güte Gottes, des Vaters, der deinen Hochmut und deinen Neid durch gerechtes Urteil verdammt hat: Weiche von diesem Diener Gottes, den der Herr nach seinem Bild geschaffen, mit seinen Gaben ausgestattet und als Sohn seiner Barmherzigkeit angenommen hat.«
Eisige Winde strömten hinaus, kalte Blitze zuckten. Das Gewand des Priesters flatterte.
»Ich beschwöre dich, Satan, Herrscher dieser Welt, erkenne an die Macht und die Kraft Jesu Christi, der dich in der Wüste besiegt, dich im Garten überwunden, dir am Kreuz deine Beute entrissen und bei seiner Auferstehung aus dem Grab deine Siegeszeichen in das Reich des Lichtes geführt hat: Weiche von diesem Geschöpf, das er sich durch seine Geburt zum Bruder gemacht und sterbend zum Eigentum erworben hat mit seinem Blut.«
Der Priester öffnete seinen Mund, doch nichts kam hinaus … er strauchelte, ihm schienen die letzten Worte entfallen zu sein. Ich sah seinen Gesichtsausdruck nicht, doch ich kann mir vorstellen, dass seine Augen sich in diesem Moment vor Entsetzen weiteten. Der Kühlschrank lachte, wobei … es war eher die Kreatur, die darin hauste.
Mit Schrecken musste ich mitansehen, wie sich lange, knochendünne, schneeweiße Finger langsam aus dem grellen Licht hinausschoben und den Rand des Kühlschranks mit solch einer Kraft packten, dass das Holz splitterte. Dann erschien der Kopf … Ich blickte in das Gesicht einer kalten Blasphemie. Eisige Winde begleiteten den Dämon. Unfähig irgendetwas zu machen, sank ich einfach auf die Knie und wimmerte vor Angst.
Der Priester umklammerte fest sein Kreuz, er fasste sich wieder. Er trat vor das Ungeheuer, das ihn mit den klarsten blauen Augen anstarrte, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Es schrie ihn an. Doch der alte Mann ließ sich nicht einschüchtern, er atmete tief ein und aus und beendete die imperative Formel.
»Ich beschwöre dich, Satan, Betrüger des Menschengeschlechtes, erkenne an den Geist der Wahrheit und der Gnade, der deine Nachstellungen abwehrt und deine Lügen zuschanden macht: Fahr aus von diesen Ort, den Gott gebildet und selber mit dem himmlischen Siegel bezeichnet hat; weiche von diesem Ort, den Gott durch die Salbung mit dem Geist zu einem heiligen Tempel erbaut hat.«
Den letzten Part schrie er der weißen Kreatur förmlich entgegen: »Weiche also, Satan, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes; weiche durch den Glauben und das Gebet der Kirche; weiche durch das Zeichen des heiligen Kreuzes Jesu Christi, unseres Herrn, der lebt und herrscht in alle Ewigkeit!«
Die teuflische Kreatur brüllte vor Schmerzen, plötzlich wurde sie wieder in den Schlund zurückgezogen, ein greller Blitz blendete uns und ich fiel in Ohnmacht.
Das erste, woran ich mich wieder erinnern kann, waren die freundlichen Augen des Priesters, die mich anschauten. Er hielt mich wie ein Kind in den Armen.
»Es ist vollbracht, mein Sohn … es ist vollbracht«, sagte er nur immer wieder.
Nach diesem Ereignis verbrannten wir den Kühlschrank auf einen Scheiterhaufen, auf das er nie wieder jemanden schaden könne, wobei ich bezweifle, dass er dazu noch in der Lage wäre, schließlich war das Ding, was ihn im wohnte, verbannt worden, doch der Priester wollte auf Nummer sichergehen und wer war ich, dem zu widersprechen.
Wir nahmen eine Axt sowie einen Vorschlaghammer und zerstörten den ausgebrannten Körper. Den Rest vergruben wir fernab in einen dunklen Wald, der Priester sprach ein letztes Gebet, danach trennten sich unsere Wege. Ich habe ihn seitdem auch nicht mehr wiedergesehen, doch ich hoffe, dass es ihm gut geht.
Nun könnte man annehmen, dass jetzt alles wieder gut sei, und fürwahr, am liebsten würde ich das so sagen, am liebsten würde ich auf einer positiven Note enden, doch dem entspreche nicht der Wahrheit. Der Dämon, oder was auch immer diese Kreatur gewesen ist, war zwar verbannt, doch das Böse ist noch immer in der Welt … und es hat seinen Blick noch nicht von mir abgewandt.
In diesem Moment schaue ich gerade aus meinem Fenster und sehe ihn dort unten bei der Laterne stehen. Jede Nacht scheint er näher zu kommen. Das Licht flackert, es fröstelt mir. Ich sehe sein breites Grinsen, diese schiefen, krummen Zähne, die so unnatürlich weiß sind. Ich seine Augen, die gelb leuchten, wie eine doppelte Sonnenfinsternis, wie die verfluchten schwarzen Zwillingssterne von Carcosa. Er schaut mich direkt an.