Kurz nach dem Ende des Krieges, der wie eine Feuerwalze über die Welt rollte und dabei unzählige Menschen und Städte verschlang und Landstriche verwüstete, bestieg ein deutscher Kommunist den Kyffhäuser und betrachtete den Thron des Barbarossa. Zwölf lange Jahre hatte er unter dem Joch des Regimes zu leiden. Unzählige seiner Genossen sah er in den Mäulern der Konzentrationslager verschwinden. Der Tod lauerte für ihn hinter jeder Ecke. Jeden einzelnen Tag musste er damit rechnen, dass die schwarz- und braununiformierten Schergen des Leviathans an seiner Tür klopften, die geheimen Versammlungen sprengten, die verbotenen Flugblätter und illegal gedruckten Manifeste finden könnten. Ein Knüppel würde wie ein Fallbeil auf seinen Kopf hinabsausen und aufwachen täte er dann in Dachau – seiner persönlichen Hölle auf Erden, schutzlos den Klauen niederer Kreaturen ausgeliefert.
Doch darüber brauchte er sich keine Gedanken mehr machen. Die Rote Armee war eingerückt und hatte sie alle befreit – nicht nur vom schrecklichen Nationalsozialismus, sondern auch vom Kapitalismus. Der Große Vater der Nationen war wie der Erzengel Michael zur Rettung gekommen. Mit seinem blutroten Hammer zerschlug er die Ketten der Unterdrücker und stieß sie hinab in die dunkle Unterwelt. Der Kommunist war sehr dankbar darüber. Lieber von den Roten befreit, als vom liberalen Westen unterdrückt zu werden. Die Amerikaner, die Briten und die Franzosen würden nur eine weitere kapitalistisch-faschistisch-koloniale Schreckensherrschaft aufbauen. Ein Sieg der westlichen Alliierten bedeute eine Niederlage für die progressive Menschheit. Die internationale Arbeiterklasse musste befreit werden und dies gelingt nur mit dem Titan des Ostens.
Er starrte in das steinerne Gesicht des alten Monarchen und in ihm kochte der Zorn hoch. Der alte Barbarossa war doch der Ursprung allen Übels. Er war das Sinnbild der feudalistischen Sklaverei, der alten Ordnung, der tyrannischen Junker- und Kaiserherrschaft. Eine Idee reifte heran.
Jetzt mit den neuen Verhältnissen könnte dieses nationalistisch-reaktionär-völkisch-protofaschistische Denkmal endlich beseitigt werden. Und zwar mit einer Sprengung! In Abertausende Einzelteile sollen der Rot- und der Weißbart zerspringen. Auch die letzten Reste des Kaiserreichs mussten beseitigt werden. Auf den Trümmern des Ancien Régime soll die sozialistische Weltrepublik errichtet werden!
Und wenn erstmal Friedrich und Wilhelm gestürzt waren, dann konnten auch die anderen nationalistischen Unterdrückerbauten beseitigt werden – die Statue des Arbeiterschlächters Bismarcks in Hamburg, das völkische Hermannsdenkmal bei Detmold, die proto-faschistische Siegessäule in Berlin, das imperialistische Völkerschlachtsdenkmal in Leipzig. Zertrümmert und eingeschmolzen sollen sie werden! An ihrer Stelle wird die Avantgarde der Kommunistischen Partei neue Denkmäler errichten, proletarische Denkmäler, internationalistisch-humanistische Denkmäler! Im vereinten Sowjetreich werden nur noch die Arbeiter und die glorreiche Menschheit zelebriert werden! Schluss mit der Heldenidealisierung, nieder mit den verstaubten Gestalten aus der Mottenkiste der Sagenwelt!
Mit brennender Freude im Herzen stieg der Kommunist hinab und fuhr zur örtlichen Sowjetischen Militäradministration, die sich in einem Rathaus einquartiert hatte. Im Büro des diensthabenden Offiziers hing selbstverständlich ein gewaltiges Porträt des Großen Vaters der Nationen – der Generalissimus stand in seiner weißen Tunika in einer bäuerlichen Landschaft, im Hintergrund waren Strommasten, Traktoren und die rauchenden Schlote eines emsigen Industriestandorts zu sehen. Der sowjetische Großmeister schaute dabei nachdenklich in die Ferne, auf seinen Arm ruhte eine braune Jacke. Das Symbol war eindeutig: Er war der gutmütige, großväterliche Herr der Sowjetunion; ein hochindustrielles Imperium, das sich mit dem kapitalistischen Westen nicht nur messen, sondern ihn auch übertrumpfen kann.
Der sowjetische Offizier, gekleidet in seiner typischen Khaki-Jacke und -Hose, die Mütze ruhte auf dem Schreibtisch, befasste sich mit mehreren Papieren und Dokumenten. Tiefe Sorgenfalten hinterließen Gräben auf seiner Stirn. Er war bereits ein Mann mittleren Alters, die große Revolution erlebte er als Jugendlicher. Schon damals drangen die feurigen Worte des Großvaters der Sowjetunion in sein Herz ein. Der Offizier war durch und durch ein Bolschewist.
Mit einem Krachen flog die Tür auf und der deutsche Kommunist trat mit solch einem Selbstbewusstsein in das Büro hinein, als würde ihn der Ort gehören, als wäre er der oberste Chef der Partei. Sein Gesicht war knallrot, unter seinen Hemdsärmeln konnte jeder deutlich die Schweißflecken sehen. Er knallte mit der Hand auf dem Tisch, verlangte nach der Aufmerksamkeit des Offiziers. Dieser schaute genervt von seiner Arbeit hoch. Sein erster Impuls war es, dieses überaus aufdringliche Subjekt auf der Stelle entfernen zu lassen. Doch er musste auch zugeben, dass die Frechheit dieses Mannes ihn neugierig machte – also ließ er ihn reden. Und während er sprach, bereute der Offizier seine Entscheidung ein wenig.
Der sowjetische Offizier war vom Anblick des deutschen Kommunisten angewidert. Er sah in ihn nichts als eine erbärmliche Kreatur, eine unpatriotische, selbsthassende Gestalt. Was würde der Große Vater der Nationen zu diesem Abschaum sagen? Wahrscheinlich würde er ihn einfach erschießen lassen. Der Offizier war sehr froh über die vielen Säuberungen, über die Entfernung dieses verräterischen Abschaums aus der sowjetischen Gemeinschaft. Er fragte sich, ob dieses Deutschland auch einer Säuberung bedarf. Er hasste die westlichen Kommunisten – diese verweichlichten, humanistischen, hässlichen, degenerierten, unmännlichen, kosmopolitischen Liberalen im roten Gewand. Aus diesem faulen, wurmstichigen Holz konnte kein Bolschewist geschnitzt werden. Die ganze Menschheit passt in ihre Herzen, aber kein Funke Vaterlandsliebe. Sein alter Herr sagte immer: Wer alle liebt, liebt am Ende niemanden.
Der Offizier hatte nichts als Achtung vor den Deutschen und ihrer Kultur. Er liebte die Werke Schillers, Goethe, von Kleists, Hölderlin, Hoffmann und sogar die Schriften des großen Verachters Nietzsche – selbstverständlich auch die Werke der Urväter Marx und Engels. Er erinnerte sich an den Geist von Tauroggen, an Yorck und Bismarck. Während der kurzen republikanischen Phase traf er preußische Nationalbolschewisten, Freunde der Sowjetunion, darunter einen Herrn Niekisch. Selbst als die faschistischen Räuberhorden sein Land überfielen, bewunderte er sie auf eine eigenartige Weise – ihre Effizienz, ihre Brutalität, ihr rücksichtsloses Vorgehen, ihre Technik, ihre Todesbereitschaft. Mit den gefangenen Wehrmachtssoldaten führte er ergiebige Gespräche. Die Nationalsozialisten standen zwar auf der falschen Seite der Geschichte, aber unter den richtigen Bedingungen hätten sie exzellente Bolschewisten werden können. Nichtsdestotrotz mussten sie ausgelöscht, von der Erde gefegt werden, waren sie doch eine Gefahr für das sowjetische Dasein, ja für alle Völker Europas und der Welt.
Die Deutschen – sie waren ein zähes, kämpferisches Volk. Die bekam man nicht so schnell klein. In zwanzig bis dreißig Jahren werden sie wieder auf den Beinen stehen. Und dann werden sie wieder kämpfen wollen. Deutschland und Sowjetunion – das war eine Kombination, die in der Lage wäre, die gesamte Welt aus den Angeln zu heben. Doch wahrscheinlich lag das nicht im Ansinnen des Weltgeists. Vielleicht waren diese beiden Völker dazu verdammt, auf ewig Kontrahenten zu sein. Vielleicht ging es nicht anders. Die Sowjetunion, genaugenommen Russland, und Deutschland drängten seit ihrer Geburt auf die Herrschaft über die Welt. Es war Schicksal, dass diese beiden Mächte aneinandergeraten. Irgendwann wird es wieder geschehen. Doch das waren Themen für die Zukunft. Das waren Fragen, die seine Kompetenz überstiegen.
Der Offizier dachte an das Denkmal auf dem Kyffhäuser – welch architektonische Leistung, welch Ergebenheit an das Vaterland. Er dachte an den Kaiser Friedrich Barbarossa, der im Berge seinen langen Schlaf schlief. Ob der alte Rotbart eines Tages sich wieder auf seinen Thron setzen wird? Er hoffte es. Der Offizier wusste, was er zu tun hatte.
Er erhob sich von seinen Stuhl, ehrfürchtig wich der Kommunist zurück und stoppte seinen Redefluss. Der Blick des Offiziers war ernst. Als er sprach, klang seine Stimme kalt.
»Ihr Deutschen – ihr müsst endlich lernen, mit euren Denkmälern und eurer Geschichte umzugehen.«