Der Sohn des Wärters

Ein wolkenverhangener Himmel am frühen Morgen. Kein Vogel zwitscherte. Noch nie zwitscherte ein Vogel hier. Nicht einmal in den letzten zehn Jahren, die ich an diesen Ort bereits verbracht habe. Gäbe es die zerrissenen Naturkundebücher in der Bibliothek nicht, hätte ich wahrscheinlich längst vergessen, wie Singvögel aussehen.
Unangenehme Kälte, eine schwere Feuchte lag in der Luft – sie drangen bis in meine Knochen. Die dünne, graue Uniform, die ich trug, half nicht. Sie saugte sich mit Feuchtigkeit voll, wurde schwer und nass. Letzte Woche lag ich auf der Krankenstation, hatte Fieber, Schüttelfrost, Gliederschmerzen. Schatten tanzten vor meinen Augen. Krankenschwestern und Doktoren kamen und gingen. Ich kannte diese »Ärzte«. Nichts weiter als Scharlatane, Leichenfledderer, Frankensteine. Ich habe sie in Aktion gesehen. Ich sah, wie sie mit Patienten umgingen, lange bevor ich hier ankam. Doch es herrschte momentan ein gewisser Mangel und da nahm man, was man kriegen konnte. Mein Arzt gab mir einfach ein paar weiße Pillen.
Vierzig Mann standen im Innenhof in Reih und Glied, die Augen auf das große Tor gerichtet. Niemand sprach, niemand atmete laut, niemand wagte es auch nur, einen Muskel zu bewegen. Man hatte uns mit sehr expliziten Methoden darauf trainiert. In den ersten Tagen musste ich es mehrmals auf die harte Tour lernen. Schläge, Isolation, Schlafentzug, mehr Schläge, härtere Schläge. Uns wurde sehr deutlich in die Köpfe geprügelt, dass wir zu warten haben, bis wir für die Arbeit eingeteilt wurden.
Wenige Minuten wurden zu einer Viertelstunde, die Viertelstunde wurde zu einer halben Stunde, die halbe Stunde wurde zu einer ganzen Stunde. Wir wurden unruhig. Nadeln stachen in unseren Beinen. Die Haut juckte. Irgendwann begannen die Ersten einfach ihre Arbeit aufzunehmen. Andere starrten Löcher in die Luft, scharten mit den Füßen, schauten müßig gen Himmel.
Plötzlich trat einer hervor, ein junger Mann mit langem braunen Haar und Bart, und sagte: »Arbeitet oder tut nichts. Es ist einerlei. Der Wärter wird heute nicht kommen. Er plant, ein grässliches Gericht abzuhalten, denn seine Spione haben euch belauscht und von euren Plänen hier auszubrechen, erfahren! Der Wärter ist sehr zornig und wird euch alle schrecklich bestrafen!«
Ein Raunen ging durch die Menge, Gemurmel war zu vernehmen. Die Arbeiter hielten in ihren Tätigkeiten inne. Alle schauten zum Sprecher. Große Verunsicherung herrschte.
»Doch verzaget nicht«, sprach der junge Mann. »Ihr alle kennt mich, doch ich bin nicht derjenige, für den ihr mich haltet. Ich bin so viel mehr, denn ich bin der Sohn des Wärters!«
Ein erneutes Raunen, diesmal wesentlich lauter. Aufgeregtes Geflüster. Unglauben und Unsicherheit mehrten sich.
»Ich bin das Ein und Alles meines Vaters. Ich kann euch vor dem drohenden Untergang retten und ich möchte, nein, ich will euch alle retten, aber! – nur unter der Bedingung, und das ist meine einzige Bedingung, dass ihr mir glaubt!«
»Dir glauben? Was sollen wir dir glauben?«, rief jemand.
»Das ich der Sohn des Wärters bin.«
»Und wenn wir das nicht tun?« Jemand anderes.
»Diejenigen, die nicht glauben, die Ungläubigen, ja, sie werden die Früchte ihres Unglaubens ernten. Die Ungläubigen kann ich nicht vor dem Zorn meines Vaters schützen. Und erinnert euch daran, dass mein Vater sehr zornig ist.«
Ein älterer Mann, der schon seit fast dreißig Jahren hier war, trat hervor. »Du sagtest, dass du uns alle retten möchtest, nein sogar willst, warum stellst du dann solch eine Bedingung? Warum müssen wir für unsere Rettung an dich glauben? Das erscheint mir doch reichlich absurd. Wenn du die Macht hast, uns alle zu retten, dann rette uns doch einfach! Leg ein gutes Wort für uns alle ein, aber lass das Gerede von Glaube und Unglaube.«
»Das ist meine Bedingung«, entgegnete der Sohn.
Ein Arbeiter schmiss erbost seine Harke auf den staubigen Boden. »Wer weiß, ob er überhaupt die Wahrheit erzählt! Vielleicht bindet er uns allen auch einen Bären auf. Wer sagt denn, dass er wirklich der Sohn des Wärters sei? Gibt es denn Beweise dafür? Ich kenne diesen Burschen nicht.«
Ein Mann mit Schnauzbart und Hornbrille verschränkte die Arme und fügte zur Diskussion hinzu: »Warum sollte der Sohn des Wärters unter uns sein? Wenn sein Vater ihn wirklich so sehr liebt, wenn sein Sohn wirklich sein Ein und Alles ist, warum ist er unter uns Gefangenen? Der Sohn eines Wärters würde nie auf derselben Stufe wie wir stehen, das sage ich euch!«
»Guter Einwand, guter Einwand! Das alles ist doch erstunken und erlogen!«
»Ihr müsst mir einfach glauben.«
»Warum sollten wir?«, rief ein Mann, der neben mir stand, erbost. »Du hast uns bisher noch keinen Grund gegeben. Du erzählst uns was von einem nebulösen kommenden Gericht! Und gibst uns leere Versprechungen ohne irgendwelche Garantien. Wo ist der Beweis, dass der Wärter über unsere Pläne Bescheid weiß? Wo sind die Anzeichen dafür? Warum verkündet er das Gericht erst später und nicht jetzt? Wofür die Galgenfrist?«
»Aber! – Aber! Nehmen wir einmal an, dass der junge Mann Recht hat, und er ist der Sohn des Wärters. Nehmen wir auch einmal an, dass es ein schreckliches Gericht über uns kommen wird. Nehmen wir das alles einmal an … Würde es schaden, ihm zumindest vorsichtshalber Glauben zu schenken? Nur um auf Nummer sicherzugehen? Es kann ja nicht schaden – für alle Fälle.«
Zustimmendes Gemurmel.
»Bah«, erwiderte jemand. »Ich sage euch, der lügt uns an. Weder ist er der Sohn des Wärters noch wird es ein fürchterliches Gericht geben. Ich sage euch, hört meine Worte, wir werden in acht Tagen hier noch stehen und nichts wird geschehen sein!«
»Das ist ja alles schön und gut, aber wo ist denn der Wärter? Wo steckt er denn nur?«
»Wer weiß das schon … Ich jedenfalls werde nicht riskieren, dass er mich beim Faulenzen erwischt. Ihr anderen solltet ebenfalls eure Arbeit aufnehmen, ansonsten droht uns wirklich noch was.«
Der Sohn schüttelte den Kopf. »Rennt nicht ins offene Messer hinein. Ihr kennt meine Bedingung. Glaubt an mich und ihr werdet gerettet … oder fallt in den Abgrund.«
So bildeten sich zwei Gruppen. Die Majorität verneinte den Sohn, eine Schar von zwölf Mann versammelte sich hingegen um ihn. Jede der beiden ungleichen Fraktionen okkupierte eine andere Seite des Hofs, sie blieben auch weitestgehend unter sich.
Da es nichts weiter zu besprechen gab, befasste ich mich mit meiner Arbeit. Auch ich wollte nicht beim Faulenzen oder Herumlungern erwischt werden. Zur Mittagszeit herum ertönte dann die Automatikpfeife, die das Signal zum Essen gab. Wir alle begaben uns hinein. Getrennt in zwei Reihen natürlich. In einen der Gänge erblickte ich ein Porträt des Wärters. Da wo einst sein Gesicht war, sah man nur noch einen hellen Fleck. Niemand schien sich die Mühe zu machen, das Bild auszuwechseln.
Spätestens in der Kantine merkten wir, dass etwas nicht stimmte. Die Köche waren nicht anwesend. Einer von uns ging los und schaute sich um. Nach einer Weile kam er wieder. In seinem Gesicht stand der Schock. Er rief mit Entsetzen, dass weder die Hilfswärter noch die Krankenschwestern noch die sogenannten Ärzte irgendwo zu finden seien. Der Komplex war leer. Nur wir vierzig Mann waren anscheinend da.
In der Majoritätsfraktion brach Jubel aus. »Das ist unsere Chance! Wir können endlich von hier verschwinden!«, schrien sie vor Freude.
Der Sohn erhob sich jedoch und rief ihnen zu: »Die Abwesenheit des Personals ändert nichts an der Tatsache, dass mein Vater ein furchtbares Gericht über euch abhalten wird! Geratet nicht in Versuchung, bleibt hier, tut nichts Unüberlegtes! Ansonsten könntet ihr es bereuen. Statt des Vaters Zorn zu nähren, solltet ihr an mich glauben, nur dann werdet ihr auch gerettet.«
Doch sie hörten ihm nicht zu. Sofort stürmten sie zum großen Eingangstor und brachen es auf. Viele leckten sich bereits das Maul. Die Freiheit schien zum Greifen nah zu sein. Doch die Freude wurde schnell getrübt, als sie sahen, was sich hinterm Tor befand, oder besser gesagt, was sich dort nicht befand. Die Fahrzeuge des Personals waren verschwunden! Vor uns erstreckte sich nur die leere, endlose Wüste.
»Zu Fuß werden wir eine Reise durch diese Höllenlandschaft nicht überleben. Wir sind hier gefangen!«, rief jemand verzweifelt.
»Bewahrt Ruhe!«, erwiderte der Sohn. »Ich habe es bereits mehrmals gesagt: Wenn ihr mir glaubt, dann, und nur dann, werdet ihr gerettet. Mein Vater haust noch immer in diesen Gemäuern. Denkt an sein Gericht!«
Einige innerhalb der Majoritätsfraktion begannen zu zweifeln. Ein paar wollten tatsächlich überwechseln, doch bevor sie das tun konnten, stürmte einer aus ihrer Mitte hervor und trat an den Sohn heran. Sein Gesicht war dunkelrot wie eine Sauerkirsche. Er überragte den Sohn um zwei Köpfe, seine Brust war angeschwollen vor Wut. Mit einem ordentlichen Hieb schlug er den Sohn nieder. Sofort strömten seine Anhänger auf ihn zu, versuchten, ihn wieder aufzurichten. Einer von ihnen schnappte sich eine Schaufel und versetzte den Aggressor einen gezielten Schlag am Kopf, der daraufhin taumelte und fiel. Der stramme Bursche regte sich nicht mehr, Blut floss aus einer Wunde.
»Mörder! Mörder!«, rief jemand.
Der Sohn richtete sich von alleine wieder auf. Unter seinem Auge wuchs ein Veilchen. Mit sicheren Schritt ging er zu seinem Anhänger und riss ihm die Schaufel aus der Hand. Mit Verbitterung in der Stimme sprach er: »Wer das Schwert aufnimmt, wird durch das Schwert umkommen. Diejenigen, die nicht glauben, werden nicht durch Blutvergießen überzeugt werden. Wenn die Zeit reif ist, wird der Glaube von alleine kommen. Sie werden es schon sehen.«
Er wandte sich an uns alle: »Ich bin euer Weg und eure Wahrheit und eure Zukunft. Nur durch mich kommt ihr zu meinem Vater. Ich bin eure Rettung und Erlösung!« Und bevor der Konflikt weiter eskalieren konnte, verschwand der Sohn mit seinen Anhängern im Gebäude.
Ich konnte nur noch den Tod des Burschen feststellen. Wir vergruben ihn im Hof. Hielten eine Schweigeminute. Verbitterung und Hass vergifteten die Gehirne der Majorität. Sie hatten genug von der Situation. Doch noch wussten sie nicht, wie es weitergehen sollte.
Zuerst schien das Leben auch gut zu sein. Vorübergehend waren wir von der tristen Alltagsroutine befreit. Wir mussten nicht mehr arbeiten, nicht mehr früh aufstehen, wir konnten uns laut unterhalten und miteinander diskutieren. Wir spielten Brettspiele, Poker, lasen Bücher. Es war, als wären wir auf Kur oder auf einer weitentfernten Ferieninsel. Natürlich hing über uns immer das Damoklesschwert des kommenden Gerichts des Wärters, aber viele unter uns machten sich eigentlich gar keine Gedanken darüber, denn der Wärter war nirgendwo zu sehen. Auch wenn wir vermuteten, dass er noch immer unter uns war. Einige mutmaßten, er sei in seinem Büro, denn die Tür war festverriegelt und niemand wagte es, sie aufzubrechen, denn niemand wollte die Konsequenzen zu spüren bekommen. Also vergaßen wir sie einfach. Wir versuchten alles, was mit dem Wärter zu tun hatte, zu vergessen. Nur der Sohn erinnerte uns immer wieder daran.
Mit stetigen Vergehen der Zeit erhoben sich langsam die hässlichen Häupter von Problemen. Die Glühbirnen begannen zu flackern und auszufallen, der Heizkessel machte schlapp, fehlte ihm doch allmählich die Kohle. Und die Nahrung ging uns langsam aus.
Als die Vorräte begannen, sich zu leeren, formte sich in der Fraktion der Ungläubigen ein Komitee. Mit Komitees kannte ich mich sehr gut, schließlich hatte eins mich früher zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Dieses hier bestand aus sieben Mann. Ehemalige hochverehrte Intellektuelle, Professoren und Journalisten. Zuerst beschlossen sie in einem demokratischen Prozess, die Nahrung zu rationieren. Aber das wurde immer schwieriger. Wir waren von der Außenwelt völlig abgetrennt. Niemand wusste, wo sich der nächste Ort befand. Neue Vorräte zu beschaffen, bewies sich somit als unmöglich.
Also wurde das Komitee radikaler und fasste einen verzweifelten Plan. Sie gingen davon aus, dass der Sohn mehr oder weniger die Wahrheit erzähle und das sein Vater ihn wirklich über alles liebt. Denn wenn dem so war, so würde er doch nie zulassen, dass seinem Sohn etwas geschehe. Oder?
Also schnappten sie ihn und planten, ihn öffentlich mit dem Galgen auf dem Hof hinzurichten. Vorerst sollte darüber aber auch abgestimmt werden und zu niemandes Überraschung stimmte die Mehrheit dafür, hasste und verabscheute sie doch den Sohn. Die Herren des Komitees wollten den Sohn strenggenommen nicht töten, sie sahen es eher als eine Art Erpressung und Drohung an. Sie glaubten, wenn sie solch ein Tamtam um die Sache machten, dann müsse der Wärter doch hervorkommen. Oder?
Der Sohn ließ das alles über sich ergehen. Selbst als man die Schlinge um seinen Hals legte, blieb er ruhig. Er schaute gelassen in die Menge und rief nach oben zum Fenster des Büros: »Vergib ihnen, Vater – denn sie wissen nicht, was sie tun.«
Die Klappe löste sich und der Sohn fiel nach unten. Der Sturz reichte leider nicht aus, um ihn das Genick zu brechen und sofort zu töten. Stattdessen wurde er langsam erdrosselt. Geistesgegenwärtig schnappte ich mir eine Harke, brach sie in zwei und rammte sie in die Seite des Sohns, in der Hoffnung ihn ein schnelles Ende zu bereiten.
In diesem Moment erkannte ich, dass er wirklich der Sohn des Wärters war und er uns die Wahrheit erzählte.
Doch selbst mit der Hinrichtung des Sohns erschien der Wärter nicht. Aus Ungeduld und purer Verzweiflung brachen die anderen die Tür zum Büro auf. Und siehe da – der Wärter war seit langem tot, verstorben an einen Herzinfarkt.

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