Die Reise ins Unbekannte

Prolog

Manche Geheimnisse sollten besser niemals gelüftet werden. Diese Erkenntnis musste ich auf schmerzliche Art und Weise erfahren. Ich musste es auf eine Art lernen, auf die es kein Mensch lernen sollte. Noch heute höre ich die schreienden Stimmen meiner Gefährten, wenn ich schlafen gehe. Noch immer sehe ich ihre vor Schreck erstarrten Gesichter, ihre weit aufgerissenen Münder, wenn ich die Augen schließe. Noch immer sehe ich die grausamen Dinge, die uns passiert sind, in meinen Träumen. Bei allen Göttern … diese Träume sind das Furchtbarste. Sie sind schrecklich, folternd und sie rauben mir immer mehr von meinem, noch übrig gebliebenen Verstand. Ich habe Angst davor meine Augen zu schließen, Angst davor ins Land der Träume zu gehen. Ich kann und will nicht mehr schlafen. Deswegen setz ich mich jetzt immer in den Abendstunden an meinen Schreibtisch und versuche, meine Erlebnisse zu Papier zu bringen. Zum einen habe ich damit eine Beschäftigung während der langen Nacht, zum anderen hat das eine Art therapeutischen Effekt, das habe ich zumindest gehört.

Nun sitze ich hier an meinem Eichenholzschreibtisch in meinem Arbeitszimmer, die Lampe an und die Schreibmaschine bereit, meine Geschichte festzuhalten. Draußen ist es stockfinster, doch an die Finsternis möchte ich jetzt nicht denken, denn in der Finsternis lauern Kreaturen, und zwar keine von dieser Welt. Also, konzentriere ich mich auf meine Schreibmaschine und beginne zu tippen. Meine Geschichte fängt in meinem Elternhaus in Lorgon im Jahre 1187 n.d.T an. Ich sehe noch alles so klar vor Augen, als wäre es erst gestern gewesen …

Kapitel I

Wir saßen alle gemeinsam am Frühstückstisch. Mein Vater, meine Mutter, meine zwei Brüder, meine Schwester und, ich alle waren anwesend. Es war ein sonniger Tag mit einzelnen Wolken am blauen Himmel. Die Vögel zwitscherten ihre schönen Melodien, im Zimmer wehte eine leichte Brise. Mein Vater, ein recht stämmiger Mann in seinen Fünfzigern, trug sein rotes Hemd mit einer schwarzen Krawatte. Es war bald Zeit, zur Arbeit zu gehen. Er schaute mir in die Augen und sagte: »Howard, das kann doch nicht wirklich dein Ernst sein? Mir … mir fehlen wirklich die Worte dafür. Du hast so ein gutes Zeugnis, so viel gutes Potenzial und … und du schmeißt es einfach weg.«

Es war wieder einer dieser Tage, wo er seine endlosen Vorträge hielt.

»Filme machen?«, meinte er, »Das ist doch kein richtiger Beruf. Du solltest lieber etwas Vernünftigeres machen wie Rechtsanwalt oder Arzt.«

Ich schaute ihn an: »Vater, wie oft muss ich das denn noch erklären? Ich bin weder für die Justiz noch für die Medizin geschaffen. Ich möchte raus in die Welt gehen, Abenteuer erleben, etwas Großartiges machen.«

Er verdrehte die Augen: »Pffff … Abenteuer. Schlag dir doch endlich mal diese Tagträume aus dem Kopf und stell dich der Realität. Die Anwaltskunst ist etwas Wunderbares. Du hilfst Menschen, verdienst viel Geld …«

»… und es ist absolut langweilig. Es ist einfach nichts für mich«, entgegnete ich.

Er schnaufte. Diese Diskussion führten wir nun seit zwei geschlagenen Wochen ohne irgendwelche Resultate. Er sagte, ich solle mir einen vernünftigen Beruf suchen, ich entgegnete, ich habe doch einen vernünftigen Beruf gefunden.

Er meint, mein Beruf sei kein richtiger. Diese Diskussion zog sich dann ein bis zwei Stunden hin. Der Rest meiner Familie sagte dazu nichts, sie saßen schweigend da und aßen ihr Frühstück. »Howard, nun hör doch, ich habe sogar schon die perfekte Universität für dich gefunden«, fing mein Vater an.

»Vater, nun hör mir mal zu, ich möchte das nicht. Ich habe kein Interesse an Rechtswissenschaften oder an der Anatomie eines Menschen. Ich möchte Filme drehen, ich möchte die Menschen unterhalten. Ich möchte fremde Orte besuchen und immer wieder neue Dinge kennenlernen. Ich möchte nicht in irgendeiner Anwaltskanzlei verstauben oder in einer Praxis versauern. Versteh das doch endlich.«

Mein Vater starrte mich an, für Stunden fand ich, bis er schließlich sagte: »Sind das deine letzten Worte zu diesem Thema? Wirst du nicht von deinen Standpunkt abweichen?«

Ich bejahte dies.

Er legte sein Besteck zur Seite, holte tief Luft und erklärte mir, ich solle nach oben gehen und meine Sachen packen.

»Wenn du deine schwachsinnigen Träume weiterhin stur verfolgen möchtest, dann tu dies. Aber nicht unter meinem Dach und nicht mit meinem Geld.«

Meine Mutter war schockiert: »Daniel … das kannst du doch nicht …«

»Sei still, Martha! Ich habe genug von diesen Träumereien. Wenn er so unbedingt das machen möchte, dann soll er es woanders machen. Ende der Diskussion!«

Meine Mutter schwieg.

Meine Geschwister schwiegen.

Mein Vater schwieg.

Damit war das Thema wohl beendet.

Ich stand auf vom Frühstückstisch, schob den Stuhl ran und ging nach oben. Dort packte ich meine Sachen in meinen großen Reisekoffer und verließ, für immer, mein altes Zimmer. Bevor ich das Zimmer endgültig verließ, drehte ich mich noch einmal um und schaute aus dem Fenster.

Am Himmel braute sich ein Gewitter zusammen.

Kapitel II

Ich verabschiedete mich von meiner Mutter und meinen Geschwistern. Mein Vater war nicht anwesend, während ich packte, ging er arbeiten.

Meine Mutter umarmte mich und flüsterte: »Ich glaube an dich, deine Schwester glaubt an dich und deine Brüder glauben an dich.«

Ich entgegnete: »Nur Vater tut es nicht.«

»Mach dir nichts daraus, du weißt, er kann manchmal ein ziemlich alter Starrkopf sein. Er wird seine Entscheidung irgendwann bereuen. Und solange du hier nicht wohnen kannst, wohnst du halt bei Onkel Georg.«

»Wirklich? Das geht?«, fragte ich.

»Natürlich. Du bist doch sein Lieblingsneffe. Ich werde ihn nachher anrufen und sagen, dass du vorbeikommst.«

»Dankeschön, Mama.«

»Keine Ursache«, flüsterte sie.

Ich umarmte noch einmal alle und verließ dann das Haus.

Onkel Georg, dachte ich dabei, was für ein großartiger Mensch. Die Sommermonate bei ihm zu verbringen, gehörte immer zu den Höhepunkten meiner Kindheit.

Er war zwar der Bruder meines Vaters, doch die beiden konnten nicht unterschiedlicher sein. Er, ein talentierter Musiker und Maler, und mein Vater … der Bürokrat.

Ich machte mich flinken Schrittes auf zur Bushaltestelle und wartete auf das Gefährt, welches mich in eine bessere Zukunft bringt.

Die Fahrt dauerte recht lange, da Onkel Georg am anderen Ende von Lorgon, nämlich in der Hauptstadt Lorgon-City, wohnte. Ich nutzte die lange Fahrt, um mir Gedanken darüberzumachen, welche Art von Film ich als Erstes drehen möchte.

Irgendwann fiel ich in einen traumlosen Schlaf und erwachte dann als der Bus sein Ziel erreichte. Ich stieg aus und schaute zum Himmel. Schwarze Wolken verhüllten ihn, das Gewitter ließ noch auf sich warten.

Ich beeilte mich zu meinem Onkel zu gelangen, da ich nicht durchnässt ankommen wollte. Und ich sollte Glück haben, der Regen fing erst an, als ich am Haus meines Onkels angelangt war. Er machte mir die Tür auf, nachdem ich klopfte und umarmte mich herzlich.

»Ich hab die Nachricht erhalten, mein störrischer Bruder scheint wieder seinen Dickkopf zu haben«, sagte er zu mir.

Ich nickte und ging hinein.

»Du hattest sicher eine anstrengende Fahrt«, fuhr er fort, »Ich hab etwas zu essen gemacht für uns beide. Köstlichen Bratfisch.«

Wir aßen unser Abendbrot und sprachen bis tief in die Nacht hinein miteinander. Ich erklärte ihm meine Pläne, was ich gerne machen würde. Er war sehr erfreut über meine Entscheidung und sagte, er würde mir die nötige Ausrüstung besorgen und natürlich Materialien zum Lernen. Außerdem kannte er einen guten Bekannten, der in der Filmbranche tätig wäre. Er würde mich bei meinen Sachen unterstützen. Ich dankte meinem Onkel und ging schlafen, ich war nämlich hundemüde und brauchte dringend einige Stunden Schlaf.

Ich ging ins Obergeschosses des Hauses und legte mich ins Gästezimmer schlafen.

Kapitel III

Am nächsten Tag wachte ich ungefähr zur Mittagsstunde auf. Ich fühlte mich vollständig erholt und voller Energie, um meine Arbeit endlich zu beginnen.

Mein Onkel wartete unten schon auf mich, auf dem Tisch vor ihm stand ein großes, graues Gerät, das mir sehr bekannt war.

»Ich wusste gar nicht, dass du so eine Kamera hast. Die muss doch sicher ein Vermögen gekostet haben!«, sagte ich erstaunt.

»Ich habe sie vor ein paar Jahren bei einer Auktion erstanden. Hat mich damals keine hundert Goldscheine gekostet«, sagte er.

Ich erwiderte darauf: »Mann, normalerweise muss man dafür Vierzigtausend hinlegen!«

Mein Onkel sagte zu mir, ich könne sie haben, wenn ich wollte.

Ich umarmte ihn und sprach meinen Dank aus.

Er sagte: »Nachher kommt Herr Bryan vorbei, er wird dir alles wichtige erklären. Solange kannst du dich ja mit der Kamera vertraut machen.«

Ich bedankte mich noch einmal und setzte mich hin, um die Kamera zu studieren. Es war eines der neueren Modelle, nicht das Neueste, aber immer noch ziemlich neu. Im Groben gesagt war es ein großer, grauer, rechteckiger Kasten. Vorne war eine Linse angebracht, an der Seite war die Halterung für den Film. Zugleich machte ich mir auch schon Gedanken, wie mein erster Film aussehen wird und was es überhaupt für eine Art von Film sein soll.

Soll es eine Dokumentation werden?

Ein Actionfilm?

Eine Romanze?

Oder doch eher eine deftige Komödie?

Fragen über Fragen, über die ich mir später Gedanken machen musste. Aber zuerst nahm ich meine neue Kamera und probierte sie ein wenig aus.

Um zwei Uhr nachmittags erschien dann Herr Bryan, eigentlich Professor Jeffrey Bryan, ein schon etwas älterer Herr aus gutem Hause, der an der Universität von Lorgon, der Kevin-Jähns-Universität, unterrichtete, unter anderem auch die Theorie und Ästhetik des Films. Er brachte mir im Schnellkurs die wichtigsten Fakten bei und machte mir das Angebot, dass ich bei ihm privat lernen könnte, was es wirklich heißt Filme zu machen. Ich nahm das Angebot dankend an und schüttelte eifrig seine Hand.

Die nächsten Wochen verbrachte ich damit, bei Prof. Bryan alles über den Film zu lernen was nur ging. Ich lernte die verschiedenen Kameraperspektiven, wie man ein Konzept erstellt, wie man Dialoge und Drehbücher schreibt, wie man Filme richtig schneidet und noch vieles mehr. Alles was Prof. Bryan mir an Wissen gab, saugte ich auf wie ein trockener Schwamm. Ich war ein wahrlich eifriger und wissbegieriger Schüler, worauf mein Lehrer sehr stolz war. Am Ende meiner Lehre sagte er zu mir, ich sei ein wirklich talentierter Schüler gewesen, der das Zeug zum Filmemacher habe. Ich bedankte mich bei ihm für seine Unterstützung und dass er sein enormes Wissen mit mir teilte und verließ seinen Hörsaal.

Kapitel IV

Frohen Mutes machte ich mich daran ein Konzept für meinen ersten richtigen Film zu erstellen. Doch wie sehr ich mich auch anstrengte, mir fiel partout nichts ein. Ich lief stundenlang im Haus auf und ab und hoffte das mir eine gute Idee einfallen würde.

Doch nichts geschah.

Mein Kopf fühlte sich leer an.

Ich setzte mich niedergeschlagen auf die Couch im Wohnzimmer, als mein Blick schlagartig auf die Schlagzeile der Lorgoner-CityTageszeitung fiel.

Es traf mich wie ein Blitz, in meinem Kopf tauchte sofort eine geniale Idee auf.

Die Schlagzeile, welche mir meine Idee gab, lautete: »VERSCHWUNDENER MATROSE WIEDER AUFGETAUCHT«.

Ich hatte schon öfters von diesen Geschichten gehört. Von Personen, Flugzeugen und sogar ganzen Schiffen, welche in einem Bereich von Georgezop, Lorgon, Gonzzoles, Sant Derres und Sardonien immer wieder spurlos verschwanden. Ich nahm die Zeitung und las den Artikel über den Matrosen durch.

Er war Mitglied eines Schiffes der Handelsgesellschaft, das von Sant Derres nach Georgezop reisen wollte, um Lieferungen zu erledigen. Doch es erreichte sein Ziel nie, stattdessen verschwand es samt Crew vor einem halben Jahr. Das soll öfters geschehen, manchmal kehren die Personen nach langer Zeit wieder zurück, aber immer nur einzelne, niemals alle. Wohin verschwinden sie? Warum kehren nur einzelne Personen wieder zurück? Wo ist der Rest der Mannschaft abgeblieben? Fragen über Fragen, aber keine Antworten.

Ich war voller Tatendrang, ich wollte dieses Rätsel unbedingt lösen und die Lösung in einem Film verewigen. Dieser Film wird einschlagen wie eine Bombe, die Leute werden meilenweit Schlange stehen um ihn zu sehen, dachte ich damals.

Ich fing an Überlegungen zu machen, was alles benötigt wird. Ich brauchte Equipment, eine Mannschaft, ein Schiff und einen Kapitän, welcher waghalsig genug ist um diese Odyssee anzutreten. Und ich wusste genau, wo ich solche Leute finden würde, nämlich in den vielen Kneipen des Hafens von Lorgon-City. Ich schnappte mir also etwas zum Schreiben und etwas Bares und machte mich auf den Weg zum Hafengebiet.

In der Stadt herrschte reges Treiben, viele gingen einkaufen oder genossen den Sonnenschein an diesem schönen Tag, der der vorletzte der Woche war.

Unterwegs kam ich an einem Schwarzen Brett mit wichtigen Meldungen vorbei. Ich überflog das Wichtigste, wobei zwei Nachrichten mir besonders ins Auge stachen. Die eine war, das es anscheinend einen erneuten Terroranschlag der Bruderschaft gab, diesmal in Gonzzoles, wobei zehn Menschen und drei Orks gestorben waren. Die Terroristen hatten einen Flughafen angegriffen, Sicherheitskräfte konnten aber ein noch größeres Blutbad rechtzeitig verhindern. Diese verdammten Fanatiker. Heute weiß ich, dass diese Verrückten absolut keinen blassen Schimmer haben, was sie da wirklich anbeten.

Die zweite Nachricht schockierte mich noch etwas mehr. Der wieder aufgetauchte Matrose hatte in der örtlichen Nervenheilanstalt Selbstmord begangen und dabei seltsame Kritzeleien an den Wänden zurückgelassen. Diese müssen, laut Aussage der Polizei, noch gründlich untersucht werden. Eigentlich wollte ich den Herrn befragen, um etwas mehr über sein Schicksal zu erfahren, doch das konnte ich mir nun klemmen. Hätte er sein Wissen mit mir geteilt, hätte das vielleicht Leben retten können.

Aber das konnte ich nun nicht mehr ändern. Ich begab mich weiter zum Hafen und ließ meine Gedanken freien Lauf. Tagträumend ging ich die Straße runter, vorbei am Turm des Präsidenten und den unzähligen Gebäuden der verschiedenen Ministerien, bis ich mein Ziel erreicht hatte.

Der Hafen von Lorgon-City war wahrlich gewaltig, ein riesiges Gebiet. Und überall waren Leute, die emsig zwischen den Gebäuden und Schiffen umherliefen.

Seefahrer fast jeglicher Rasse waren vertreten und beluden fleißig die Schiffe der verschiedenen Unternehmen. In den Werkhallen der ArksCompany war ständiges Dröhnen und Hämmern zu hören, da die Arbeiter fast rund um die Uhr neue Schiffe bauten und alte reparierten.

Ich sah sogar eine Gruppe von Gardisten, die ein Mitglied der Weltregierung begleiteten, das wahrscheinlich auf dem Weg zum Turm des Präsidenten war.

Aber deswegen war ich nicht da, ich hatte schließlich einen triftigen Grund zum Hafen zu kommen. Ich machte mich also auf den Weg zur einer örtlichen Kneipe. Nach kurzer Suche fand ich eine passende, Zum Brausenden Sturm hieß sie.

Ich holte tief Luft, beruhigte mich, öffnete die alte Holztür und betrat das Lokal.

Kapitel V

Die Kaschemme war sehr gut besucht, fast alle Tische waren restlos besetzt. Niemand achtete wirklich auf mich, alle waren in irgendeiner Form beschäftigt.

In der einen Ecke saß ein Quartett von menschlichen Fischereiarbeitern, die Black Jack spielten und dabei fröhlich lachten.

In der anderen Ecke saß eine Gruppe von Dragoniern, Orks und Skeletten, die ungestört Bier tranken und dabei schon Dutzende Gläser geleert hatten.

Am linken Ende des Raumes spielte ein Dragonier am Piano und haute munter auf die Tasten des Instruments ein.

Gleich daneben befand sich der Barkeeper, der gerade damit beschäftigt war einige Gläser zu säubern. Er war ein schon älterer Mann mit hellbraunen Vollbart, einer Glatze und einem faltigen Gesicht. Ich ging direkt auf ihn zu, vorbei an johlenden und lachenden Seefahrern.

Als ich am Tresen ankam, sprach ich ihn auch gleich direkt an: »Entschuldigen Sie, mein Herr, ich bin freiberuflicher Filmemacher und wollte sie etwas fragen.«

Der Barkeeper sah mich mit leicht genervtem Blick an, schien aber zuzuhören.

Um nicht von der Geräuschkulisse übertönt zu werden, redete ich etwas lauter: »Ich wollte einen Film drehen, über das Verschwinden der vielen Schiffe und wollte sie fragen, ob sie jemanden kennen würden, der mich zu jenen mysteriösen Gebiet hinbringen könnte?«

Es wurde schlagartig still im Lokal, selbst der Pianist hörte augenblicklich auf zu spielen, alle schauten gespannt zum Tresen, wie ich bemerkte.

Der Barmann wurde so weiß wie ein Bettlaken, er sprach mit leiser, leicht zittriger Stimme: »Niemand, absolut niemand würde nach Psycho-Island fahren, nicht zur Verfluchten Insel. Das ist ein gänzlich böser Ort und niemand bei klaren Verstand würde sich freiwillig dort hinwagen.« Immer noch Stille.

Plötzlich hörte ich hinter mir einen Stuhl knarren und eine raue Stimme ertönte: »Junger Mann, ich wäre bereit ihren selbstmörderischen Auftrag anzunehmen.«

Ich drehte mich um.

Aus der dunklen Ecke hatte sich ein Berg von einem Mann erhoben, ein alter Seebär, wie er im Buche steht. Graues, dichtes Haar bedeckte seine untere Gesichtshälfte, auf den Kopf trug er einen alten, durchlöcherten blauen Dreispitz. Sein Gesicht wurde von einer Augenklappe verziert, die er über dem rechten Auge trug.

Um das Gesamtbild noch abzurunden, kleidete er sich mit einem abgetragenen Mantel, wo sich auf der linken Brustseite ein Ankersymbol befand. Es hätte mich damals nicht im Entferntesten gewundert, hätte er noch ein Holzbein und eine Hakenhand gehabt.

»Harr«, raunte er, »stehen Sie nicht so wie angewurzelt da. Lassen Sie uns die geschäftlichen Einzelheiten draußen klären. Hier drinnen sind mir zu viele Glubschaugen.«

Und so verließen wir das dunkle Etablissement und gingen die Straße herunter. Einige Zeit noch schweigend, bis ich fragte: »Warum haben sie meinen Auftrag akzeptiert?«

Er blieb stehen. »Mein Junge«, begann er »ich möchte genau wie Sie dieses düstere Geheimnis lösen, welches mich schon seit Jahrzehnten plagt. Wissen sie, ich habe schon viele Freunde und gute Bekannte in diesen dämonischen Gebiet verloren. Zu viele, um genau zu sein. Kaum einer von ihnen ist zurückgekehrt, und wenn sie zurückkamen, dann waren sie nicht mehr die Alten. Diese Reise … wohin auch immer sie führte … hat sie verschlungen. Ich habe das Gefühl, dass ich meinen ehemaligen Kameraden es schuldig bin, das Rätsel um ihr Verschwinden aufzulösen. Ach, ich rede schon wieder wie ein Wasserfall und hab mich noch nicht einmal vorgestellt. Ich bin Käpt‘n Samuel Clements, ehemaliger Kapitän der 72. Handelsflotte der Handelsgesellschaft. Und Sie sind?«

Er reichte mir die Hand.

»Phillips. Howard Phillips, zukünftiger Filmemacher.«

Ich schüttelte seine riesige, raue Hand.

»Schön, Sie kennenzulernen. Na denn, wollen wir dann über das Geschäftliche reden?«

Kapitel VI

»So Käpt‘n, was wissen Sie über diese Insel?«, fragte ich unverhohlen, nachdem wir uns auf eine Bank gesessen hatten.

»Die meisten Leute nennen sie Psycho-Island, weil jeder, der bis jetzt lebend zurückkam, direkt ins Asylum eingeliefert wurde. Mir persönlich hat dieser Name nie gefallen, klingt wie aus einem dieser billigen Groschenromane, die die Jungspunde immer so gerne lesen. Ich bevorzuge den Namen Verfluchte Insel. Klingt zwar furchtbar klischeehaft, trifft aber den Kern der Sache. Wie Sie vielleicht schon wissen, verschwinden immer wieder Dinge und Personen dorthin. Selten kommen sie wieder, doch wenn sie es tun, sind ihre Birnen zu regelrechten Matsch geworden. Sie faseln dann unzusammenhängendes Zeug, schlafen kaum, zucken wie wild und so weiter. In den meisten Fällen bringen sie sich auch um, man findet sie dann erhängt in ihren Zellen, die Wände vollgekritzelt mit kryptischen Hieroglyphen und Zeichnungen. Niemand war bis jetzt in der Lage sich einen Reim darauf zu machen. Niemand hat auch bis jetzt erfahren, warum die Wiederaufgetauchten so verrückt sind. Man nimmt an, sie haben etwas so Schreckliches gesehen, dass sie vollständig traumatisiert wurden. Doch was kann so etwas auslösen?«

»Genau das möchte ich ja herausfinden«, antwortete ich, »ich will dieses Rätsel lösen, damit niemand mehr auch nur in die Nähe dieser Insel kommt.«

»Das möchte ich auch mein Junge, das möchte ich auch … Kommen Sie, ich zeig Ihnen mein Schiff.“

Wir gingen gemeinsam die Docks entlang, vorbei an arbeitenden Seemännern und umher streifenden Touristen. Nach einiger Zeit kamen wir an einem, zugegebenermaßen beeindruckenden, alten Schiff vorbei. Der Käpt‘n blieb stehen und sprach: »Sehen und staunen Sie! Meine Lovecraft, die Bezwingerin der Wellen, Meisterin jedes Sturmes!«

»Lovecraft? Klingt altertümlich, ist das zufällig Angliskisch?«, fragte ich.

»Ja, es bedeutet so viel wie Liebeskunst oder Liebeshandwerk. Den Grund für den Namen erzähl ich Ihnen ein andermal«, versicherte er mir zwinkernd.

Die Lovecraft.

Trotz ihres ersichtlichen Alters, war sie trotzdem ansehnlich. Sie war ungefähr fünfzehn Meter lang, sieben Meter breit und in einem hoffnungsvollen Grün angestrichen. Sie war das Schiff, das mich zu Ruhm bringen sollte.

Der Käpt‘n und ich plauderten gemeinsam noch etwas, er erklärte mir viele technische Details über sein Schiff und erzählte noch viel von seinen Abenteuern. Ich merkte, dass es langsam spät wurde, weshalb ich mich verabschiedete, den Hafen verließ und langsam nach Hause trottete.

Mein Onkel hatte sich bereits schlafen gelegt, als ich ankam. Ich machte mir noch eine Kleinigkeit zu Essen und verschwand dann auch in den Federn. Ich musste gut ausgeruht sein für den morgigen Tag, da ich nun den Rest meines Expeditionsteams zusammen trommeln musste.

Kapitel VII

Schon früh morgens machte ich mir Gedanken, wen und was ich alles für die bevorstehende Reise brauchen würde. Einen Kapitän und ein Schiff hatte ich schon mal, fehlte nur noch der Rest.

Mir kam der Gedanke meinen alten Schulfreund Steven Ornelas anzurufen, welcher nun in Lorgon-City an der Kevin-Jähns-Universität Geschichte studierte.

Ich dachte mir, er wäre eine große Hilfe und würde sich bestimmt darüber freuen. Ich rief ihn gleich an, wir hatten ein relativ langes Gespräch, am Ende stimmte er mit absoluter Begeisterung.

Wir verabredeten uns vor dem Uni-Gebäude, da Steven gerade Zeit hatte. Ich machte mich noch etwas frisch und begab mich sogleich auf den Weg.

Einige Zeit später kam ich am imposanten Gebäude der Uni an, Steven wartete bereits davor. Er war einige Jahre älter als ich und sah verdammt gut aus. Er hatte eine leicht braune Haut (dies verriet seine Sant Derrische Herkunft), tiefschwarze Haare, dunkle Augen und war auch sonst gut gebaut. Zusätzlich war er mit einem scharfen Verstand gesegnet, der ihn schon öfters aus brenzligen Situationen gerettet hatte (zum Beispiel, aus seinen häufigen Liebesabenteuern, die schlecht ausgingen).

Steven war einige Jahre älter als ich, trotzdem konnte man ohne Verlaub sagen, dass er zu meinen engsten Freunden gehörte.

Ich lief zu ihm hin und wurde mit einer kurzen, kräftigen Umarmung begrüßt.

»Howard«, fing er an, »lange nicht gesehen. Gut siehst du aus.«

»Danke, das Gleiche kann ich auch von dir behaupten.«

Er lachte herzlich. »Komm, wir gehen in die Bibliothek, dann können wir drinnen etwas palavern. Um der alten Zeiten willen.«

Palavern. Man merkte, dass Steven wahrlich vom Altertümlichen fasziniert war. Er benutzte sehr gerne alte Begriffe und Wörter aus längst vergessenen Sprachen.

Wir gingen gemeinsam in das große Gebäude und machten uns auf den Weg zur Universitätsbibliothek. Als wir die Große Halle des Wissens betraten, musste ich staunen.

Der Begriff groß erfasste nicht annähernd die gewaltigen Dimensionen dieses Raumes. Riesige Regale reichten bis zur Decke, sie glichen mehr Türmen als einfachen Bücherregalen. Jedes Regal war zusätzlich noch vollgestopft mit den verschiedensten Büchern, es mussten Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen sein.

Aber das wirklich erstaunlichste waren nicht die Regale mit ihren unzähligen Werken, nein, es waren die Dekorationen, die wahrlich ins Auge stachen. Am Eingang standen zwei meisterlich gefertigte Statuen der Großen Erbauer in voller Rüstung.

In der Mitte der Halle befand sich eine beträchtliche Statue eines Magiers in Robe. Die Fenster waren verziert mit bunten, farbenfrohen Scheiben, die die verschiedensten Motive zeigten, von glorreichen Kampfhandlungen, über berühmte Philosophen, bis hin zu wichtigen geschichtlichen Ereignissen.

Steven und ich setzten uns an einen länglichen, breiten Eichentisch, gleich neben der Büste von Kevin Jähns.

»Nun sag, Howard«, fing Steven an, »was ist meine Rolle bei dieser Expedition?«

»Nun ja, du interessierst dich sehr für das Geschichtliche. Und ich dachte mir, die Entdeckung und Erforschung einer längst vergessen Insel würde dir sicher Ruhm und Anerkennung bei deinen Professoren und Kommilitonen bringen. Stell dir nur mal ihre Gesichter vor, wenn du mit solch einer Erkundung nach Hause kommen würdest.«

Steven dachte kurz nach und sprach dann: »Das stimmt. Ich könnte meine Doktorarbeit darüber schreiben und würde wahrscheinlich ein gefeierter Historiker werden. Howard, um ehrlich zu sein, du hattest mich schon dabei, als du sagtest, Expedition zur Verfluchten Insel. So und jetzt lass uns reden, ich hab ja schon lange nichts mehr von dir gehört. Wie geht es deiner Familie? Wie geht es dem Alten Herrn?«

»Wir haben uns … zerstritten. Ich und mein Vater«, antwortete ich.

»Oh, das tut mir aber wirklich leid. Wie kam es denn dazu?«

»Na ja, du weißt ja, wie er ist und wie er sein kann …«

»Ich weiß, er kann ein ziemlicher Klotz sein«, sagte Steven.

»Er ist halt dieser … simpel gestrickte Bürokrat. Keinerlei Gefühl für das Ästhetische, für das Kunstvolle. Für ihn zählen nur Akten und Zahlen und Geld und Rechnungen und irgendwelche Statistiken. Er hat keinerlei Verständnis für das, was ich machen möchte. Ich möchte Filme drehen und um die Welt reisen, er möchte das ich studiere und am besten in irgendeiner Anwaltskanzlei verstaube. Versteh mich nicht falsch, ich habe nichts gegen das Studieren einzuwenden, es ist halt nur nichts für mich.«

Steven nickte verständnisvoll und sagte dann: »Du warst schon immer ein Freischwimmer, schon damals in der Schule, das hab ich eigentlich immer an dir gemocht.«

»Wirklich?«, sagte ich leicht verlegen.

»Ja, es ist aber auch eine bewundernswerte Eigenschaft, eine, die man selten sieht. Aber wir schweifen ab, fahre bitte fort.«

»Wo war ich stehen geblieben?«, fragte ich mich.

»Bei deinem Vater.«

»Ach ja, ja … Ich kann bis heute nicht verstehen, warum meine Mutter so jemanden heiraten konnte.«

»Vielleicht war dein Vater ja früher jemand ganz anderes. Jemand mit Träumen. Idealen. Wünschen. Doch wie es manchmal so ist, verblassen bestimmte Dinge mit der Zeit und verlieren ihre Farbe. Und irgendwann sterben diese Dinge und wir lassen sie fallen und vergessen sie. Vielleicht war dein Vater in einer ähnlichen Situation wie du, nur mit den Unterschied, das er sich nicht durchsetzen konnte und stattdessen die Wünsche und Träume seines Vaters angenommen hatte.«

»Jetzt wo du das so sagst, vielleicht stimmt das ja. Vielleicht war ich auch zu hitzköpfig«, gestand ich ein, »Vielleicht werde ich mich wieder mit ihm in Kontakt setzen …«

»Das ist die richtige Einstellung«, stimmte mir Steven zu, »Familie ist wichtig, dazu zählt auch dein Vater. Er mag zwar manchmal ziemlich verklemmt sein, aber tief im Inneren liebt er dich.«

»Vielleicht hast du recht«, sagte ich mit rollenden Augen.

»Habe ich das nicht immer?«, antwortete er schnippisch.

»Nun übertreib mal nicht Mr. Meister-in-Psychologie-Historie-Rechthaberei-und-anderen-Sachen.«

»Hehe. Aber da du gerade Historie ansprichst … Hast du überhaupt irgendwelche Vorstellungen von dieser Verfluchten Insel

»Ehrlich gesagt … Ist meine Vorstellung zu diesem Thema relativ begrenzt. Ich weiß nur das dort immens viele Leute hin verschwanden und nur wenige wiederkamen. Und diejenigen die wiederkamen, waren nur noch Fälle für die Irrenanstalt. Hast du eventuell schon mal von solchen Vorkommnissen gehört? Vielleicht mal in irgendeinen Buch darüber gelesen?«, fragte ich Steven.

»Hmmm, über den Verlauf von Jahrtausenden sind schon viele Schiffe im endlosen Ozean verschwunden, aber ich hab noch nie von solch extremen Fällen gehört. Hmmm.«

Er überlegte einige Zeit.

»Ich werde nachher mal hier herumstöbern, vielleicht finde ich ja einige Antworten. Es muss etwas geben, so was bleibt ja schließlich nicht unbeobachtet. Irgendjemand muss schon mal darüber berichtet haben. Wenn ich etwas gefunden habe, rufe ich dich an, okay?«

»Alles klar, danke für deine Hilfe.«

»Nullam causam, mein Freund, dafür bin ich ja da.«

Ich schaute auf die Uhr.

»Ohh, verdammt … schon so spät? Ich sollte wieder zurück nach Hause gehen, Onkel Georg macht sich bestimmt schon Sorgen.«

»Schade, das wir nicht länger palavern konnten«, bedauerte er.

»Keine Sorge, wir werden noch genügend Zeit dafür haben.«

»Na dann. Mach‘s gut. Einen schönen Abend noch.«

»Danke, dir auch«, und mit diesen Worten verließ ich die Große Halle des Wissens und machte mich auf den Weg nach Hause.

Kapitel VIII

Am nächsten Morgen wurde ich von einem dauerklingelnden Telefon aus dem Schlaf gerissen. Doch es war eine freudige Überraschung, Steven war am Apparat.

»Du, entschuldige, dass ich dich so früh wecke, aber ich hab eventuell etwas gefunden, was dir weiterhelfen kann. Ob du es glaubst oder nicht, ich habe tatsächlich ein Buch über das Thema gefunden! Wenn es dir nichts ausmacht, komme ich gleich vorbei und zeige es dir.«

Natürlich machte es mir nichts aus, ich war extrem neugierig auf das was er zutage gefördert hatte. So stimmte ich einem Treffen zu und machte mich gleich auch bereit dazu, ich war ja schließlich noch im Schlafanzug und völlig verwuschelt, so konnte ich mich ja nicht blicken lassen.

Ich war gerade fertig, da klingelte es auch schon an der Tür, Steven stand da mit einem riesigen Wälzer in der Hand. Ich bat ihn reinzukommen und wir setzten uns gemeinsam an den Esstisch und frühstückten noch eine Kleinigkeit, während Steven seine Entdeckung preisgab.

Das Buch, das er bei sich hatte, trug den Titel Die Geschichte DMTs – Aufstieg und Fall.

»Also, ich schaute wie gewünscht in der Bibliothek nach, als ich auf dieses höchst interessante Buch stieß. Es enthält, wie der Titel sicher schon vermuten lässt, die gesamte Geschichte von Darks Modern Technology, von den Anfangstagen als winziges Unternehmen bis hin zum Ende als Imperium. Wirklich sehr interessantes Buch. Wirklich sehr interessant, ich kann es dir nur empfehlen. Aber ich komme mal lieber gleich zur Sache, bevor das zu einer Geschichtsstunde ausartet. Wie dem auch sei, ich fand ein Kapitel in dem Buch über den Vater von Floreo Darks, ja genau, der Floreo Darks. Sein Vater, Florian Johannes James Darks, litt angeblich unter Wahnvorstellungen und war wie besessen von Magie, Geistern, Dämonen, Seelen, halt solchem Kram. Er soll Unsummen an Geld verbrannt haben, um seine wahnsinnigen Projekte zu finanzieren, die das Unternehmen fast in den Ruin trieben. Eines dieser irrsinnigen Projekte war die Bebauung einer komplett verlassenen Insel. Das Buch schweigt darüber, was genau dort vorgefallen ist, aber, und jetzt kommt‘s, Herr Darks schien der Aufenthalt nicht sehr wohlgetan zu haben. Er war anscheinend einer der wenigen Überlebenden dieses Vorfalls und, das ist das Wichtigste, sein Wahnsinn hatte sich exponentiell gesteigert.«

»Was ist danach aus ihm geworden?«, fragte ich neugierig.

»Offiziell soll er mit seinem Schiff, das auf einer Expedition zur Geisterinsel war, untergegangen sein. Gerüchten zufolge, hat sein eigener Sohn ihn umgebracht, um das Unternehmen an sich zu reißen. Das konnte nie wirklich bestätigt werden.«

»Aber warum weiß niemand etwas von der Insel? Warum gibt es nur in diesem Buch irgendwelche spärlichen Informationen?«

»Na ja, man hat es halt vertuscht und du weißt, damals war das noch kinderleicht. Wäre es ans Licht gekommen, hätte es das DMT massiv geschädigt, stattdessen hat man der Öffentlichkeit und den Hinterbliebenen erzählt, ein grauenvoller Sturm hätte die Insel heimgesucht und fast alle Bewohner dort getötet. Wer konnte schon das Gegenteil beweisen? Und irgendwann haben die Leute es vergessen und aufgehört Fragen zu stellen, DMT hatte währenddessen bereits fast alle Beweise für die Existenz des Inselprojekts vernichtet. Außerdem … ist es bereits beinahe 200 Jahre her, in solch einer relativ langen Zeit geht vieles im Nebel der Geschichte verloren.«

Ich musste eingestehen, dass Steven, wiedereinmal, recht hatte. Wie gesagt, er war ein ausgesprochener kluger Mann mit genug Wissen, um eine ganze Buchreihe zu füllen.

»Es bleibt nur noch eine Frage«, dachte sich Steven, »Was ist dort genau vorgefallen? Ich mein, es muss etwas außerordentlich Schreckliches gewesen sein, wenn es fast alle Mitglieder des Projektes getötet hat und sogar bis heute anhält.«

»Genau das, möchte ich ja herausfinden. Es wäre die größte Entdeckung des Jahrhunderts, wenn nicht sogar des Jahrtausends!«, sagte ich voller Stolz. »Es wäre eine Sensation! Die Leute würden meilenweit Schlange stehen, um diese Enthüllung zu sehen.«

»Das mag stimmen, aber wir sollten vorsichtig sein. Wer weiß was dort lauert, du solltest vielleicht jemanden mitnehmen, der eine Ahnung von Verteidigung hat«, schlug er vor.

»Schwebt dir da jemand spezielles vor?«

»Ich kenne jemanden, der sehr erfahren im Umgang mit allerhand Waffen ist. Du solltest dabei wissen, er ist ein … Dragonier.«

»Ohh, ich habe kein Problem mit Echsenmenschen.«

„Nenn … nenn sie bitte nicht Echsenmenschen, das mögen sie überhaupt nicht. Das ist so, als würde ich zu einem Ork gehen und ihn Schweinegesicht nennen.“

»Ohh … Ja … Klar, verstanden. Ich werde mich zurückhalten. Wie heißt er überhaupt und wo finden wir ihn?«

»Sein Name ist Sebastian Kurzklinge und er ist häufig südlich von Lorgon-City im Gasthaus Zum Wütenden Hammer zu finden, wo er sich besäuft und auf Aufträge wartet.«

»Okay … und er heißt wirklich Sebastian? Ich habe noch nie von einem Dragonier mit solch einem Namen gehört.«

Um ehrlich zu sein hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal gewusst, welche Namen Dragonier in der Regel hatten, die dragonische Kultur war mir schon immer etwas fremd und sonderbar. Ich nahm damals an, dass Dragonier keine Menschennamen tragen würden, aber ich wurde eines Besseren belehrt.

»Seine Eltern«, fing Steven an mir zu erklären, »waren sehr gerne in der Gesellschaft von Menschen, sie lebten sogar in einer ziemlich großen Stadt in Gonzzoles. Sie waren von Menschen sehr fasziniert, der Vater hat sogar Anthropologie studiert und unterrichtet jetzt an einer Universität in der gonzzolischen Hauptstadt. Deshalb gaben sie ihrem Kind dann auch den menschlichen Namen Sebastian, statt so was wie: Gornok, Krork, Heikarr, oder irgendwelche anderen wild klingenden, Knurrlauten ähnlichen Namen.«

»Das erklärt so einiges … und du glaubst, auf ihn ist Verlass?«

»Ich versichere dir, er ist der richtige Mann für den Job.«

»Na dann, suchen wir ihn auf.«

Kapitel IX

Es stellte sich heraus, dass wir wirklich nicht lange nach ihm suchen mussten. Nach einer kurzen Spritztour mit Stevens rotem MGS-5 gelangten wir relativ schnell zum besagten Gasthaus. Wir stiegen gemeinsam aus dem Wagen und begaben uns in das schäbig wirkende Amüsierlokal.

Die Tür öffnete sich mit einem Knarren und wie zu erwarten, betraten wir einen düsteren, stickigen Raum.

Der einzige Unterschied zu anderen Kaschemmen war, dass die gesamte Kundschaft aus Nichtmenschen bestand.

In der einen Ecke saßen kräftige Orks, welche sich mit Nekos vergnügten, in der anderen Sardonier, die Wasserpfeifen rauchten und dabei brüllend lachten.

Auch sonst war die Stimmung sehr ausgelassen und fröhlich, Minotauren tanzten stampfend, eine Band aus Skeletten spielte heitere Musik. Die Wände des Gasthauses waren verziert mit den verschiedensten Waffen und Trophäen diverser Kreaturen, ich erblickte sogar die Schädel eines Gargoyles und eines Behemoths.

Steven stupste mir mit seinem Ellbogen in die Seite und nickte in eine bestimmte Richtung. Ich sah in diese und entdeckte die gesuchte Person.

Es war ein grimmig dreinblickender Dragonier mit türkiser Schuppenfarbe. Er trug einen alten, braunen Mantel und war damit beschäftigt seine Fingerklauen mit einem Dolch zu reinigen, oder zu schärfen, ich bin mir da bis heute nicht sicher.

Als Steven sich ihm näherte, bemerkte er uns und sein eher schlechtgelaunter Gesichtsausdruck wandelte sich zu einem freundlichen.

»Wie geht‘s, Seb?«, begrüßte Steven ihn.

Die giftgrünen Augen des Dragoniers begannen wild zu funkeln.

»Steven«, sagte er mit einer ganz rauen Stimme, »Wie lange ist es her, dass wir uns zuletzt gesehen haben, alter Freund?«

»Viel zu lange, Seb, viel zu lange.«

»Setzt euch, setzt euch«, lud Sebastian uns ein, »steht nicht, wie angewurzelt da, ihr macht mich ja ganz verlegen.«

Er drehte seinen Kopf und rief: »Kellner, beweg deinen Arsch hierher!«

Aus dem Schatten kam ein relativ kleines Skelett angeschlichen, welches ängstlich dreinblickte.

»Was wünschen Sie, mein Herr?«, fragte es mit typischen Skelettakzent.

»Bring uns deine drei besten Biere und … wollt ihr beiden auch Basiliskarnische Zigarren? Nein? Schade, das ist wirklich guter Stoff«, sagte er mit einem breiten Grinsen, wo die spitzen Zähne sichtbar wurden, »Na gut, dann … nur eine. Und zwar pronto!«, bellte er und der Kellner verschwand Nullkommanichts in der Küche.

Wenig später kam er wieder mit einem Tablett balancierend auf der einen Hand. Er stellte die Getränke ab, gab Sebastian die Zigarre, verbeugte sich und verschwand zugleich wieder.

»Das ist ein Service, das sag ich euch, hahaha«, lachte er.

Sogleich nahm er sich ein Streichholz und zündete sich seine Zigarre an. »Also Steven, nun sag mal, wer ist dein schüchterner Begleiter da?«, sagte er und zeigte auf mich.

Steven antwortete: »Ein Freund aus meiner Schulzeit, Howard Phillips.«

Ich reichte ihm die Hand: »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Er reichte mir seine Klaue und fing an zu lachen: »Hahahaha, lass das Sie mal weg, wir sind hier doch unter Freunden. Ich heiß übrigens Sebastian Kurzklinge, aber das weißt du sicher schon, nennen kannst du mich Seb.«

Ich wurde etwas rot im Gesicht und sagte: »Alles klar, Seb.«

»Hahahaaa, na siehste, schon viel besser«, antwortete er.

»Also«, fuhr Seb fort, »was möchtet ihr denn? Ihr werdet mich ja nicht ohne Grund aufgesucht haben, nehme ich an.«

Er zog genüsslich an seiner Zigarre und stieß den Rauch in kleinen Ringen aus.

»Wir«, begann ich, »wollten Si… ähm … dich fragen, ob du uns auf einer Expedition begleiten könntest.«

Er schaute uns fragend an: »Was ist das für eine … Expedition

»Ich möchte einen Film über die sogenannte Verfluchte Insel drehen, und dafür bin ich hier«, antwortete ich leicht nervös.

»Verfluchte Insel? Ihr meint doch sicher … ähm, … wie hieß es doch gleich? Ähm … Psycho-Island!«, als er es aussprach, schnippte er zugleich mit den Klauen und fuhr fort: »Ich habe schon öfters mal davon gehört, hab dem aber nie wirklich Beachtung geschenkt. Geistergeschichten sind nicht so meins. Nicht, dass ich Angst hätte, versteht mich nicht falsch, aber ich glaube nicht an Flüche oder Gespenster oder Monster aus einer anderen Welt. Für mich ist das alles nur das Gewäsch von betrunkenen Matrosen, alles nur Aberglaube. Warum wollt ihr überhaupt, dass ich mitkomme?«

Steven antwortete darauf: »Weil du dich gut mit Waffen auskennst, wir könnten davon enorm profitieren, außerdem würden wir uns weitaus sicherer fühlen mit solch einer Unterstützung.«

»Ich sage euch, ihr verschwendet eure Zeit, auf dieser Insel gibt es nichts, das ist nur eine Felslandschaft im Meer. Aber ich werde euch trotzdem begleiten, für eine angemessene Aufwandsentschädigung natürlich.«

»Wie viel verlangst du denn?«, fragte ich.

»Hmmm, da ihr meine Freunde seid und die Reise sowieso nichts zutage bringen wird … hmm, wie wäre es mit fünfhundert?«

Steven und ich schauten uns nickend an und sagten gemeinsam: »Einverstanden.«

»Na dann, auf unsere gemeinsame Reise.«

Wir erhoben unsere Gläser und stießen an.

Kapitel X

Als wir das Gasthaus verließen, war es bereits Abend.

»So«, sagte ich, »das war ja einfacher als gedacht. Ich hätte vermutet, er wäre nicht sofort einverstanden oder würde einen höheren Sold verlangen.«

Steven antwortete darauf: »Na ja, er mag es vielleicht nicht zugeben, aber er ist schon neugierig, was uns erwarten wird. Außerdem, konnte er noch nie einem Abenteuer widerstehen. So was liegt ihm einfach im Blut. Wenn man es genau betrachtet, seid ihr beiden gar nicht so verschieden.«

»Meinst du? Ich weiß nicht«, sagte ich, aber mehr zu mir selbst, als zu Steven.

Dieser erwiderte: »Na und ob! Ihr sucht beide das große Abenteuer. Ihr beide seid vom eintönigen Leben eurer Väter geflohen. Und ihr beide zieht das, was ihr euch in den Kopf gesetzt habt, immer durch, komme, was wolle.«

Ich lächelte, es machte mich in irgendeiner Form glücklich, als er diese Worte sagte. Ich schaute zum Himmel und sah die wundervollen Sterne aufleuchten. Ich ergriff Stevens Hand, wir schauten uns gemeinsam den Sternenhimmel an und ich sprach: »Diese Reise wird unser aller Leben verändern. Wir werden berühmt. Alle Welt wird unsere Namen kennen. Wir werden Geschichte machen, vielleicht werden wir ja genauso berühmt wie James Smith.«

Steven nickte entschlossen.

Wir stiegen gemeinsam in den Wagen und fuhren zurück zu mir nach Hause. Dort angekommen aßen wir gemeinsam mit Onkel George zu Abend. Nachdem wir noch einige Zeit geredet haben, fuhr auch Steven zurück ins Studentenwohnheim. Ich blieb noch einige Zeit wach, um etwas zu lesen, danach verschwand ich in mein Bett.

Am nächsten Morgen wurde ich, wieder einmal, durch ein klingelndes Geräusch geweckt.

Es war das Telefon und als ich den Hörer abnahm, vernahm ich eine sehr vertraute Stimme: »Hey, guten Morgen Howard!«

Es war die lebenslustige Stimme von Thomas Bork, einem jungen Medizinstudenten von der gleichen Universität wie Steven.

»Tom?«, sagte ich, »Mann, von dir habe ich ja schon lange nichts mehr gehört! Wie geht es dir? Was macht das Studium?«

»Nun ja, es geht voran, ich kann mich nicht beschweren. Du solltest wissen, dass Studentenleben hat auch seine Vorzüge, wenn du verstehst was ich meine. Aber bevor ich vergesse, warum ich angerufen habe, möchte ich dich etwas fragen.«

»Und das wäre?«

»Steven hatte mir von eurer bevorstehenden Expedition erzählt und ich wollte fragen, ob ich ein Teil der Mannschaft sein darf? Ich bin mir sicher, ihr braucht jemanden mit medizinischen Kenntnissen und ich verlange auch nichts! Ich möchte einfach bloß mitkommen.«

Da musste ich nicht lange überlegen

»Na klar«, antwortete ich, »je mehr, desto besser. Es wäre uns eine Freude, wenn du mitkommst!«

»Ohh, danke, danke, das bedeutet mir wirklich viel! Wann soll denn die Reise starten?«

»Wenn nichts schiefgeht, wird es in spätestens zwei bis drei Tagen losgehen. Es müssen noch einiges an Proviant und Ausrüstungen besorgt und verladen werden. Ich sag dir Bescheid, wenn alles bereit ist.«

»Na dann, sehen wir uns am Schiff«, verabschiedete sich Thomas.

»Bis dann, Tom.«

Nachdem Gespräch mit Thomas, ging ich zu einer Niederlassung der Handelsgesellschaft, um Vorräte und diverses Equipment zu kaufen. Ich musste dazu nicht weit laufen, die Niederlassung war keine hundert Meter vom Haus meines Onkels entfernt. Dort angekommen, bestellte ich die Sachen und ließ es zum Hafen liefern, genaugenommen zum Käpt‘n. Der Angestellte im Laden versicherte mir, es würde spätestens morgen Nachmittag dort sein. Alles verlief nach Plan und wie es aussah, konnte die Reise sogar früher als gedacht beginnen.

Kapitel XI

Am nächsten Tag trommelte ich alle Mitglieder der Expedition für nachmittags am Hafen zusammen. Alle waren pünktlich hingekommen: Steven, Seb, Tom, der Käpt‘n und meine Wenigkeit. Somit waren wir alle vollzählig. Samuel brachte sogar zusätzlich noch vier seiner eigenen Matrosen mit. Es waren zwielichtige Gestalten, alle unterschiedlicher Herkunft, darunter sogar zwei Schwarzmenschen.

Nachdem alles auf die Lovecraft verladen wurde, gingen auch wir an Bord. Der Käpt‘n ließ den Anker hochziehen und schon begann die Reise. Ich begab mich in meine Kabine, um diese einzurichten. Mein vorübergehender Wohnraum war, wenn ich das so sagen darf, sehr bescheiden. Es war ein kleines Zimmer mit einer Art Hängematte als Bett und einem Schrank für die Kleidung.

Ich suchte einen sicheren Platz für meine Kamera (samt Stativ und Filmrollen, die ich am vorherigen Tag noch schnell gekauft hatte) und verstaute sie dort. Nachdem das alles erledigt war, begab ich mich zurück auf Deck und unterhielt ich mich etwas mit Samuel: »Und Käpt‘n? Was glauben Sie, wie lange werden wir unterwegs sein?«

Er schaute mich und sagte: »Ach, es sollte keine so lange Fahrt werden. Bei der Geschwindigkeit, und wenn nichts dazwischen kommt, sollten wir in drei, spätestens vier Tagen ankommen.«

Ich drehte mich noch einmal um und sah wie der Hafen sich immer weiter entfernte, immer kleiner wurde und ich mich immer weiter von zu Hause entfernte. Wie es wohl meiner Familie, meiner Mutter und meinen Geschwistern ging, fragte ich mich damals.

Ich roch die salzige Meeresluft und schüttelte das Heimweh ab, ich versuchte gar nicht mehr an zu Hause zu denken. Ich ging an die Reling und beobachtete das vorbeiziehende Meer.

Möwen flogen über uns, gaben ihre typischen Kreischlaute von sich, ab und zu sprang sogar ein silberner Fisch aus dem Wasser.

Nach einiger Zeit gesellte sich Steven zu mir, er hatte ein breites Grinsen im Gesicht: »Hehehe, Seb scheint die Fahrt nicht allzu sehr zu gefallen, der ist jetzt schon seekrank.«

Daraufhin musste ich laut auflachen, die Vorstellung eines mutigen Söldners, der sich ständig übergeben muss, war einfach urkomisch.

Auch Steven musste mitlachen.

»Dafür, dass er immer so eine große Klappe hat, ist er jetzt ziemlich still. Ich hätte auch nie gedacht, dass jemand mit seiner Farbe im Gesicht noch grüner werden kann.«

Wir beiden lachten nach dieser Feststellung noch viel mehr. Selbst Samuel konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Hilares, wahrlich hilares«, kommentierte Steven. Es war wirklich, ein wunderbarer Moment, den ich nie vergessen werde … Zumindest hoffe ich das.

Am Abend saßen wir alle gemeinsam in der Kabine des Käpt‘n, um Abendbrot zu essen. Der Kapitänsraum war größer, weitaus größer als die restlichen Kajüten. Es war ein fast schon majestätischer Ort, man merkte ziemlich schnell, dass das der persönliche Raum des Käpt‘ns ist. Überall an den Wänden hingen die verschiedensten Fische, von kleinen Forellen, hin zu riesigen Schwertfischen.

Der scharlachrote Teppich bestand aus einem sehr feinen Material, das äußerst edel wirkte. Die Eichenholzregale waren vollgestopft mit Karten und dicken Büchern über Seefahrt, Geschichte, Mythen und vieles mehr. Der Tisch, um den wir saßen, bestand aus hochwertigem, teuren Holz, wahrscheinlich Schwarzeiche, und fühlte sich absolut fantastisch an. Es waren keinerlei Kratzer oder Schäden dran, so als, ob er gerade erst gekauft wurde. Einfach alles wirkte so edel und hochwertig, irgendwie im totalen Gegensatz zu seinem Besitzer.

Man erwartet von einem Mann wie Samuel nicht solch einen kostspieligen Luxus. Man erwartet eher eine bescheidene Einrichtung mit nur wenig Dekorationen, mehr Schlcihtheit.

»So, Käpt‘n«, sagte Seb, »erzählen Sie mal was über sich. Ein alter Seebär wie Sie, hat bestimmt schon viel in seinem Leben gesehen. Wie wäre es, wenn Sie etwas davon mit uns teilen würden?« Die anderen, mich eingeschlossen, nickten zustimmend.

Der Käpt‘n lächelte. »So, so ihr wollt also etwas über den alten Sam erfahren? Nun gut, es ist immer schön, wenn jemand an den Geschichten der Alten interessiert ist. Aber nur unter einer Bedingung: Ich möchte eure Geschichten ebenfalls hören. Abgemacht?«

Alle antworteten gleichzeitig mit: »Abgemacht.«

»Gut, gut, aber ich muss erst etwas ausholen für meine Geschichte, ich hoffe, es macht euch nichts aus?«

Er sah fragend in die Runde, keiner widersprach.

Er fuhr fort: »Also gut, ihr solltet wissen, die Familie Clements war schon immer ein stolzes und loyales Mitglied der Handelsgesellschaft, seit ihren frühen Anfängen. Die Berufe, die sie hatten variierten von Zeit zu Zeit, aber die meisten Mitglieder meiner Familie schlossen sich der Flotte an. So auch mein Großvater, ein guter Mann, er war ein wirklicher Held. Er lebte zur Zeit des Imperiums, doch er blieb der Handelsgesellschaft treu bis zum Ende. Das Schiff, auf dem wir reisen, gehörte ursprünglich ihm. Mit diesem ist er über die gesamte Welt gefahren, hat überall Rebellen mit Vorräten, Munition und Waffen beliefert. Er allein hat eine ganze imperiale Kriegsflotte ausgetrickst und abgehängt, er war ein ziemlicher Dorn im Auge der Admiräle, die hohe Kopfgelder auf ihn aussetzten, doch sie konnten ihn nie schnappen. Bald war der Krieg ja auch vorbei, mein Großvater bekam einen Sohn, meinen Vater. Er kämpfte erbittert gegen diese verfluchten Roten Hämmer. Er konnte sie zwar nicht besiegen, aber ließ sich nicht unterkriegen, blieb trotz allem beim Unternehmen. Irgendwann wurde ich dann geboren und sobald ich achtzehn Jahre alt war, trat ich auch der Handelsgesellschaft bei. Ich fing als einfacher Matrose an und mauserte mich bis zum Kapitän. Als mein Vater verstarb, vermachte er mir die Lovecraft.«

An dieser Stelle unterbrach ich ihn: »Stimmt, da war ja was, sie wollten mir noch erzählen, warum es Lovecraft heißt?«

»Ach ja! Ich erinnere mich, der Grund ist auf der einen Seite banal und auf der anderen einleuchtend. Der Grund warum das Schiff so heißt, ist weil mein Großvater und meine Großmutter hier drinnen meinen Vater gezeugt haben.«

Die Gesichtsausdrücke der Mannschaft wandelten sich von Ekel, zu Verwirrung bis hin zu amüsiert.

Am Ende lachten alle.

»Aber genug davon, sonst könnt ihr Weicheier die Nacht nicht schlafen. Wie dem auch sei, in meinem langen Leben habe ich so einiges an Abenteuern erlebt. Einmal habe ich gegen Sant Derrische Piraten gekämpft, die zwei Schiffe der Handelsgesellschaft entführt hatten. Einer von diesen Bastarden hat mir ein Messer ins Auge gerammt, falls ihr euch fragt, warum ich eine Augenklappe trage, daraufhin habe ich ihm seine Hand und seinen erbärmlichen Arm gebrochen. Ihr hättet mal das arme Schwein sehen sollen! Der Gesichtsausdruck war einmalig und wie der gejault hat! Harr! Klang wie ein Wolf mit Syphilis! Hach, das waren noch gute Zeiten …«

Er lehnte sich zurück und sah mit einem verträumten Blick in die Ferne.

»Hach ja, das Alter nimmt einem Vieles. Heutzutage kann ich natürlich nicht mehr so viel erleben, wie damals. Die letzten Jahre war ich die meiste Zeit auf dem Trockenen, war von Bar zu Kneipe gepilgert und hab viel, sehr viel getrunken. Ständig saß ich in irgendwelchen dunklen Ecken und hörte die Geschichten der jungen Leute, manchmal voller Neid«, sagte er mit einer leichten Traurigkeit in der Stimme.

»Aber mein Leben hat ja eine Wendung genommen, als ich diesen jungen Herrn erblickte«, er nickte zu mir, »dieser Mann hat meinen Leben einen neuen Sinn verliehen. Er gab mir ein neues Abenteuer, wenn es auch mein letztes ist, und gab mir die Gelegenheit dabei auch etwas Gutes zu tun. Ein dreifaches Hoch … auf Howard Phillips, der Mann, der das hier erst möglich machte!«

Die versammelte Menge jubelte und hob ihre Gläser.

»So, jetzt hab ich aber genug gefaselt! Hey du, Grünschnabel!«, er blickte zu Seb. »Jetzt bist du dran mit erzählen!«

Seb nahm einen großen Schluck Bier, lehnte sich zurück und sprach: »Wie du willst, alter Mann. Aber ich werde bei meiner Geschichte nicht so weit ausholen. Meine Familie ist nicht so spannend. Nur so viel, mein Vater unterrichtet Menschenkunde an der Universität in Regiis, meine Mutter ist Krankenschwester. Alles nicht wirklich aufregend, weshalb ich diesen Weg nicht einschlug. Sobald sich die Gelegenheit ergab, haute ich von zu Hause ab.

Ich begab mich nach Hafenau, setzte mich in das nächste Schiff und fuhr nach Afrenkor. Dort angekommen, schloss ich mich einer örtlichen Söldnerbande an und lebte bei ihr. Mein Tag bestand darin zu patrouillieren, Gewehre zu putzen, Latrinen zu säubern, … Also, immer noch nicht die erhoffte Action. Das sollte sich aber bald ändern, denn unsere Kaserne wurde von Banditen überfallen, die scharf auf die dort gelagerten Waffen und Munition waren. Die Schwachköpfe hatten auf einen leichten und schnellen Sieg gehofft, da sie uns überraschen konnten. Doch sie hatten sich zu früh gefreut, meine Kameraden kämpften erbittert, denn es wäre eine Schande gewesen, hätte dieser unorganisierte Haufen von degenerierten Hinterwäldlern gewonnen.

Und so kämpften wir, ich eingeschlossen. Es war das erste Mal, dass ich auf lebendige Ziele schoss, dafür stellte ich mich gar nicht so blöde an. Wenn ich mich recht entsinne, konnte ich ein halbes Dutzend von ihnen ins Grab schicken.

Nachdem wir den Ansturm abgewehrt hatten, schauten wir uns die Verluste an, die gar nicht mal so hoch waren. Wir hatten drei Verwundete und einen Toten zu beklagen, während der feindliche Trupp nahezu ausgelöscht war. Dem Kommandanten fiel auch auf, dass ich mich gut geschlagen hatte, weshalb er entschied, dass ich auf Missionen mitkommen durfte.

Und von da an wurde mein Leben erst richtig interessant. Ich reiste mit meiner Truppe durch ganz Afrenkor, besuchte die verschiedensten Dörfer und Städte und tat alles, was man sich nur vorstellen konnte. Ich griff Konvois an, steuerte selber Konvois, rettete Geiseln, kämpfte gegen Warlords und Piraten. Einmal kämpfte ich sogar an der Seite von schwer gepanzerten Soldaten der Globalen Armee.

Das war großer Spaß, ich fühlte mich so lebendig. Irgendwann entschied ich mich aus der Truppe auszutreten und mein eigenes Ding zu drehen. Ich reiste zurück nach Gonzzoles, wo ich verschiedene Aufträge auf eigene Faust durchführte. Später zog es mich nach Lorgon, wo ich Steven kennenlernte und wir so etwas wie Freunde wurden. In Lorgon arbeitete ich größtenteils Aufträge von Privatpersonen und Polizei ab, ich muss ehrlich gestehen, es hat mir eine Menge Spaß gemacht, es war aufregend, es gab immer irgendetwas zu tun und ich wurde gut bezahlt. Was will man mehr, frage ich euch?«

»Was ist eigentlich mit deinen Eltern? Habt ihr euch je wiedergesehen?«, fragte Tom neugierig.

»Kurz gesagt: nein. Seit ich von Zuhause weglaufen bin, habe ich weder meine Mutter noch meinen Vater gesehen und ich bin darüber nicht wirklich traurig. Die beiden waren Spießer durch und durch, nichts, aber auch gar nichts, hätte mich dort halten können, dafür waren wir einfach zu verschieden. Ich wollte einfach nicht deren Leben nacheifern, ich wollte mein eigenes, weshalb ich mich schließlich entschied alle Verbindungen zu meinen Eltern zu kappen, um endgültig frei zu sein.«

Er holte kurz Luft und sprach in einer spöttischen Stimme weiter: »Und nun sitze ich auf einem alten Seelenverkäufer Richtung Spukinsel, um gegen Geister und Dämonen zu kämpfen. Wahrscheinlich rette ich nebenbei noch eine Prinzessin vor einem bösen Monster. Hahaha …«

Seb nahm sein Glas und trank bis auf den letzten Tropfen aus.

Währenddessen holte der Käpt‘n eine silberne Taschenuhr aus seiner Jacke und sagte: »Huch, beim Klabautermann! Schon so spät? Wir sollten uns alle ausruhen gehen, denn wenn ich ehrlich bin, ich würde mich dann doch gerne schlafen legen. Wir können die restlichen Geschichten morgen hören.« Nachdem der Käpt‘n es ausgesprochen hatte, fingen einige auch schon an zu gehen. Wir tranken unsere Gläser leer und verschwanden dann einer nach dem anderen im Bett.

Kapitel XII

Am nächsten Abend saßen wir, wie versprochen, wieder im Zimmer des Käpt‘ns zusammen. Diesmal war Tom an der Reihe um seine Geschichte zu erzählen.

»Ich muss gestehen, meine Story ist nicht mal ansatzweise so spannend wie die letzten beiden. Sie ist mehr … alltäglich. Ich … äh … bin schließlich kein Abenteurer, oder irgendeine Form von Held, ähm …«

»Nun red nicht um den heißen Brei, Tom. Tandemincipunt!«, unterbrach ihn Steven.

»Schon gut, schon gut! Also, ich komme aus Lorgon, genaugenommen aus einer kleinen Stadt namens Ursadt, ihr wisst schon, diese Stadt, die früher einmal Teil einer größeren war.

Wie dem auch sei, abgesehen von der recht interessanten Geschichte der Stadt gab es dort nichts Nennenswertes, die Schmidts lebten ja schließlich nicht mehr dort. Das Leben war recht einfach und langweilig. Mein Vater war der Sekretär des Bürgermeisters, falls euch das interessiert.

Sein Traum war es, dass aus mir etwas Besseres werde. Er wollte immer, dass ich hoch hinaus komme, auch für meine Geschwister wollte er das, aber auf mich war er besonders fixiert.

Ständig musste ich Förderunterricht nehmen, ständig zum Klavier- und Tanzunterricht oder zum Chor. Wenn andere Kinder draußen spielten, durfte ich im Haus sitzen und lernen, von früh bis spät. Algebra, Geometrie, Biologie, Geografie, Geschichte, Sprachenkunde, Altsprachenkunde, das volle Programm.

Durch das exzessive Lernen hatte ich nicht wirklich viele Freunde, die einzigen die ich so nennen durfte, waren Steven und Howard«, er nickte uns beiden zu und fuhr dann fort, »Mit ihnen hatte ich immer viel Spaß und das, obwohl Steven einige Jahre älter war. Trotzdem war er immer gut zu mir.« Steven zeigte ein breites Lächeln, auch ich konnte mir keines verkneifen, als ich an die alten Zeiten zurückdachte.

»Nachdem ich meine Schulkarriere mit einem absolut fantastischen Zeugnis abschloss, trug ich mich in der Kevin-Jähns-Universität ein, wo ich gerade Medizin studiere. Und ich muss sagen, dass Studentenleben gefällt mir sehr, jetzt wo mein Vater mir nicht mehr zu sehr auf die Pelle rückt. Endlich kann ich Dinge tun, die mir gefallen. Endlich kann ich spannende Dinge tun, wie hier, auf Reisen gehen und etwas erleben, etwas wirklich Wichtiges entdecken. Es ist … einfach wunderbar.«

»So, das heißt ja wohl … das ich jetzt dran bin!«, verkündete Steven. »Also, meine Vorfahren kamen ursprünglich aus Sant Derres, wo sie als Arbeiter in einer imperialen Waffenfabrik tätig waren. Nachdem der Imperator tot war, und das Imperium untergegangen, zogen sie nach Lorgon, um dort ein besseres Leben zu führen.

Sie bauten sich dort einen kleinen Blumenladen auf, weil sie genug davon hatten, Dinge zu bauen, die nur Tod und Verderben bringen.

Viele Jahre später wurde ich dann geboren, als zweitältestes Kind meiner Mutter und meines Vaters. Im Gegensatz zu meinen Eltern, interessierte ich mich aber nicht für das simple Blumengeschäft, meine Leidenschaft lag ganz woanders.

Ich interessierte mich nämlich für das Alte, für die Vergangenheit. Schon damals in meiner Schulzeit, wo ich meinen besten Freund Howard kennenlernte«, er zeigte auf mich, »gingen wir gemeinsam auf Entdeckungsreisen, wir erkundeten stundenlang die umliegenden Wälder in der Hoffnung irgendetwas zu entdecken. In den Ferien durchsuchten wir alte Höhlen, verlassene Gebäude und die alten Wälder Lorgons, immer unter Aufsicht von Howards Onkel Georg.

Es war … eine tolle Zeit, eine Zeit, an die ich mich immer wieder gerne zurückerinnere. Natürlich war nicht immer alles eitel Sonnenschein, es gab auch immer mal wieder Ärger. Howard, kannst du dich noch an die Tochter von diesem Regierungstypen erinnern?«

»Ja klar, Cindy war ihr Name. Ihr Vater hätte dich fast hinter Gitter gebracht«, sagte ich lachend.

»Ach komm, nur weil ich ein bisschen Spaß mit seinen Töchterchen hatte …«

»Steven, ihr habt es in seinem Auto getan und dann hast du die Vordersitze auch noch vollgekotzt!« Mein Lachen war kaum noch zu halten, jeder andere im Raum fing ebenfalls an laut zu lachen, selbst Steven fing an.

Nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte, sagte er: »Okay, okay, okay, ich gebe es ja zu, es war schon ziemlich schlimm, he, he, aber er hätte nicht gleich eine Staatsaffäre daraus machen sollen. Wie dem auch sei, das war nur eins von vielen Beispielen meiner Misadventures. Nachdem ich fast lebenslang für meine Schandtat bekam«, er sagte dies auf eine überaus ironische Weise, »schloss ich die Schule mit Bravour ab und meldete mich ebenfalls in der Kevin-Jähns-Universität an, um dort Geschichte zu studieren und eines Tages vielleicht ein berühmter Historiker zu werden. Und ich glaube, … diese Reise wird mein Durchbruch sein. Ich werde eine Jahrhunderte alte Verschwörung aufdecken und damit meinen Namen in den Geschichtsbüchern verewigen. Es wird … phänomenal! Das verspreche ich euch, Leute. Wir werden berühmt! In celebritas!«, rief Steven und hob sein Glas, woraufhin wir alle anstießen.

Es war dann auch an der Zeit, dass ich meine Geschichte präsentierte, doch ein Blick auf die Uhr verriet mir, es war eher Zeit ins Bett zu gehen und zu schlafen, weshalb ich mich dann auch von den anderen verabschiedete und in meine Kajüte verschwand.

Kapitel XIII

Am nächsten Morgen stand ich an der Reling und starrte zum Horizont, was ich dort sah, gefiel mir ganz und gar nicht. Wir bewegten uns auf eine absolut tiefschwarze Front zu.

Der Käpt‘n erschien neben mir: »Hmmm, sieht nach einem ziemlich starken Gewitter aus. Aber mach dir keine Sorgen«, er schlug mir mit der Hand auf den Rücken, »die Lovecraft hat schon ganz andere Dinge überlebt, da wird sie ja wohl ein Stürmchen aushalten, harr!«

Er lachte und ging zurück zur Brücke. Mir selbst war nicht so heiter zumute. Die dunkeln Wolken kamen immer näher und sahen wahrlich bedrohlich aus, wie die Vorboten des Todes.

Auch meinen Kameraden war mulmig zumute, Seb wurde noch grüner als sonst.

Ungefähr eine halbe Stunde später waren wir mittendrin im Geschehen. Es fing relativ sanft an, doch mit der Zeit wurden die Wellen immer größer, der Wind immer heftiger.

Das Schiff schwankte extrem, es wurde von den Wellen hin und her geworfen, wie bei einem Spiel zwischen zwei Kindern. Der Wind tobte mit einem eisigen Heulen, das Schiff wurde zu einem Spielball der Naturgewalten. Blitze, heller als ich je welche sah, zuckten am schwarzen Himmel, der Regen fiel wie aus Eimern. Ständig schwabbte Wasser aufs Deck, Fische landeten darauf und zappelten.

Es war einfach grausig, ich versuchte zu flüchten, stürzte aber.

Während ich auf dem Boden lag und versuchte mich irgendwo festzuhalten, hörte ich, wie der Käpt‘n auf der Brücke lauthals schrie: »Das ist alles was du mir zu bieten hast? Haarr, das ich NICHT lache! Das ist doch gar nichts! Komm, zeig es mir!«

Ich zog mich an einem Seil hoch und rannte in meine Kajüte. Ich kam an einem der vier Matrosen vorbei, der in der Ecke saß, vollkommen bleich im Gesicht.

Ich rannte weiter und schloss die Tür hinter mir zu. Ich sprang in meinen Stuhl und klammerte mich daran fest.

Das Schiff schwankte und schwankte und schwankte. Der Regen und die Wellen schlugen an mein Bullauge mit einer Kraft, die ich nicht für möglich hielt. Draußen grollte der Donner, wie das Brüllen einer gigantischen Bestie.

Ständig zuckten die Blitze, und das Schiff schwankte und schwankte. Das Schwanken wurde immer stärker, immer intensiver, immer grauenhafter, bis es einen Punkt erlangte, wo ich glaubte, dass es mit mir vorbei ist. Ich schickte ein Stoßgebet zu allen Helden und Göttern, die ich kannte und hoffte, dass sie mich hören.

Doch es schien, als waren sie in diesem Moment taub, denn das Schwanken wurde noch stärker, das Donnergrollen noch lauter.

Alles kam mir vor, wie in einem Fiebertraum und um dem Fass den Boden auszuschlagen, hörte ich, entgegen jeglicher Möglichkeit, wie der Käpt‘n wie ein Wahnsinniger lachte, obwohl ich mir bis heute nicht sicher bin, ob ich mir das nicht doch eingebildet hatte.

Trotzdem war es ein Alptraum, das Donnergrollen, der heulende Wind, der Regen, die Wellen, das manische Lachen, all das ergab eine wahrlich dämonische Symphonie. Der Tod griff mit seinen kalten Klauen nach uns, ich spürte es. Ich war in einem Zustand völliger Angst, einer Angst wie ich sie noch nie zuvor gespürt hatte.

Mein Atem war schwer, ich schwitzte literweise Angstschweiß, ich glaube, sogar meine Blase hatte sich in diesen Moment unkontrolliert entleert. Irgendwann wurde ich, den Göttern sei Dank, bewusstlos. Als ich einige Zeit später erwachte, blickte ich in die schönen Augen von Steve.

Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, ich wäre gestorben und ins Ewige Jenseits übergegangen, doch es war ein Trugschluss, ich befand mich immer noch am Bord der Lovecraft, genau genommen lag ich auf dem Boden meiner Kajüte. Ich hob den Kopf und lauschte: kein Grollen, kein Regen, kein Wind. Ich legte den Kopf zurück und atmete erleichtert aus: »Es ist vorbei, es ist vorbei, endlich.«

»Jaa«, antwortete Steven, »wir haben es alle mehr oder weniger überlebt, na ja, Seb eher weniger, dessen Kajüte sieht … unappetitlich aus, um es vorsichtig zu formulieren.« Ich lächelte und Steven half mir hoch.

»Aber es gibt auch gute Nachrichten, komm.«

Er führte mich nach draußen aufs Deck.

»Ich denke, wir haben unser Ziel bald erreicht.«

Sein Finger zeigte auf eine wortwörtliche dichte Nebelwand, nicht weit von uns entfernt, unser Ziel.

»Wir haben das Schlimmste überstanden, jetzt ist es nur noch ein Katzensprung«, sagte er mit regelrechter Euphorie.

Kapitel XIV

Wenig später drangen wir in den Nebel ein, den anderen Matrosen war die ganze Sache überhaupt nicht geheuer, sie standen eng zusammen, flüsterten einander zu. Ich musste ihnen recht geben, es war ziemlich unheimlich in diesem dichten Nebel zu stehen, wo man die eigene Hand vor dem Gesicht kaum sehen konnte. Was mich allerdings mehr verstörte, war nicht die Dichte oder die Menge des Nebels, sondern mehr der Nebel selbst. Er schien … unnatürlich zu sein. Er fühlte seltsam schleimig an und roch verfault, verrottet, fast schon wie der Gestank, der von einer Leiche ausgeht.

Auch jetzt wenn ich daran zurückdenke, bekomme ich eine Gänsehaut und der widerwärtige Geruch steigt mir wieder in die Nase.

Ich sah, dass Tom sich an die Reling stellte und auf das Meer hinaus starrte. Nach einer kurzen Zeit gesellte ich mich zu ihm: »Tom, ist irgendetwas? Du siehst… besorgt aus.«

Er sah mich nicht an, sondern starrte weiter: »Ich … weiß nicht. Ich … ich dachte, ich hätte etwas gesehen … im Wasser.«

Ich schaute aufs Meer: »Etwas gesehen? In solch einem Nebel?«

»Na ja, ich habe nichts direktes gesehen, nur … eine … Art Schatten. Irgendein großer, unförmiger Schatten. Aber jetzt sehe ich nichts mehr… Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet, war bestimmt nur irgendeine optische Täuschung.«

Er schüttelte den Kopf und ging von der Reling weg.

Steven sagte: »Das ist aber merkwürdig.«

Seb antwortete darauf: »Was denn?«

»Na, hört mal.«

Alle lauschten angestrengt, bis Seb sagte: »Was ist denn da? Ich höre doch nichts!«

»Das ist es ja. Wir hören nichts. Absolut nichts. Keine Wellengeräusche. Kein Wind. Nicht mal irgendwelche Möwenlaute. Es ist … nichts. Stille. Totenstille.«

Alle waren sichtlich beunruhigt, doch der Käpt‘n sprang ein: »Jetzt scheißt euch mal nicht gleich in die Hose. Natürlich hören wir nichts, wir sind mittendrin im dichten Nebel, der dämpft alles ab.« Der Käpt‘n ging zurück zu seiner Brücke, auf dem Weg dorthin sprach er kurz mit seinen Matrosen, wahrscheinlich sagte er ihnen, sie sollen sich bereit machen.

Ich nutzte die Gelegenheit und ging in meine Kajüte, um meine Kamera zu holen. Ich wollte schon mal einige Bilder machen, bevor ich es vergaß. Als ich zurückkam, waren Steven und Seb gerade in einem Gespräch: »Und Seb? Hast schon Angst vor der Geisterinsel?«

»Tze«, erwiderte er, »es brauch schon etwas mehr als fauligen Nebel, um mir das Wort Furcht beizubringen. Ich sage immer noch, wir werden auf dieser Insel nichts vorfinden, außer vielleicht ein paar alte Knochen und verlassene Ruinen.«

Und mit diesen Worten ging er, währenddessen stellte ich meine Kamera auf und begann mit den Aufnahmen. Es waren keine spektakulären Bilder, es war schließlich nur Schiff und endloser Nebel vorhanden, aber immerhin etwas.

Langsam sahen wir eine große Landmasse im Nebel auftauchen, einer der Matrosen rief: »Land ahoi!«

Allmählich wurden Silhouetten von alten Gebäuden sichtbar. Aber nicht nur Gebäude wurden sichtbar, auch andere, im Wasser befindliche Dinge, tauchten auf. Und dabei bekamen alle, ausnahmslos alle, ein ungutes Gefühl. Es waren die Überreste unzähliger Schiffe, von alten Holzschiffen bis hin zu relativ modernen Frachtern war alles vertreten. Steven behauptete, er hätte sogar einen abgestürzten Flieger des Imperiums gesichtet. Wir waren in einem echten Schiffsfriedhof angekommen.

Als wir immer weiter gelangten, begann der Nebel sich langsam zu lichten, die Sicht wurde klarer, doch der elende Gestank blieb. Ich nahm absolut alles mit meiner Kamera auf, denn die Sache wurde sehr interessant. Als der Nebel sich endgültig aufgelöst hatte, konnten wir das ganze Ausmaß des Friedhofes erkennen. Es waren dutzende, wenn nicht gar hunderte von Schiffen, überall im Wasser verteilt. Ihre Reste ragten stumm aus der Wasseroberfläche, verstummte Zeugen vergangener Zeiten. Es waren all die Schiffe, welche es nie geschafft hatten zurückzukehren.

Kapitel XV

Kurze Zeit später kamen wir an einer alten Anlegestelle an, der Käpt‘n ließ den Anker auswerfen und befahl seinen Matrosen alles fertig zumachen.

»So, meine Herren«, sprach er, »wir wären dann an unserem Ziel angekommen. Und bis jetzt haben wir alles überstanden, ohne irgendwelche Verluste. Eidos, Squar und Eddi, ihr bleibt bei mir auf dem Schiff, während Charly«, er sah zu dem anderen Schwarzmenschen, »unsere Freunde begleiten und Unterstützung geben wird. Verstanden?«

Die vier, völlig verängstigten, Matrosen nickten, wenn auch widerstrebend.

Ich schnappte mir mein Stativ und meine Kamera und verließ das Schiff. Dicht hinter mir kamen Steven, Tom, Charly und Seb, mit einer Maschinenpistole im Anschlag.

Steven sagte zu ihm: »Nanu? Wozu brauchen wir denn die hier? Ich dachte, du hast keine Angst?«

Seb reagierte relativ gereizt darauf: »Sicherheitsmaßnahmen. Man weiß ja nie, was für ein Gesocks sich auf diesen Inseln rumtreibt. Du wirst mir sicher dankbar dafür sein, dass ich sie mitgenommen habe. Außerdem wolltet ihr doch unbedingt einen Söldner und ich kann kein guter Söldner sein, wenn ich meine Waffe nicht habe.«

Steven lachte.

»Ja ja, lach nur«, grunzte Seb.

Jeder im Team nahm sich eine Taschenlampe, die von Eidos ausgeteilt wurden. »Okay, ist dann jeder bereit?«, fragte Seb.

Alle nickten zustimmend.

»Na dann los!«

Wir verließen die Hafengegend und sahen auch endlich die Häuser von Nahen. Es waren wirklich alte Backsteinhäuser, etwas verfallen, aber immer noch im guten Zustand.

»Schon seltsam, eigentlich müssten die Häuser längst nur noch überwucherte, verfallende Ruinen sein, stattdessen sind sie in einem ziemlich respektablen Zustand, dafür, dass sie konstant irgendwelchen Umwelteinflüssen ausgesetzt sind«, bemerkte Steven.

»Na ja, vielleicht konserviert der Nebel ja alles«, ergänzte Tom.

»Gut möglich, aber der Nebel scheint nicht bis hierher vorzudringen. Und überhaupt, woher kommt er? Was haben diese Irren hier gemacht?«, sagte Steven, aber eher zu sich selbst als zu den anderen.

Wir entschieden in eines der Häuser reinzugehen, um es von innen zu erforschen. Wir nahmen gleich das, welches sich auf der linken Seite von uns befand. Es war anscheinend eine Unterkunft, die für die damaligen Arbeiter von DMT gedacht war.

Das Haus war relativ gemütlich, überall lagen jedoch Gegenstände verstreut, so, als ob die Bewohner überstürzt geflohen waren. Wir versammelten uns alle im Esszimmer, als wir plötzlich laute Geräusche über uns hörten, eine Art Kratzen und Poltern.

»Was war das?«, flüsterte Tom.

Seb lauschte: »War sicher bloß eine Ratte, macht euch keine Sorgen.«

Steven warf jedoch ein, dass es sich unmöglich um eine einfache Ratte handeln könnte.

Seb sah ihn mit einen genervten Blick an und entsicherte seine Waffe: »Wie schon gesagt, macht euch keine Sorgen!«

Ich filmte noch schnell den Rest des Zimmers, wir waren kurz davor das Haus wieder zu verlassen, als wir wieder die Geräusche von oben hörten, diesmal hörten sie sich an, als würde jemand im oberen Raum auf und ab gehen.

»Ziemlich große Ratte, nicht wahr Seb?«, höhnte Steven.

Seb machte mit einer Handbewegung das Zeichen, dass wir alle still sein sollen. Das Poltern und Kratzen erklang wieder, diesmal noch lauter. Seb bedeutete uns, in die Hocke zu gehen, wir alle horchten auf. Das Ding von oben bewegte sich wieder, hin und her.

»Das hört sich an … als würde dort jemand mit … mit Scheren an den Füßen auf dem Boden herumlaufen«, flüsterte Tom, Seb zischte ihn dafür an, und zeigte den Befehl für das Ausschalten der Taschenlampen.

Es wurde dunkel, sehr dunkel im Raum, alle waren sichtlich angespannt. Wir hörten, wie auf einmal etwas die Treppe herunterging, irgendetwas Großes. Die Treppenstufen knarzten und ächzten unter dem Gewicht des Dinges.

Seb bedeutete uns schnell ein Versteck zu suchen, ich schaltete meine Kamera aus und versteckte mich hinter einem Sessel. Gerade rechtzeitig wie sich zeigte, denn das Wesen betrat das Esszimmer. Und ich schwöre, bei allem was heilig ist, was auch immer das Ding war, es war alles andere als … menschlich … nicht einmal irdisch.

Aus meinem Versteck konnte ich einen Blick auf die Kreatur werfen, und dankte dem Schicksal, dass das Licht aus war, sonst hätte ich nicht garantieren können ruhig zu bleiben. Schon jetzt, wenn ich daran zurückdenke, bekomme ich einen Anflug von Panik.

Das Wesen war groß und unförmig, es bewegte sich auf allen Vieren, doch statt Händen hatte es … Scheren, als wäre es ein übergroßes Insekt. Sein Kopf war entfernt menschlich geformt, doch da endeten auch schon die Gemeinsamkeiten.

Sein Schädel war übersät mit gelb leuchtenden, pupillenlosen Augäpfeln, welche sich ständig bewegten und widerwärtig zuckten.

Es schwankte seinen grässlichen Kopf hin und her, seine Klauen schabten am Boden.

Es suchte, es suchte nach uns.

Es bewegte sich langsam in die Mitte des Raumes, wo ich es aus den Augen verlor.

Ich hörte nur das widerliche Klackern und Schaben der Klauen auf dem alten Holzboden. An meinem ganzen Körper brach der Angstschweiß aus, kalter Schweiß lief überall entlang, mein Atem wurde immer schwerer, mein Herz schlug immer schneller, ich stand kurz vor einer Panikattacke. Doch wie durch ein Wunder, hörte ich, wie die Kreatur sich umdrehte und sich wieder nach oben begab.

Ich atmete erleichtert aus und hörte, wie die anderen es mir gleich taten. Wir schnappten unsere Sachen und liefen so schnell wie möglich nach draußen, Seb schloss hinter uns die Tür.

Kapitel XVI

»Was bei allen Abgründen war das?«, keuchte Tom.

Ich schaute in die Gesichter meiner Gefährten, alle waren kreidebleich, jedem von ihnen stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben, ausnahmslos jedem.

»Und … Seb … was glaubst du jetzt?«, fragte Steven.

Seb stand einfach nur da, schwieg.

Es schien so, als würde er versuchen Worte zu finden, Worte, welche für diese Situation angebracht sind. Nach einiger Zeit stammelte er: »Ich … ich g-g-glaube … w-w-wir sollten … zurück … zurück … z-z-z-z … zum Schiff … gehen.«

Jeder war mit diesem Vorschlag einverstanden, auch ich. Wir sammelten uns kurz und marschierten dann direkt zum Schiff. Aus der anfangs heiteren Stimmung wurde eine düstere, gedrückte Haltung.

Niemand sprach auf dem Weg zurück, alle waren mit ihren eigenen, dunklen Gedanken beschäftigt. Jeder schaute sich nervös um, jeder erwartete, dass noch mehr Horror über sie hereinbrechen würde, alle fühlten sich nun … beobachtet.

Die alten Backsteinhäuser mit ihren kaputten Fenstern wandelten sich vor meinen Augen. Sie waren nun nicht mehr friedlich und ruhig, sondern unheimlich.

Ihre Fenster starrten mich hungrig an, sie starrten direkt in meine Seele. Die Häuser verwandelten sich in grausige hungrige Fratzen, die nur darauf warteten uns zu verschlingen, uns in ihr Inneres zu locken, wo die Schatten wohnen, Schatten aus unseren ärgsten Alpträumen.

Wir liefen schneller und schneller, nur weg von hier, nur weg von diesem Alptraum.

Wir kamen völlig aus der Puste am Hafen an, doch dort erwartete uns die nächste Überraschung.

»Käpt‘n!«, rief Steven. »Käpt‘n, wo sind sie?«

Niemand antwortete.

Nur unheilvolle Stille.

Der Käpt‘n war nicht zu sehen, genauso wenig wie seine drei Matrosen.

Sie waren verschwunden, vom Erdboden verschluckt.

»Keine Bange, vielleicht … vielleicht sind sie in ihren Kabinen oder im Frachtraum«, rief Seb und sprang auf das Schiff, um sie zu suchten.

Wir warteten am Ufer, die Minuten fühlten sich wie Stunden an. Als Seb wieder kam, war er nun endgültig bleich im Gesicht, von seiner ursprünglich türkisen Schuppenfarbe war nur noch weiß übrig.

»Niemand … niemand … i-i-i-ist auf … niemand …«, stammelte er und fiel auf die Knie.

Alle waren schockiert, Charly fing unkontrolliert zu schluchzen an.

»Wo sind sie denn hin? Wohin sind sie verschwunden?«, fragte Steven.

Niemand konnte eine Antwort darauf geben, alle wussten nur … der Käpt‘n und seine Crew waren nicht mehr hier.

»Vielleicht verstecken sie sich irgendwo. Vielleicht haben sie ja irgendetwas gesehen und sind dann geflohen?«, warf ich ein, in der Hoffnung es würde irgend jemandem helfen.

Doch niemand schien darauf zu reagieren, stattdessen fing Steven an sich im Kreis zu bewegen und mit sich selbst reden: »Wir müssen von hier weg, wir müssen von hier weg, und zwar schleunigst! Es muss einen Weg, es wird einen Weg geben, es muss einen geben, wir müssen von hier verschwinden!«

Tom unterbrach ihn: »Leute … es war doch noch gar nicht Abend, als wir hier ankamen, oder? Trotzdem ist der Mond schon draußen.«

Ich schaute, zum ersten Mal seit wir hier sind, zum Himmel und erschrak: »Das … ist kein … das ist kein Mond!«

Alle schauten gemeinsam nach oben und sahen … ein riesiges, graues, geschlossenes Auge. Und als es sich öffnete und sein grausames Inneres preisgab, fingen alle gleichzeitig an zu schreien.

Nachdem wir uns wieder einigermaßen beruhigt hatten, wenn man denn von Ruhe sprechen kann, versuchten wir uns zu erklären was hier eigentlich vor sich ging. »Das alles … das alles ist nicht wahr, oder? Das kann unmöglich wahr sein, es darf nicht wahr sein«, sprach Tom hastig.

Charly schluchzte noch immer, von ihm war keinerlei Hilfe zu erwarten.

»Okay … ich fasse das jetzt alles mal zusammen: wir haben eine verschwundene Schiffscrew, grauenerregende Monster auf einer verlassenen Insel und ein riesiges Auge am Himmel, das uns, verdammte Scheiße nochmal, ANSTARRT!«, erklärte Steven, »Ich denke, wir sind offiziell am Ende!«

»Vielleicht«, begann Seb zu flüstern, »vielleicht … hat uns der Sturm alle doch umgebracht und wir befinden uns jetzt in irgendeiner Art Limbo

Steven starrte ihn ungläubig an: »Das … das ist … ist absoluter Schwachsinn! Wir sind auf der gleichen Insel gelandet, wie schon so viele unglücklichen Seelen vor uns. Sehen wir der Wahrheit ins Gesicht, wir sind weder in der Tiefen Hölle, noch im Endlosen Abgrund, und auch nicht in einem Traum gefangen. Wir sind in der kalten, erbarmungslosen Realität, blicken wir der Wahrheit ins Gesicht!«

Wie schnell sich das Blatt doch wenden kann, erst waren wir voller Enthusiasmus und jetzt … voller Schrecken und Angst.

Keiner wusste, was wir jetzt tun sollten, als ich plötzlich in der Ferne seltsame Geräusche vernahm. Sie klangen wie … Worte. Zwar waren es Worte, welche mir absolut fremd waren, aber es gab mir Hoffnung.

Ich drehte mich zu meiner Gruppe um und sagte: »Leute, hört ihr das? Das klingt, als wären noch andere auf der Insel, eventuell helfen die uns!«

Alle starrten mich an, Seb fragte ängstlich: »Ist das dein Ernst? Sollen wir uns wirklich weiter ins Innere wagen?«

»Haben wir eine andere Wahl?«, warf Steven ein.

Wir schnappten uns unsere Sachen, ich ließ meine Kamera schweren Herzens zurück, doch ich glaubte, dass ich vorerst keine Verwendung mehr dafür habe. Somit machten wir uns auf den Weg, tiefer und immer tiefer ins Grauen.

Kapitel XVII

Wir folgten den Geräuschen, die aus der Mitte der Insel kamen. Je näher wir kamen, desto deutlicher wurden die Worte: »Iä, iä, iä, exurge domine! Iä, iä, iä, adventum domini!« Diese Phrasen wurden immer und immer wieder wiederholt.

Ein ganzer Chor schien diese Sätze zu sprechen, immer lauter und ekstatischer, als wären die Sprecher in eine Art Rausch gefangen. Die Worte waren mir absolut fremd, ich fragte Steven, der mir antwortete: »Es klingt wie … Latinom. Aber … ich kann keine genaue Übersetzung geben, das einzige was ich verstehe ist: Lord

Wir kamen der Quelle immer näher, wir konnten sogar eine Gruppe von Menschen (oder zumindest Humanoiden) ausmachen. Sie schienen alle sehr dunkel gekleidet zu sein, auf den zweiten Blick erkannte ich, dass sie schwarze Roben trugen.

Die Kuttenträger schwangen ihre Arme, gefangen in einem wilden Gebet, immer wieder wiederholten sie ihre Phrase und sprachen gemeinsam im Chor. Vor ihnen stand eine Person auf einem hölzernen Podest, dieser Mann … er begegnet mir immer noch in meinen Alpträumen. Er war eine grässliche Gestalt, direkt aus einen dämonischen Nachtmahr entsprungen.

Er ging auf dem Podest auf und ab, umgeben vom Licht der großen Fackeln, und dirigierte die Menge, das Gebet aufzusagen.

Ständig brabbelte er in einer krächzenden Stimme: »Iä, iä, iä, exurge domine! Adventum domini!« Seine Stimme war fest und schwankte nicht einmal, sie wurde sogar noch lauter. Was mich aber wirklich erschreckte, war sein Äußeres.

Von Weitem konnte man denken, er wäre ein absolut normaler Mensch, doch von Nahem betrachtet, springt einem die Wahrheit direkt ins Auge. Er trug eine alte, zerfetzte Hose und braune, dreckige Stiefel.

Er hatte kein Hemd an, sodass man erkennen konnte, dass sein ganzer Oberkörper von Brandnarben übersät war. Sein haarloser Kopf glich mehr einem Totenschädel mit zerfetzten Lippen und leeren Augenhöhlen. Sein Schädel … er steckte in einem alten, zylinderförmigen Eisenkäfig, aber es schien ihn selbst nicht zu stören.

Ich schaute in das Gesicht meiner Gefährten, auch sie waren absolut schockiert von dieser abstrusen Szenerie. Der abscheuliche Mann stoppte auf einmal sein Tun und alle verstummten.

Er starrte uns direkt an und sprach mit lauter Stimme: »Brüder, Schwestern, unsere Neuzugänge haben uns endlich erreicht! Dem Lord sei gedankt! Vielleicht sind sie ja die Wahren? Die Erlöser? Die Retter? Ich vermag dies nicht zu beantworten, nur unser Lord kann das! So! Bringt sie zu mir!« Die Kuttenträger gingen alle auf Befehl einen Schritt zur Seite, womit sie auch ihre Gesichter offenbarten.

Und damit war, glaube ich der Punkt erreicht, wo mein Verstand anfing entzweizubrechen. Ich schaute nicht in die Gesichter von Menschen oder Nichtmenschen, nein, ich schaute in die elenden Gesichter von Monstern.

Grausige Gestalten zeigten sich uns, überall wo man hinsah, entstellte, grausame Gesichter. Sie starrten uns mit glühenden Augen an, ich hörte, wie Tom anfing zu schreien. Wir drehten uns um, damit wir fliehen können, doch unser Weg wurde versperrt von weiteren grässlichen Gestalten. Einer von ihnen war ein menschenähnliches Wesen, nur mit dem Unterschied, dass ihm die komplette Haut fehlte.

Jeder einzelne Muskel war zu sehen, stellenweise ließen sich sogar Knochen entdecken. Eine andere Gestalt war mit vielen kleinen, gelben Augen übersät und hatte einen kreisförmigen Mund, umgeben von spitzen, dolchartigen Zähnen.

Seb nahm seine Waffe und feuerte in Richtung der Monster. Es entstand ein ohrenbetäubender Lärm, die Wesen sprangen reflexartig zur Seite. »Lauft! Lauft, verdammt nochmal! Ich … halte sie so lange auf!«, schrie Seb mit aller Kraft und feuerte weiter. Die anderen und ich begannen zu rennen und wie wir rannten.

Der Eisenkäfig-Mann rief irgendwelche Befehle, die ich aufgrund der Aufregung nicht verstand, doch ich entschied mich nicht nachzufragen. Wir rannten weiter, hinter uns hörten wir die verzweifelten Schüsse von Seb, danach einen herzzerreißenden Schrei, danach Stille.

Wir rannten weiter und weiter.

Ich sah eine Gasse, wo eine weitere monströse Gestalt stand: ein großer, wirklich großer, vollkommen schwarzer Mann. Sein Schädel war unnatürlicher Weise schmal und er starrte uns mit riesigen, roten, fast schon insektenartigen Augen an.

Er sprach: »Keine Angst! Folgt mir, ich kenne einen sicheren Weg!«

Wir blieben stehen, Steven sagte: »Warum sollten wir dir vertrauen?«

»Habt ihr eine andere Wahl?«, entgegnete der Schwarze Mann.

Nach einem kurzen Augenblick des Nachdenkens, entschieden wir uns dieses Risiko einzugehen und folgten dem mysteriösen Wesen in die dunkle Gasse.

Kapitel XVIII

Es war ein langer, verwinkelter Weg, durch verschiedene, dunkle Gassen, hinter uns die wütende Meute von Wahnsinnigen, ich hörte ihre unnatürlichen Rufe, ihr grässliches Jaulen. Doch die Geräusche wurden leiser, immer leiser, bis sie endlich verstummten. Wir hatten es schließlich geschafft, wir waren vorerst in Sicherheit.

Der Schwarze Mann blickte sich nervös um, horchte nach verdächtigen Geräuschen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Luft wirklich rein war, ging er in eines der Häuser rein, wartete, bis wir alle im Inneren waren und schloss erst dann die Tür.

Als er die alte Holztür hinter sich zu schloss, konnte ich echte Erleichterung auf seinem seltsamen Gesicht ausmachen. Nachdem nun alle zur Ruhe gekommen waren, konnte ich mir nun endlich ein genaues Bild von unserem mysteriösen Retter machen.

Er war wirklich, wirklich groß, er überragte mich leicht um mehrere Köpfe. Seine Haut war, wie ich schon vorher festgestellt hatte, pechschwarz wie die dunkelste Nacht, ich hatte noch nie ein Wesen mit einer solch schwarzen Hautfarbe gesehen.

Sein Kopf war schmal mit unnatürlichen rot leuchtenden Insektenaugen, ich konnte auch keinerlei Nase oder Mund oder sonstige Öffnungen im Gesicht erkennen.

Er erinnerte mich stark an diesen Rebellenhelden Faceless, von dem ich als Kind immer gerne Geschichten gelesen habe.

Der Schwarze Mann trug aber im Gegensatz zum alten Helden keine Lederjacke, sondern einen zerfetzten, sehr altmodischen, braunen Mantel, der aussah, als hätte er schon lange keine Reinigung mehr gesehen.

Der Schwarze Mann blickte uns an und begann mit freundlicher, aber doch nervöser Stimme zu sprechen: »Ich weiß … ich weiß, dass alles mag jetzt sehr … verwirrend sein … und wahrscheinlich auch … sehr unheimlich. Aber hört mir zu! Bei mir seid ihr sicher, hier wird euch Dagon vorerst nicht finden, Reynold weiß bestimmt schon längst das wir hier sind, doch er wird erst etwas Spaß haben wollen, bevor er seinen Anhängern Bescheid gibt.«

Steven schaute ihn völlig verdutzt an und sagte daraufhin: »Mal ganz langsam! Dagon? Reynold? Anhänger? Uns finden, Spaß haben wollen? Was bedeutet das alles? Wo sind wir? Und wer sind sie? Was ist das für ein schrecklicher Ort?«

Der Schwarze Mann wurde sichtlich verlegen, er sprach: »Wie gesagt, es muss jetzt alles sehr verwirrend sein, aber bitte, vertraut mir, ich habe das schon öfters gemacht, ich weiß was ich tue. Wir werden all eure … Fragen beantworten, aber … habt noch etwas Geduld.«

Der Schwarze Mann ging an uns allen vorbei, zum anderen Ende des Raumes, wo er sich hinkniete und eine Eisenluke öffnete.

»Folgt mir«, sagte er.

Und erstaunlicherweise folgten wir ihm alle ohne jegliche Bedenken. Ich ging voran, zum dunklen Loch im Boden und stieg die Leiter herunter, meine Kameraden folgten mir auf der Stelle. Unterhalb des Hauses befand sich ein großer Keller mit zwei Betten, einigen Regalen und Tischen.

Die einzige Lichtquelle war eine Kerze, die auf einem der Tische stand. Ich konnte in der hinteren Ecke des Raumes eine dunkle Gestalt ausmachen, war aber unfähig aufgrund der Lichtverhältnisse genau zu erkennen, um wem es sich dort handelte.

Als alle Raum waren, begann die schattenhafte Person zu sprechen: »Ahhhh Jack, hast anscheinend wieder einmal ein paar Besucher mitgebracht, ich dachte, wir wollten das nicht mehr?«

Der Schwarze Mann antwortete: »Du weißt doch, ich kann nicht anders. Ich … Ich musste helfen!« Die Person stand auf und begab sich langsam ins Licht.

Was dabei zum Vorschein kam, ließ uns alle zurückschrecken. Es war ein junger Mann, gekleidet in die alte, grüne Uniform der Ärzte. Sein Gesicht war entstellt, die eine Hälfte war durchzogen von ekelhaften schwarzen Venen, sein Auge war nur noch eine dunkle Ruine, Teile seines Kiefers und seiner Zähne waren auf der entstellten Seite zu sehen.

Er sah aus, als wäre er gestorben und nach einigen Wochen wiederauferstanden. Er sah anscheinend, dass wir nicht gerade begeisterte Gesichter machten, weshalb er sagte: »Ich weiß, ich muss ein furchtbarer Anblick sein. Doch fürchtet euch nicht, vor mir braucht ihr keine Angst zu haben, genauso wenig wie vor Jack. Wir beide sind … nicht so, wie die anderen Inselbewohner … wir sind keine von … denen. Von diesen … Monstern, Ungeheuern, Geschöpfen, wie man sie auch nennen mag.«

Er schaute betrübt drein, schüttelte dann aber den Kopf und sprach weiter: »Aber ich vergesse meine Manieren, wie ungeschickt von mir, ich habe uns noch gar nicht richtig vorgestellt. Ich bin … Doktor Hyde, DMT-Chefarzt dieser Insel, zumindest war ich das … bis hier alles vor die Hunde ging. Der lange Kerl da neben euch … den nennen wir Black Jack

»Wie das … Kartenspiel?«, fragte Tom irritiert.

»Ja, ganz genau«, antwortete Jack.

»Ihr müsst wissen«, fuhr er fort, »ich … erinnere mich kaum noch an mein früheres Ich, mein Ich vor dem allen hier, aber dieses Schicksal teilen fast alle Inselbewohner miteinander. Sie gelangen hierher, sind hier gefangen und vergessen sich selbst.«

»Halt, halt, halt!«, sprang Steven dazwischen, »jetzt mal ganz langsam, ich muss das erst mal hier richtig begreifen … Doktor … Hyde, richtig? Sie sagten, sie seien ein Arzt von DMT, aber DMT … existiert schon lange nicht mehr … Wie … wie ist das … Das ist … es ist völlig … unmöglich!«

»In der Tat, das ist es. Unmöglich. Vollkommen unmöglich. Doch trotz allem stehe ich vor euch, in Fleisch und Blut. Zwar nicht mehr so ansehnlich, aber trotzdem in irgendeiner Form lebendig

Steven stand völlig verwirrt da, er setzte an, um etwas zu sagen, als er plötzlich völlig weiß im Gesicht wurde, die Augen weit aufriss und plötzlich schrie: »Oh, Scheiße! Ohh, verdammte, verdammte Scheiße! Seb! Seb! Wir haben … wir haben Seb vergessen! Wir haben ihn zurückgelassen! Seb! Nein! Nein! Nein! Verdammt! Er ist immer noch dort draußen!«

Er schrie, fiel auf die Knie und fing an unkontrolliert zu schluchzen.

Ich stand, wie vom Donner gerührt da und fing an zu stottern: »Ist er … Ist er etwa … ?«

Jack sprang ein, bevor ich meinen Satz zu Ende gestammelt hatte: »Nein, ist er nicht. An diesem Ort existiert der Tod nicht. Hier gibt es nur endlose Qualen. Es gibt kein Entrinnen, es sei denn Reynold will es so.«

Steven richtete sich wieder auf und sprach: »Es muss eine Möglichkeit geben, wir … wir dürfen den Glauben daran nur nicht verlieren … Außerdem werde ich nicht zulassen, dass sie meinem Freund etwas antun! Wir werden ihn befreien und von hier verschwinden!«

Wir anderen, mich eingeschlossen, nickten zustimmend.

Jack reagierte darauf verständlicherweise entsetzt: »Seid ihr wahnsinnig? Habt ihr mir nicht zugehört? Ihr werdet es nicht schaffen, ihr werdet …“

Er wurde von Dr. Hyde unterbrochen: »Spare dir deinen Atem, Jack. Wie oft willst du diese Rede noch führen? Ich habe ehrlich gesagt, keine Lust mehr jedes Mal dasselbe Trauerspiel mitzumachen. Lass sie ziehen, sie müssen es selbst mitansehen, wie grausam das auch klingen mag.«

Jack schien wütend auf seinen Gefährten zu sein, doch schließlich nickte er: »Vielleicht hast du recht …«

Seine Augen richteten sich auf uns: »Geht. Geht und unternehmt euer hoffnungsloses Unterfangen. Ihr werdet schon sehen was ihr davon habt.«

Nach einer kurzen Überlegung drehte Steven sich um und begann die Leiter hochzusteigen, wir anderen folgten ihm.

Beim Herausgehen konnte ich noch die Worte von Jack vernehmen: »Welch arme Seelen. Es tut mir jedes Mal leid, wenn es auf die Art enden muss, es zerbricht mir quasi das Herz …«

Ich drehte mich noch einmal um.

Jack sah es und sprach eine letzte Warnung: »Passt auf. Hütet euch vor Dagon. Hütet euch vor dem Jäger. Und ganz besonders … hütet euch vor Reynold. Lasst euch nicht von ihm erwischen. Vertraut mir und passt auf euch auf.«

Kapitel XIX

Als wir wieder draußen waren, berieten wir uns, wie wir nun weiter vorgehen wollten. Tom begann Zweifel an unserem gesamten Vorhaben zu zeigen: »Ist … ist es wirklich so eine gute Idee? Sollten wir nicht lieber … auf die beiden hören?«

Steven wurde rot im Gesicht, seine Wut schwoll an: »Ob das eine gute Idee ist, fragst du? Du fragst, ganz ehrlich, ob das eine gute Idee ist? Du willst also lieber Seb seinem Schicksal überlassen? Das willst du also?«

Er begann Tom am Hemdkragen zu packen und nur durch das Eingreifen von Charly und mir konnte Schlimmeres verhindert werden.

Ich wandte mich zu Steven: »Beruhige dich jetzt! Streit wird uns nicht weiterhelfen, und schon gar nicht wird es Seb retten! Wir müssen jetzt ruhig bleiben und einen echten Plan ausarbeiten.«

Steven erlangte wieder normale Farbe im Gesicht, er holte einmal tief Luft und sagte dann: »Okay, ich verstehe … Es ist nur … Alles so … verrückt … So … Surreal.«

Ich fasste ihn an die Schulter: »Keine Sorge… wir werden schon einen Weg hier raus finden.«

Ich schaute in die Gesichter meiner Kameraden, ich sah nichts als Trost- und Hoffnungslosigkeit. Sie waren alle, verständlicherweise, niedergeschlagen.

Wer hätte nicht so gefühlt?

Allein auf einer Insel, gefangen mit Kreaturen aus Alpträumen?

Ich selbst fühlte mich mutlos, doch ich hatte trotz allem einen kleinen Funken Hoffnung. Ich erhob meine Stimme und erklärte ihnen meinen Plan, es war beileibe kein guter Plan, doch immerhin war er etwas.

Er war absurd simpel, zuerst gehen wir zurück zum Versammlungsort und von da aus würden wir systematisch, aber vorsichtig, die Gegend durchkämmen. Absurd simpel, theoretisch sollte dabei nichts schiefgehen. Doch leider ist das Leben keine schöngeschriebene Geschichte, wo alles so abläuft, wie der Autor sich das vorstellt.

Wir machten uns also auf den Weg zum Treffpunkt der Kultisten, immer bedacht dabei kein Lärm zu machen, um ja keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Tom blieb auf einmal stehen und starrte in eine der dunklen Gassen hinein, ich drehte mich um und fragte: „Tom, was ist? Ist da irgendetwas?“ Als er sprach, schaute er immer noch in die Gasse: »Ich … ich dachte, ich hätte da was gehört. Eine Art … weinen und schluchzen …«

Er schüttelte seinen Kopf: »War bestimmt nur meine Einbildung«, und ging weiter.

Die Gruppe war sichtlich angespannt, die Nerven lagen völlig blank.

Jederzeit könnte einer der Kultisten oder eine dieser grässlichen Kreaturen aus irgendeiner Gasse herausspringen und uns überwältigen. Glücklicherweise war dies nicht der Fall und wir schafften es, heil und unversehrt zur ungefähren Mitte der Insel (wobei ich mir nie wirklich sicher war, und es auch immer noch nicht bin, ob das wirklich die Mitte war).

Der Platz war wie leer gefegt, als hätten sich die missgestalteten Wesen in Luft aufgelöst. Doch trotzdem ließ mich mein Gefühl, dass wir beobachtet würden, einfach nicht los. Als ich in die Gesichter meiner Freunde sah, konnte ich in ihnen dasselbe Gefühl erkennen.

Besonders Steven war gespannt wie eine Feder, seine Augen zuckten ständig von Fenster zu Fenster, von Haus zu Haus. Tom lauschte angestrengt in alle Richtungen und Charly … er starrte einfach nur geradeaus, ohne jegliche Gefühlsregung im Gesicht.

Mein Gefühl einer nahenden Bedrohung wurde immer stärker, irgendeine Form von dunkler Präsenz nagte an mir.

Ich konnte dieses Gefühl nicht sicher einordnen, es war eine Art von Vorahnung. Eine Vorahnung, das etwas Schreckliches passieren wird. Als es mir klar wurde, war es schon längst zu spät. Ein bedrohlicher Schatten stürzte sich von einem der Dächer mitten in unsere Gruppe herab.

Was danach geschah, passierte in unglaublicher, unmenschlicher Geschwindigkeit. Der Schatten schlug nach Tom und traf ihn am Bauch, er schrie qualvoll auf.

Steven konnte gerade noch der Attacke ausweichen, doch Charly hatte weniger Glück, die Kreatur schlitzte ihm den gesamten Rücken von unten bis oben auf. Danach blickte der Schatten in meine Richtung, unsere Augen trafen sich und ich konnte einen Blick auf das Gesicht des Ungetüms erhaschen.

Was ich sah, werde ich meinen Lebtag nicht vergessen. Die Kreatur hatte etwas vollkommen Animalisches an sich, sie glich mehr einer grausamen Bestie als einem Humanoiden. Das Gesicht war keineswegs menschlich und es gehörte auch keiner anderen Rasse an.

Nein, dieses Gesicht war etwas anderes, genaue Details blieben mir aufgrund der Lichtverhältnisse erspart und doch erkannte ich die pure Grausamkeit hinter dem schattenhaften Gesicht. Die Kreatur sprang in die Luft und war somit genauso schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Erst dann begriff ich wirklich, was passiert war.

Tom und Charly schrien vor unsagbaren Schmerzen. Tom hatte eine klaffende, tiefe Wunde am Bauch, wo Blut unaufhörlich hinausströmte. Charly ging es nicht besser, sein gesamter Rücken war aufgeschlitzt. Beide schrien und schrien, sie schrien sich die Seele aus dem Leib. Und es gab nichts, was wir für sie hätten tun können.

Wir hatten weder medizinische Erfahrungen noch irgendwelche Versorgungsmittel. So verging die Zeit minutenlang, in der wir nichts taten, als dabei zuzusehen, wie unsere Kameraden elendig verbluteten.

Es vergingen fünf Minuten.

Zehn Minuten.

Zwanzig.

Langsam hoffte ich, die beiden würden, endlich sterben, damit endlich wieder Stille herrscht. Ich bekam Panik, dass die Schreie die Kreaturen aus ihren Verstecken locken würden, doch es geschah nichts.

Es vergingen weitere zehn Minuten und langsam wurden die Schreie zu Röcheln, bis auch das Röcheln aufhörte. Doch was mich verblüffte, war das die beiden nicht gestorben sind.

Sie lebten … irgendwie. Ich erinnerte mich an die Worte von Jack, der etwas davon sagte, dass der Tod hier nicht existiere, es gäbe nur endlose Qualen.

Die beiden rappelten sich wieder auf, man sah ihnen an, das sie schreckliche Schmerzen litten. Sie stöhnten, Charly gab leise Schluchzlaute von sich. Ich fragte sie, ob sie sich in der Lage fühlten weiter zu gehen. Tom nickte leicht, während Charly weiterhin schluchzte. Doch was nun? Keiner wusste wirklich, wo wir nun als Nächstes hingehen sollten, wo wir anfangen sollten nach Seb zu suchen.

Ich schlug vor weiter geradeaus zu gehen, mit der Hoffnung das wir vielleicht dort Seb finden werden. Die Gruppe setzte sich nun wieder in Bewegung, doch nun hatte uns die Paranoia endgültig gepackt, jeder hielt Ausschau nach Schatten auf den Häusern, welche uns beobachten könnten. Jeder von uns hatte die Angst, dass das die Kreatur wiederkommen würde, um das zu beenden, was sie angefangen hatte. Ich rechnete die ganze Zeit damit, dass jeden Augenblick, die nächste Abscheulichkeit aus einer der unzähligen Gassen springen würde.

Doch entgegen aller Erwartungen blieb uns das erstaunlicherweise fürs Erste erspart. Alles war still, kein einziges Geräusch war zu vernehmen. Es war so, als sei niemand außer uns auf der Insel, als sei jegliches Geräusch von hier verschwunden. Keine Möwen, keine Laute von Personen, nicht einmal Wellenrauschen. Die einzigen vernehmbaren Laute kamen von uns selbst. Es war, als wären wir wirklich in einer ganz anderen Welt gefangen.

Steven zerbrach die trügerische Stille: »Wenn wir Seb wiedergefunden haben, was tun wir dann? Wie kommen wir wieder zurück?«

Niemand wusste eine Antwort, niemand wollte eine Antwort wissen, denn hätten wir sie zu diesem Zeitpunkt wirklich gekannt, wäre die Lage endgültig aussichtslos gewesen. In diesem Moment hatten wir noch so etwas wie Hoffnung, Hoffnung das sich alles noch zum Guten wenden wird.

Kapitel XX

Wir marschierten gefühlt stundenlang geradeaus, ohne dass sich irgendetwas in der Gegend änderte oder dass das Ende der Insel sichtbar wurde. Wir marschierten an endlosen Häuserreihen vorbei.

Alle Häuser sahen sich verdammt ähnlich, so dass man nicht sagen konnte, ob man schon an diesem oder jenem Haus schon einmal vorbeigelaufen war. Ich bekam mehr und mehr das Gefühl, dass wir uns im Kreis bewegten.

Ich hörte ein Röcheln hinter mir und drehte mich um. Es war Tom, der zum Sprechen ansetzte: »Mann … wie … wie groß ist diese … Insel eigentlich? Ich … ich … ich fühle mich, als wäre ich einmal durch ganz Lorgon … gelaufen …«

Er hustete stark, wollte weiter sprechen, doch brach ab, nachdem der Husten stärker wurde. Er hielt sich dabei ständig die Wunde am Bauch mit der Hand zu, ich konnte erkennen, dass ein großer Teil seines Hemdes mit Blut getränkt war. Es war wirklich nicht schön mit anzusehen, doch konnte ich leider nichts für ihn tun.

Charly hatte aufgehört zu schluchzen, doch er hatte wieder diesen geistig abwesenden Blick, der mich erschaudern ließ, doch konnte ich es ihm verübeln, dass er sich so benahm? Wohl kaum … Mir selbst ging es auch nicht besser, selbst Steven sah aus, als wäre er kurz vor dem endgültigen Nervenzusammenbruch.

Wir marschierten in Stille weiter, bis zu einem großen, fast villenartigen Gebäude mit einem Balkon im zweiten Stock. »Das muss das Gebäude gewesen sein, wo die hohen Tiere von DMT gelebt haben«, vermutete Steven.

Wir waren kurz davor weiterzugehen, als sich Türen auf dem Balkon plötzlich öffneten. Aus dem Inneren des Gebäudes erschien eine Gestalt, die uns allzu bekannt war. Die Gestalt gelangte an das Geländer des Balkons und begann hemmungslos zu kichern. Wir starrten mit Entsetzen zum oberen Geschoss des Hauses.

Der Mann mit dem Eisenkäfig sprach: »Warum das so entsetzte Gesicht? Dachtet ihr, ihr könnt Dagon entkommen? Oder sogar dem Lord? Welch ein törichter Gedanke. Niemand! Niemand entkommt dem Willen unseres Lords! Niemand entkommt seinen allsehenden Augen! Er weiß alles, denn ER ist unser Lord! Der Lord weiß alles, sieht alles, hört alles!«

Er begann sich in absolute Rage zu reden: »Und niemand wagt es, eine Audienz beim LORD auszuschlagen! Denn der Lord ist unser Ein und Alles!«

Dagon fing an seine grässlichen Gebete aufzusagen, dabei fasste er sich an seinen Eisenkopf und schwang ihn hin und her: »Iä, iä, iä exurge domine! Adventum domini! Adventum! Adventum! Adventum! Per immaterium nobis imperare! Iä, iä, iä!«

Während seine Stimme immer höhere Töne anschlägt, begann ich ein starkes Vibrieren im Boden zu spüren, fast schon eine Art Erdbeben.

Wir drehten uns um, versuchten aus diesem Alptraum zu entfliehen, doch wir hatten keine Chance. Aus unverständlichen Gründen und entgegen jeglicher Logik, begannen die Häuserreihen sich mit unglaublicher Geschwindigkeit zu bewegen, Reihen von Häuser rasten an uns vorbei, versperrten uns jegliche Möglichkeit zu verschwinden, auch das Vibrieren wurde immer stärker, nacheinander fielen wir alle auf den Boden, alles begann sich zu drehen, immer schneller zu drehen, die Welt verschwamm vor meinen Augen.

Währenddessen wurde die Stimme Dagons immer lauter, immer höher, immer schriller, er schrie seine irrsinnigen Worte in den Himmel: »Iä, iä, iä, iä, iä ! Exurge! Domine! Adventum! Domini! Adventum! Adventum! Adventum! Per immaterium nobis imperare! Per immaterium vivimus! Adventum domini!“ Seine Stimme erreichte den absoluten Höhepunkt, er sprach: „Das ist nicht tot, was ewig liegt, bis dass die Zeit … den TOD BESIEGT!«

Die Welt um mich herum drehte sich nun mit immenser Geschwindigkeit und dann … stoppte alles. Das Licht unserer Lampen schwand, alles wurde dunkel vor meinen Augen. Bevor ich endgültig das Bewusstsein verlor, hörte ich noch ein seltsames, tiefes Lachen.

Kapitel XXI

Als ich wieder aufwachte, befand ich mich in einem Raum mit Steinziegelwänden, größtenteils unversehrt, wenn man von den immensen Kopfschmerzen absieht. Wenn ich sage, dass ich in diesem Moment stark verwirrt war, wäre das eine maßlose Untertreibung.

Ich war vollkommen verwirrt und verängstigt zu gleich.

Ich sah mich in dem kleinen gefängniszellenartigen Raum um und bemerkte, dass hier absolut keine Türen oder Fenster vorhanden waren, nichts, nicht einmal ein kleines Loch war vorhanden. Auch bemerkte ich, dass ich ganz alleine war, niemand weiteres war in der Zelle, nur ich. In mir begann Panik aufzusteigen, ich sprang zu den kalten Wänden und suchte nach irgendeinem Schalter oder einem Mechanismus, der eine geheime Tür öffnen würde.

Doch ich fand nichts dergleichen, kein Schalter, kein Knopf, kein Mechanismus, ich war wahrlich gefangen. Ich setzte mich auf den Boden und versuchte zu verstehen was geschehen war, doch wie sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Erst war ich noch vor der Villa, wo Dagon sein Schauspiel aufführte, dann begann sich alles zu drehen und dann … Dunkelheit. Es machte alles keinen Sinn, doch plötzlich hörte ich ein metallisches Quietschen, ich sah auf und musste feststellen, dass vor mir eine Eisentür erschienen ist.

Ich stand auf und stürzte mich geradezu auf die Tür, schwang sie mit aller Kraft auf. Dahinter fand sich ein langer Korridor, auch mit Steinziegelwänden. Es war auch überaus erstaunlich, dass, obwohl keinerlei Fackeln oder sonstige Lampen in der Nähe waren, ich trotzdem alles sehen konnte. War das alles hier überhaupt echt? Oder war ich in einem Traum? Ich wusste, die Antwort befand sich am Ende des langen Ganges. Somit wanderte ich einfach geradeaus.

Doch schon nach einiger Zeit bemerkte ich, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Egal wie schnell ich ging, egal wie weit ich ging, ich kam dem Ende des Ganges einfach nicht näher. Es war so, als würde ich ständig auf der Stelle treten, ich kam einfach keinen Zentimeter weiter, nicht einen.

Um die Sache endgültig alptraumhaft zu machen, öffnete sich plötzlich der Boden unter meinen Füßen und ich fiel ein tiefes Loch hinunter.

Ich schien endlos lange zu fallen, bis ich endlich auf dem Boden aufschlug und feststellen musste, dass ich wieder im selben Raum wie vorhin war. Wieder keine Türen, keine Fenster, keine Löcher, nur ein hermetisch abgeschlossener Raum.

Doch diesmal war etwas anders, ich fühlte jemanden oder etwas hinter mir stehen. Ich fühlte wieder diese dunkle Präsenz, doch diesmal war sie viel näher, viel stärker. Kalter Angstschweiß rann meinen Rücken herunter, ich befand mich wie in einer Art Schockstarre.

Ich konnte und wollte mich nicht umdrehen, ich wollte nicht wissen, was hinter mir stand, welche Abscheulichkeit sich hinter mir versteckte. Mein Herz schlug wie wild, immer mehr Schweiß kam aus meinem Körper, mein Atem ging immer schneller. Doch ehe ich einen Herzinfarkt erlitt, wurde ich gegen meinen Willen wie eine kleine Stoffpuppe umgedreht und war somit gezwungen, das Wesen, die dunkle Präsenz, direkt anzuschauen.

Es entpuppte sich als etwas, mit dem ich ganz und gar nicht gerechnet hatte. Statt einer verdrehten, irrsinnigen, abscheulichen Kreatur, starrte ich eine nahezu humanoide Gestalt an.

Das Wesen trug einen sehr alten kaputten Mantel mit Kapuze, der das Gesicht komplett im Schatten versteckte, alte Stiefel und Handschuhe. Ganz und gar nicht das, was ich erwartete. Doch man soll niemals ein Buch nach seinem Umschlag beurteilen, denn die Kreatur zeigte sogleich ihr wahres Gesicht.

Sie begann zu sprechen und ihre Stimme war das Grässlichste, was ich je zu Ohren bekommen habe. Es war, als würden tausend Stimmen zugleich sprechen und alle durcheinander, alle hallend, es bereitete mir elende Kopfschmerzen ihr zuzuhören: »Willkommen … auf meiner … unserer … Insel … Insel … Insel. Du scheinst … Angst … Furcht … Grauen … Hoffnungslosigkeit … Zu spüren … Fühlen … Keine Sorge … Fürchte dich! … Alles bald vorbei … Alles hat ein Ende … Du … Ihr … Bald ein Teil … Von allem hier … Oder auch nicht? … Vielleicht … Lasse ich … Wir … Ich … Milde walten? … Nein … Doch … Kein Entkommen … Entkommen? … Nicht die Ersten … Auch nicht die Letzten … Letzten … Letzten … Letzten … Immer kommen Neue … Gut … Schrecklich … Je nach Perspektive …«

Das Wesen umkreiste mich, schien mich zu begutachten, es sprach weiter: »Hmmmm … Ja? … Ja … Nein … Nein? … Nicht der Richtige … Aber das wusste ich … Wir … Wir … Wir … Schon vorher … Aber vielleicht … Nutzen? … Wohl kaum … Doch? … Mal sehen …«

»Was willst du von mir? Was hast du mit meinen Freunden gemacht?«, wimmerte ich vor Angst.

»Freunde? … Ja … Hahahaha … Hehehehe … Keine Eile … Alle … Alle … In guter … Grausamer … Schrecklicher! … Obhut … Was tue ich nun? … Was tun wir? … Vielleicht … Doch … Nein! … Und wenn? … Nein … Nein? … Nein! … Wir … Ich … Ihr …. Du«, es stoppte kurz, dann sprach es mit donnernder, fester, Stimme: »STILL!«

Mit einem Mal verstummten sämtliche Stimmen, alles war ruhig, nun übernahm anscheinend eine einzelne, tiefe männliche Stimme, die ich schon einmal vernommen hatte, die Kontrolle:

»Du bist tapfer. Wirklich, wirklich mutig. So etwas erlebe ich nicht oft. Die meisten zerbrechen schon lange vorher. Aber du … du wehrst dich … du kämpfst dagegen an.

Ich finde, dies sollte belohnt werden. Komm … lass mich dir etwas zeigen.«

Er schnippte mit den Fingern, es wurde augenblicklich dunkel im Raum und ich begann zu schweben, allein.

Eine laute Stimme ertönte: »Bevor es das Universum gab … Bevor es irgendetwas gab …«

Auf einmal erschienen Planeten, Sterne und Monde, die in endlosen Bahnen umeinander kreisten, wie sie es schon seit Jahrmilliarden taten. Ich vernahm leise Geräusche: das Klingeln eines Glockenspiels, Flötentöne, Trommeln. Ihr Zusammenspiel ergab für meine armen Ohren keinen Sinn, ich suchte einen Takt, einen Rhythmus, den es nicht zu geben schien, die Musik, sie war einfach da, existierte auf unharmonischen Weise, sie war durch und durch unnatürlich.

Die körperlose Stimme sprach weiter: »Da war das Nichts.«

Sobald diese Worte ausgesprochen waren, begann alles zu fallen, die Himmelskörper genau so wie ich. Wir fielen und fielen immer weiter. Die Planeten und Sterne und Monde rasten an mir vorbei, sie waren nun nicht mehr in ihren endlosen Bahnen gefangen, sondern befanden sich im freien Fall. Die Musik währenddessen wurde immer lauter und lauter und lauter. Es erklungen hohe Flöten und klingelnde Glocken und laute Trommeln und verstimmte Geigen und tiefe Trompeten. Die Musik, sie wurde lauter und wilder und unharmonischer. Kein Rhythmus. Kein Takt. Keine Harmonie. Keine Ordnung. Diese Symphonie stammt nicht von menschlicher Hand, nein, sie wurde von Alpträumen geschrieben und dirigiert.

Die Musik wurde noch lauter und noch lauter und noch lauter, sie hatte einen Punkt erreicht, den ich nicht für möglich hielt. Ich hielt mir krampfhaft die Ohren zu, mit der leisen Hoffnung, die Musik würde verstummen, es würde endlich wieder still sein.

Doch meine Hoffnung war vergebens, egal wie sehr ich die Hände auf die Ohren presste, die Musik wurde nicht leiser, nein, sie wurde noch lauter. Ich realisierte, dass die Musik sich nicht außerhalb, sondern innerhalb meines Kopfes befand. Sie war in mir drinnen! Ich begann zu schreien, ich schrie, so laut ich konnte, doch ich konnte von mir selbst keinen Laut vernehmen, die Musik übertönte alles. Ich wollte, dass es aufhört, ich wollte, dass es endlich aufhört!

Doch es hörte nicht auf, es wurde noch lauter und noch unerträglicher.

Ich fiel und die Musik spielte und ich fiel weiter und auch die Musik, diese grässliche, furchtbare Musik spielte weiter. Mein Körper begann furchtbar zu schmerzen, meine Knochen zitterten und schwangen hin und her. Warmes Blut drang aus meinen Ohren, aus den Augen, aus dem Mund. Und ich schrie, ich schrie, dass es endlich aufhören soll, dass ich genug habe, dass ich endlich aufwachen möchte. Doch nichts geschah, ich war wach, ich war nicht im Schlaf, sondern war wach. Ich fiel schneller und schneller, ich schloss die Augen, kniff sie fest zusammen.

Ich wollte nicht mehr.

Ich wollte einfach nicht mehr.

Mein Geist begann mehr und mehr zu splittern, zu knirschen, zu reißen. Doch bevor er in kleine Teile zersprang, hörte alles mit einem Mal auf.

Ich hörte auf zu fallen und auch die Musik verstummte endlich. Alles war still, alles war leise, keine Töne weit und breit. Ich schwebte allein in diesem dunklen, endlosen Raum. Nichts war hier, keine Himmelskörper, kein Licht, keine Geräusche. Ich war im Nichts angelangt, am Anfang jeglicher Existenz, am absoluten Nullpunkt.

Wieder ertönte die Stimme: »Und bevor es das Nichts gab, gab es … Götter.«

Unter meinen Füßen erschien grelles, ekelerregendes Licht. Ich blickte hinein und ab diesem Moment zerbrach mein Verstand endgültig.

Ich sah Dinge, die für sterbliche Augen nicht bestimmt waren. Dinge, die noch kein anderer je erblickt hat. Ich sah diese … Götter.

Grässliche Gestalten, die jeglicher Logik entbehrten. Endlose Meere von Fleisch und Tentakeln, die nach mir gierten. Endlose Augen, die mich anstarrten. Klauen, Zähne, Kiefer, die nach mir schnappten. Endlose, verformte Massen. All diese Gestalten stöhnten und jauchzten, alles bewegte sich, kroch, krabbelte.

Namen erklangen in meinem Kopf. Namen, die für Sterbliche keinen Sinn machten, die auch keine Zunge vermag auszusprechen.

Deschraloytep.

Anomaluscairua.

Cyclomedarcha.

Ortholyconar.

Nectopterixcark.

Al‘rkrar.

Mar‘goriks.

Waren das die Götter, die alles erschufen? Waren sie die Erschaffer des Universums oder die Zerstörer? Sind sie der Anfang oder das Ende? Ich wusste es nicht, ich wollte es auch gar nicht wissen.

Plötzlich erhob sich aus der alptraumhaften Masse die Kapuzengestalt, die für all das hier verantwortlich war. Ich sah in ihr Gesicht und erblickte nichts als Leere. Die Kreatur schlug ihre Kapuze zurück und entblößte damit ihr Gesicht.

Ich starrte direkt in die dunklen Augenhöhlen, in den Totenkopf der Bestie. Sie klappte ihren Kiefer auf und zu und lachte manisch, alle anderen Monster lachten mit.

Ich schrie und fiel wieder in die Tiefe, in die Dunkelheit. Bilder erschienen dabei vor meinem geistigen Auge: Blaue Flammen. Ein Portal. Meine Freunde, elendig deformiert in abscheuliche Gestalten. Ein riesiges Auge, das direkt in meine Seele starrte.

Die Bilder wiederholten sich immer wieder, während ich fiel und schrie.

Ich hörte auch die Schreie meiner Kameraden, ich hörte, wie sie endlose Qualen erlitten, wie sie gefoltert wurden. Ich hörte ihre Anschuldigungen, sie verfluchten mich.

Mir wurde endlich bewusst, dass ich sie alle dazu verdammt habe.

Dass ich all ihre Leben zerstört habe.

All das ist meine Schuld.

Ich bin schuld.

Meine Schuld.

Kapitel XXII

Ich erwachte völlig schweiß getränkt vor der Villa, wo dieser Alptraum begann. Zitternd richtete ich mich auf und sah, dass niemand in meiner Nähe war, ich war völlig allein. Mein ganzer Körper zitterte, ich versuchte zu gehen, stolperte jedoch beim Versuch. Mein einziger Gedanke war von hier zu verschwinden, doch in welche Richtung sollte ich mich begeben? Ich hatte absolut keine Orientierung, keine genaue Erinnerung an die Stelle, wo das Schiff lag.

Notgedrungen stand ich auf und versuchte einfach geradeaus zu gehen. Ich fragte mich, wo meine Freunde waren und was mit ihnen passiert war. Doch ich bekam zugleich die Antwort, Bilder erschienen wieder vor meinem geistigen Auge. Ich sah, wie Charly von einer unbeschreiblichen Kreatur zerfleischt wurde. Ich sah, wie Tom an Metallhaken aufgehängt wurde.

Und Steven … er wurde bei lebendigen Leibe verbrannt.

Ich sank auf die Knie, Tränen liefen mein Gesicht herunter. Ich wollte nicht mehr weitergehen, ich wollte einfach hier bleiben und elendig verrotten.

Ich zitterte.

Ich schluchzte.

Doch dann hörte ich eine Stimme in meinem Kopf. Sie befahl mir aufzustehen, sie befahl mir weiterzugehen.

Und ich gehorchte.

Ich begann geradeaus zu gehen, ließ mich von der Stimme leiten. Sie sagte mir, dass alles wieder gut wird, dass alles wieder normal wird. Und ich vertraute ihr. Die Stimme sprach weiter und weiter, ich bewegte mich wie in Trance, vorbei an den alten Häusern, die mich anstarrten, vorbei an Kreaturen, die mich beäugten.

Doch das alles war nun egal, ich hörte nur die Stimme in meinen Kopf. Ich wollte nur zurück zum Schiff, zurück zur Lovecraft.

Ich musste von dieser Insel runter, die Stimme befahl es.

Vor meinen Augen tanzte die ganze Welt, Farben erschienen vor ihnen. Bilder liefen durch meinen Kopf, es war wie im Delirium. Ich taumelte, ging jedoch stets weiter, die Stimme führte mich. Irgendwann kam ich am Schiff an.

Ich ging an Bord und von da an … Dunkelheit. Alles wurde schwarz vor meinem Auge.

War ich in Ohnmacht gefallen?

Hatte jemand von mir … Besitz ergriffen?

Wurde meine Körper gestohlen?

Ich weiß es nicht.

Ich weiß es bis heute nicht. Ich weiß nur, dass ich irgendwie wieder zurück nach Lorgon kam. Das Meiste was jetzt folgt, beruht auf Aussagen anderer.

Anscheinend kam ich halb verdurstet und völlig verrückt am Hafen an. Man fand mich zusammengekauert in der Kapitänskajüte, wo ich wirres Zeug brabbelte.

Natürlich wurden sofort meine Familienangehörigen kontaktiert, die verständlicherweise schockiert von meinem Erscheinungsbild und meinem Auftreten waren. Ich wurde auf der Stelle in die örtliche Nervenheilanstalt, das Chamber Asylum, eingewiesen.

Dort verbrachte ich mehrere Wochen, wo ich die Wände mit mysteriösen Symbolen beschmierte, ständig Namen und Gebete in einer alten Sprache aufsagte und andere obszöne Dinge tat. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind sehr schwammig, ich kann mich an die meiste Zeit im Asylum gar nicht mehr erinnern. Es bleibt nur ein seltsamer Nachgeschmack, ein Kitzeln in meinem Kopf, das Aufblitzen von Bildern vor meinen Augen … und die Träume.

Die Ärzte in der Anstalt waren mit ihrem Fachwissen am Ende, sie hatten zwar schon öfters solche Fälle wie mich, aber sie konnten sich immer noch keinen Reim darauf machen. Ich und meine Leidensgenossen blieben ein Rätsel für das gesamte Asylum und die medizinische Fachwissenschaft.

Die Zeit verging langsam dort, sehr langsam. Ich verbrachte Wochen, Monate in meiner Zelle. Brabbelte vor mich hin, gefangen in meinen Wahnsinn. Die Ärzte gaben langsam ihre Hoffnungen auf, doch wie durch ein Wunder verbesserte sich mein Zustand wieder, wie konnte wieder ganze Sätze sprechen, konnte mich wieder annähernd benehmen wie ein normaler Mensch. Man fing an mir Freigang zu gewähren, mich wieder unter Menschen zu lassen. Auch Besuch wurde mir gestattet, weshalb ich auch endlich meine Familie wiedersehen konnte. Die Differenzen, die es zwischen mir und meinem Vater existierten, waren vergessen. Ihm war nur wichtig, dass es mir endlich besser ging. Er umarmte mich, genau in diesem Moment waren wirklich alle Streitereien und Beschimpfungen vergessen, ich fühlte mich … glücklich. Meine Familie liebte mich, ich liebe meine Familie.

Ich wurde aus der Anstalt entlassen und kehrte zurück zum Haus meines Onkels. Ich setzte mich in mein Zimmer, versuchte endgültig das Gesehene zu vergessen, doch es gelang mir nicht. Die Träume suchten mich jede Nacht heim, die Stimmen kehrten zurück, lauter und schrecklicher als zuvor. Ich war mir nicht mehr sicher, ob das, was ich erlebte, der Wahrheit entsprach oder letztendlich nur eine Einbildung meines armen Verstandes war.

Ich schlug mir die Nächte um die Ohren, fand keinen Schlaf. Die Träume, die Bilder, die Stimmen, sie waren da und wollten nicht gehen. Meine Genesung war nur von kurzer Dauer, nur eine Illusion. Ich konnte nicht mehr, ich schnappte mir meine Kamera und wollte sie zerstören, den Film verbrennen. Ich wollte das Geschehene ungeschehen machen. Doch ich erlag der Versuchung und schaute mir den Film an.

Doch … er zeigte nichts, nur schwarze Bilder und Stille. Ich hatte am Ende nichts vorzuweisen, keinen Film, keine Entdeckung, keine Freunde, keinen gesunden Verstand. Ich hatte fast alles verloren und nun war der Wahnsinn auch wiedergekehrt.

Meine Familie … ich wollte ihnen es nicht antun, sie sollten mich nicht so sehen, sie sollen wissen, ich liebe sie.

Doch diese Liebe konnte meinen Wahnsinn nicht aufhalten, nichts konnte es. Ich wollte schreiben, ich musste schreiben, ich musste die Ereignisse zu Papier bringen, ein letzter Versuch doch alles wiedergutzumachen, mich doch von meinem Wahnsinn zu befreien, mich von den Ketten der Insel zu befreien, von den Ketten … des Lords.

Und nun sitze ich hier, schreibe meine letzten Zeilen, sitze im Halbdunkel und hoffe, dass der nächste Tag anbricht.

Ich schaue aus dem Fenster … und sehe nichts als… Dunkelheit. Keine Lichter. Keine Menschen. Nichts. Nichts als endlose Dunkelheit. Das ist völlig unmöglich! Jemand muss draußen sein! Es müssen Lichter scheinen! Es müssen Autos vorbeikommen, irgendetwas! Doch nein, nur Dunkelheit, nur Dunkelheit, nur Dunkelheit, nur Dunkelheit. Keine Lichter, keine Menschen. Bin ich allein? Hab ich die Insel nie verlassen? Das kann nicht sein … Ich muss! Oder doch nicht? Bin ich immer noch gefangen? Nein, nein, nein, nein, nein! Das darf nicht wahr sein!

Was erwartet mich im Dunkeln?

Erwartet mich Dagon und sein Kult?

Werde ich sehen, wie meine Freunde zu diesen … zu diesen Wesen geworden sind?

Sie warten auf mich … der Lord wartet auf mich.

Er hat mich gehen lassen.

Hat er?

Bin ich gegangen?

Ich weiß es nicht.

Werden mich am Ende doch … die Götter erwarten?

Ich hoffe nicht … Ich hoffe nicht.

Doch ich sehe nur Dunkelheit und dort draußen lauern sie.

Sie warten auf mich, sie wollen mich wieder mitnehmen, sie wollen mich.

Sie wollen mich zu ihren Götzen bringen.

Träume, Bilder, Geräusche, Farben, Stimmen, Stimmen, Stimmen prasseln auf mich ein, schlagen auf mich ein.

Ich kann nicht mehr.

Ich muss dem ein Ende setzen.

Ich habe keine andere Wahl.

Dieser Schrecken, dieser Alptraum, ich kann nicht mehr.

Ich muss es beenden.

Ich muss enden.

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