Eine mögliche Zukunft, das Ende von Allem. Bild: Michi Gille (Instagram: @tesla_pike).
Vorwort
Endlich ist es soweit, die nächste Geschichte ist vollendet. Sie halten sie gerade in den Händen, wurde aber auch Zeit. Hat lange genug gedauert. Für mein fünftes Buch habe ich mir etwas Besonderes ausgedacht. Diesmal gibt es ein kleines Vorwort. Ich werde hier meine Gedanken und Gefühle zum Ausdruck bringen und etwas zur Entstehungsgeschichte des Buches erzählen. Begleiten Sie mich doch auf diese kleine Reise.
Eine exakte Idee für »Resurgentis« kam mir zuerst am vierten August 2019, um genau zweiundzwanzig Uhr zwanzig. Um diese Uhrzeit schrieb ich einen kleinen Text, der eine Kurzversion der Handlung enthielt und den ungefähren Handlungsverlauf zeichnete. Die drei Hauptprotagonisten mitsamt ihren Namen existierten bereits in diesem Kurztext und es war auch klar, wer die Hauptrolle übernehmen sollte: Walter Daniel Jester, der gutaussehende DMT-Wissenschaftler mit blondem Haar.
Ursprünglich (also noch vor dem Kurztext) waren die Geschichte und der Hauptcharakter nur ein Abklatsch von H.P. Lovecrafts »Herbert West«, eine Kurzgeschichte im Episodenstil, wo ein junger Wissenschaftler versucht, Tote zum Leben wiederzuerwecken und dabei ein grässliches Ende findet. Typisch Lovecraft halt. Damals erhielt die Geschichte eher negative Rezeptionen, ich persönlich finde sie okay. Es ist nicht die beste Arbeit des Autors, aber auch nicht seine schlechteste (den Platz haben »Red Hook« und beinahe alle »Inzucht-Monsteraffen-Storys« mehr als nur verdient).
Meine Version der Geschichte sollte sich ähnlich abspielen, also »Mad Scientist« legt sich mit Kräften an, die er nicht versteht (Tote wiederbeleben) und wird dann mit fatalen Konsequenzen konfrontiert. Das war die Ausgangslage, quasi die »Alpha-Version« der Story. Sie war auch am Anfang nur als Kurzgeschichte gedacht. Doch wie es mit Ursprungsideen so ist, entwickeln sie sich auch weiter. Sie wachsen, werden größer, werden riesiger, nehmen mehr und mehr konkrete Gestalt an. Aus der Kurzgeschichte wurde ein Kurzroman, ein ganzes Buch. Aus dem einfachen »Mad Scientist« wurde ein junger, homosexueller Mann mit Nöten, Ängsten, Sorgen, Wünschen, Bedürfnissen und Träumen. Er bekam auch ein größeres Schicksal. »Resurgentis« erzählt die Hintergrundgeschichte eines der zentralen Antagonisten des »Old Legends Universum«. Um welchen es sich dabei handelt, müssen Sie selber herausfinden.
Wenn man mich danach fragen würde, was denn nun das Thema dieser Geschichte sei, so würde ich wahrscheinlich antworten: »Die Vergangenheit lässt einen nicht los. Sie holt einen immer ein. Sie jagt dich erbarmungslos. Sie jagt dich so lange, bis du zusammengebrochen auf dem Boden liegst, dann stürzt sie sich auf dich und verschlingt dich.«
Schuld. Sünde. Sühne. Versuchte Erlösung. Bestrafung. Verzweifelte und vergebliche Liebe. Neuanfang. Das sind Schlagwörter, die ich im Zusammenhang mit »Resurgentis« nennen würde. Aber das muss nichts Endgültiges sein. Jeder kann seine eigene Interpretation und Meinung reinbringen. Für jeden Leser ist etwas anderes in der Geschichte wichtig. Der eine favorisiert vielleicht ein völlig anderes zentrales Thema als ich. Der andere erkennt sogar Aspekte, die mir selbst nicht aufgefallen waren. Ich bitte Sie darum verehrte Leser, dass Sie die Geschichte genau lesen und sich ein eigenes Bild von der Sache machen. Interpretieren Sie so viel, Sie wollen. Betrachten Sie es aus allen möglichen Blickwinkeln. Analysieren Sie jeden noch so scheinbar unwichtigen Buchstaben. Nehmen Sie es auseinander, kritisieren Sie es, zerreißen Sie es. Denken Sie selbst nach. Wie Sie dabei herangehen, steht Ihnen völlig frei.
Ich persönlich gehöre nicht zu diesen autoritären Autoren, die die Fantasie unterdrücken und eine absolute Richtung vorgeben müssen. Ich habe meine Vision und Sie haben ihre. Und das ist vollkommen in Ordnung. Meine Interpretation ist genauso richtig wie ihre.
Es hat lange gedauert, diese Geschichte zu schreiben. Ich glaube, es war fast ein halbes Jahr. Mindestens vier Monate. Zwischendurch dachte ich mir: »Das wird nie etwas. Ich komm‘ nicht weiter. Ich kann nicht mehr. Ich bin in einer Sackgasse, in einem tiefen Abgrund.«
Die negativen Gedanken krochen aus meinen dunklen Gehirnregionen an die Oberfläche und ich begann zu zweifeln. Für wen schreibe ich überhaupt? Wozu verfasse ich Tweets, Kurzgeschichten und Romane? Für wen schrieb und schreibe ich die Bücher? War das alles nur Zeitverschwendung? Schreie ich einfach nur in die Leere? Bis jetzt hat noch kein Fremder geantwortet. Schreibe ich meine Werke nur für Familie und Freunde? Wer ist meine Zielgruppe? Gibt es überhaupt noch eine Zukunft für Autoren wie mich? Sind meine Geschichten eigentlich gut? Interessiert es die Leute wirklich? Oder tun sie nur so?
All diese Gedanken schwebten nachts und auch tagsüber wie außer Kontrolle geratene Planeten in meinem Kopf herum. Und die Geschichte ging nicht voran, sie stockte. Tagelang schrieb ich nichts, nicht ein Wort. Im Dezember war es am schlimmsten, dort hatte ich wahrscheinlich meinen persönlichen Tiefpunkt erreicht. Ich hatte keine Lust mehr am Schreiben.
Doch, siehe da! Am Ende jedes Tunnels wartete das Licht (man sollte nur aufpassen, dass es kein entgegenkommender Zug ist) und ich schöpfte neue Kraft. Woher kam diese Energie? Wahrscheinlich lag es daran, dass ich während der Weihnachtszeit ein Theaterstück sah. »Faust« nach Johann Wolfgang von Goethe, sehr frei auf die Bühne gebracht vom Regisseur Jo Fabian.
Es hatte mich begeistert, es regte meine Fantasie an. So begann ein neuer Schaffensprozess. Und was für einer. Ich schrieb und schrieb. Ich konnte gar nicht mehr aufhören. Ich schrieb fast jeden Tag, manchmal zwei bis drei Seiten. Bis spät in die Nacht, meistens bis ein Uhr morgens. Und siehe da, die Mühe hatte sich gelohnt. Anfang Februar war die Geschichte komplett, ich hatte im Verlauf von fünf Wochen fast vierzig Seiten geschrieben. Ein wahrlich gigantischer Kraftakt.
Ich war ein wenig stolz als ich das vollendete Werk vor mir sah und die lobenden Worte meines besten Freundes hörte. Ja, ich meine dich, Christian.
Ich habe allen Zweifeln und negativen Gedanken getrotzt und meine Arbeit beendet. Es mag am Ende vielleicht nicht jedem gefallen und es gibt bestimmt einige Kritikpunkte. Doch wie mein Großvater den bereits lang verstorbenen Künstler Paul Klee immer zitiert: »Ich find‘s gut!«
Ich hoffe, Sie haben beim Lesen genauso viel Spaß, wie ich beim Schreiben hatte. Vielleicht bleiben Sie ja gar noch etwas länger.
Roland R. Maxwell
1072
Grillenzirpen. Ein warmer Wind blies durch die Gräser der Wiese. Die Sonne ging bald unter, sie hatte ein wunderschönes Rot. In der Ferne hört man noch die letzten Vögel zwitschern. Ein weiterer schöner Spätsommertag ging mal wieder zu Ende, der Herbst näherte sich mit langsamen, doch stetigen Schritten. Normalerweise würde man jetzt die Picknickdecke einpacken, die Essensreste und das Geschirr in den Picknickkorb verstauen und sich langsam auf den Weg nach Hause machen. Vielleicht noch ein letztes Bier, die letzte Pfeife, die letzte Zigarette und dann ab aufs Fahrrad. Zurück nach Hause.
Ja …
Normalerweise.
Normalerweise würde man das tun, doch das ist nur eine kleine, naive Wunschvorstellung. Es gab schließlich noch eine Menge Arbeit zu tun, da blieb keine Zeit mehr für die Betrachtung der Schönheit der Natur. Der Dienst am Imperium ist weitaus wichtiger als jede noch so schöne Wiesenrose. Es war schließlich Krieg, da zählt jede Sekunde.
Wir befinden uns im südwestlichsten Teil von Gonzzoles, fernab jeder Kriegshandlungen. Dort lag ein DMT-Lager, eines von tausenden. Noch wurde es nicht von Rebellen überrannt und solange das nicht geschehen ist, wird dort weitergearbeitet. Rund um die Uhr. Während sich die Gefangenen zu Tode schufteten, wurde tief unten im Keller geforscht. Hellleuchtende Lampen erhellten die weißen, klinisch gereinigten Fliesen. In einem der Räume standen zwei Personen zwischen blubbernden Gefäßen und seltsamen Apparaturen. Beide relativ jung, gerade einmal Anfang dreißig. Doch man sollte sich nicht täuschen lassen, die beiden waren wahre Intelligenzbestien.
»Du weißt schon, was passierte, als das Imperium versucht hatte, tote Menschen zum Leben wiederzuerwecken?«, fragte der Eine.
»Komm mir nicht wieder mit dieser alten Mär von Kriegsgeistern. Jeder weiß doch, dass das nur alberne Geschichten sind, die sich diese verblödeten Soldaten ausdenken in ihrer viel zu großen Freizeit. Es gibt keinerlei Belege darüber, dass solche Experimente von statten gegangen sind«, erwiderte der Andere.
»Dir ist doch sicherlich bekannt, wie die obersten Reihen der Regierung mit Fehltritten umgehen, oder?«
»Ja, ja das ist mir bekannt. Aber das ist dann doch schon zu absurd.«
»Meinst du? Vor zwei Wochen erst hat ein Soldat wieder einen von denen gesehen. Angeblich gab es sogar schon Opfer.«
»Und du glaubst diesen Schwachsinn auch noch? Wahrscheinlich ist wieder einer durchgedreht und hat seine Kameraden abgeschlachtet. Wäre nicht das erste Mal, PTBS ist unter diesen Schwachköpfen weit verbreitet.«
»Wenn du meinst.«
Der Eine war Dr. Nikolas Telschaw, recht groß, dünn, schulterlange braune Haare, die zum Zopf zusammengebunden waren, große Nase, braune Augen. Ein echtes Standard-Aussehen, abgesehen von den längeren Haaren. Würde man ihm auf der Straße begegnen, ihn kaum wahrnehmen. Man würde einfach weitergehen und nicht zurückschauen. Aber was ihm an körperlicher Ausstrahlungskraft fehlte, machte er durch seinen überragenden Intellekt wieder wett. In jugendlichem Alter begann er sein Studium an der Floreo-Darks-Universität in Regiis, Studienfach Psychologie und Biochemie. Er schloss mit einer 1.0 ab und machte gleich danach seinen Doktor. Kurz nach dem Abschluss wurde er auch schon von der DMT-Regierung angeworben und in die Dienste der Wissenschaftsabteilungen gestellt. Und damit war er sehr zufrieden.
Der Andere war Dr. Walter Daniel Jester, er hatte nicht nur Intellekt sonder auch gutes Aussehen. Makellose Haut, eine markante Nase, blaue Augen, kurze blonde Haare. Ein Mann, bei dem die Frauen endlos Schlangestehen würden, es sogar tun. Gibt nur ein kleines Problem, Jester ist insgeheim homosexuell. Doch das sollte man niemandem erzählen. Sonst wäre er nicht nur seinen Job los, sondern auch sein Leben. Wahrscheinlich würde man ihn zu den anderen unwürdigen Subjekten werfen, wie Nichtmenschen, Oppositionelle, politische Verbrecher und Behinderte. Das Imperium mag zwar human zu Menschen anderer Hautfarbe als weiß sein, sie sogar in die eigenen Reihen aufnehmen, doch sollten sie nur ein Stückchen von der Norm abweichen, dann heißt es: »Ab mit dir ins Todeslager!« Aber genug davon.
Jester studierte zur selben Zeit an der selben Uni wie auch Telschaw. Er machte seinen Abschluss in Medizin, Biotechnik und Neurowissenschaft. Auch er hing einen Doktor an und wurde von der Regierung angeworben. Und wie es der Zufall so will, arbeitet er in der selben Abteilung wie sein alter Kommilitone. Einige Jahre später wurden beide in eines der berüchtigten DMT-Lager versetzt, fernab jeglicher Zivilisation. Ihre Aufgabe: Durchführung von Experimenten an den Gefangenen, um neue kriegsentscheidende Mittel herauszufinden. Es war nicht das, was sie sich erhofft hatten. Insgeheim wollten sie unbedingt in den streng geheimen Abteilungen des DMT-Imperiums am DMT-Wissenschaftszentrum arbeiten, dort wo die neueste Technik gebaut, die neuesten Dinge erforscht werden und wo angeblich das sagenumwobene Portal stehen soll. Doch daraus wurde leider nichts. Es ist trotzdem kein schlechter Job, beide arbeiten gerne im Lager. Wenigstens werden ihnen hier nicht die Versuchskaninchen ausgehen.
Nun standen beide vor einem Metalltisch, auf dem die Leiche eines jungen Dragoniers lag. Sie wussten seinen Namen nicht, wahrscheinlich hatte er nicht mal einen, zumindest interessierte es Jester und Telschaw nicht. Er war von einem der brutalen Wärter mit einem Knüppel zu Tode geprügelt worden. Hatte der Junge etwas falsch gemacht?
Nein.
Der Wärter war einfach angepisst gewesen und brauchte etwas, an dem er seine angestaute Wut herauslassen konnte. Und dabei hatte er es etwas übertrieben. Einer der Schläge traf mit voller Wucht auf die Schädeldecke, zertrümmerte sie quasi. Der Junge lag einfach da, Gehirn und Blut quollen aus seinem Kopf. Die beiden Wissenschaftler dachten sich: Warum denn diesen wunderbaren Körper verbrennen, wenn man ihn doch noch nutzen kann! Sie gaben dem Wärter den Befehl, seinen Ausrutscher runter in den Keller zu bringen. Dort wurde er auf den Tisch gepackt und sie begannen Nadeln und Röhren in seinen Körper zu stecken.
Mitleid hatten die beiden nicht, während der Arbeit waren sie eiskalt.
»Du weißt, was passiert, wenn wir hier versagen?«, fragte Telschaw, Angst schwang in seiner Stimme.
»Ja, das weiß ich. Und ich habe kein Interesse daran zu versagen.«
»Sollten die Rebellen uns hier finden, werden sie uns nicht nur am nächsten Baum aufknüpfen.«
»Das wird schon nicht passieren. Sollten unsere Experimente Früchte tragen, werden wir diesen verdammten Krieg gewinnen. Wir wären weder von der langwierigen Klonproduktion abhängig, noch von der Rekrutierung endlichen Kanonenfutters. Wir wären unabhängig. Stell dir mal vor, eine endlose Armee. Soldaten, denen der Tod nichts anhaben kann. Die einfach … wiederauferstehen. Unaufhaltsam. Unzerstörbar. Und jeder getötete Feind vergrößert ihre Zahl. Nie wieder Sold zahlen. Keine Baracken mehr. Keine ewige Ausbildung. Niemand würde sich mehr wagen, sich gegen uns aufzulehnen. Niemand. Stell dir das mal vor …«, sagte er mit einem Leuchten in den Augen.
Manchmal fürchtete sich Telschaw vor dem Größenwahn seines Freundes, doch er bewunderte ihn für seine Entschlossenheit. Manchmal wünschte er, er hätte diese auch.
»Assistent! «, rief Telschaw.
Auf der Stelle erschien ein sehr junger Mann in weißem Kittel und Schutzbrille im Gesicht.
»Sie wünschen, Dr. Telschaw?«
»Bereiten Sie alles für den ersten Versuch vor, verbinden Sie das gesamte Objekt mit der Energiequelle. Und seien Sie vorsichtig dabei! Ich dulde keine Fehler!«
»Sehr wohl, Herr Doktor. Ich werde mich sofort darum kümmern.« Der Assistent zischte davon, um die Gerätschaften zu besorgen.
»Ziemlich jung, oder was meinst du, Nick?«, Jester gab seinem Kollegen einen Seitenblick.
»Wir waren auch mal so jung, wenn du dich erinnern kannst.«
»Ja, aber ich habe damals nur Reagenzgläser geputzt und nicht in einem Lager am Arsch der Welt gearbeitet.«
»Die Zeiten haben sich geändert, Walt. Ich habe gehört, dass sie jetzt schon Vierzehnjährige an die Flugabwehrkanonen heranlassen. Ausbildung und Studium werden immer kürzer, an allen Fronten werden Männer gebraucht.«
»Schon klar. Aber das sind Kinder. Sie werden alle ohne Jugend aufwachsen. Außerdem bezweifle ich, dass sie in der Lage sind, uns wirklich zu helfen. Was soll ich mit Laborassistenten, die gerade mal zwei Semester hinter sich haben?«, fragte Jester unzufrieden.
»Schwere Zeiten erfordern schwere Opfer. Ich bin mir sicher, wir werden es alle am Ende schaffen. Und wenn nicht … Hab ich dir ja schon gesagt … Dann hängen wir nicht nur am nächsten Baum. Ich möchte ehrlich gesagt, gar nicht an die Zukunft denken. Es graust mir. Ich habe so hart gearbeitet, ich möchte das alles nicht verlieren.«
Jester legte seine Hand auf Telschaws Schulter.
»Wir werden nicht scheitern, wir werden es schaffen, wir werden siegreich sein! Und dann wird dieser Rebellenabschaum dafür bezahlen!«, beruhigte er ihn.
»Deine Zuversicht möchte ich manchmal haben …«
Der Assistent kam wieder, begann die Leiche mit Kabeln zu verdrahten, und schloss sie an einen kleinen Energiereaktor an. Es war schon ein etwas älteres, zylinderförmiges Modell, vielleicht drei oder vier Jahre alt, es hatte sogar schon einige Rostflecken, aber für diesen Testversuch sollte es genügen. Angetrieben wurde der Reaktor von Energiekristallen, eine der wichtigsten Ressourcen des Imperiums. Ohne diese Steine wären viele Apparaturen und Erfindungen niemals möglich gewesen. Und auch die Eroberungsphase hätte sich unendlich in die Länge gezogen.
»Meinst du das klappt?«, fragte Jester.
»Das Gehirn sendet elektrische Signale durch den gesamten Körper, damit er sich bewegt, denkt und fühlt. Also, senden wir einfach Signale aus einer künstlichen Quelle und schauen was passiert. Assistent! Achte besonders darauf, die Nadeln ins Gehirn zu stecken! Das hat oberste Priorität!«
Der Junge nickte.
Nach einiger Zeit war die Arbeit vollbracht. Jester und Telschaw begutachteten noch einmal das Objekt, schauten nach ob auch wirklich alles miteinander verbunden war, überprüften den Reaktor und nickten sich dann zufrieden zu.
»Assistent! Leg den Hebel um!«, befahl Telschaw.
»Sehr wohl, Herr Doktor!«
Der Assistent legte den Hebel um und sofort erwachte die Maschine summend und ratternd zum Leben. Die Anzeigen leuchteten hellgrün auf, die Motoren wirbelten. Die Energie wurde auf der Stelle in die Leiche hineingeleitet. Grüne Funken sprühten, Teile des toten Körpers begannen zu zucken.
»Siehst du?«
»Wart‘s ab. Ich habe da noch meine Zweifel.«
Die Finger zuckten, die Augenlider und der Mund öffneten, der Körper krümmte sich. Es sah so aus, als wäre der erste Testversuch ein voller Erfolg. Sogar das Herz begann wieder zu schlagen. Doch dann … fiel der Reaktor aus. Die Leiche fiel wieder in sich zusammen, kein Lebenszeichen war mehr vorhanden. Stattdessen stank der Raum nur nach verbranntem Fleisch.
»Ich habe es dir ja gesagt, Nick.«
»Es war einen Versuch wert …«
»Mach dir nichts draus. Es schien zuerst erfolgversprechend, aber es braucht wahrscheinlich mehr als nur ein wenig Strom, um das Gehirn wieder zum Laufen zu bringen. Also, zurück zum Zeichenbrett.«
Telschaw schaute sich seinen Fehlversuch an. Sie standen zwar noch am Anfang, aber langsam rannte ihnen auch die Zeit davon.
»Assistent! Räumen Sie den Reaktor und die Kabel weg! Und machen Sie schnell!«
»Zu Befehl, Dr. Telschaw.«
Telschaw wandte sich an Jester: »Und wie möchtest du an die Sache herangehen?«
»Ich habe da ein Serum entwickelt, das uns weiterbringen könnte.«
»Ein Serum? Ich wusste gar nicht, dass du Chemiker bist.«
»Sehr witzig. Zu deiner Information: ich besitze ein umfangreiches Wissen über Chemikalien. In meiner Freizeit beschäftige ich mich viel damit«, entgegnete Jester.
»Aha. Und woraus hast du das Serum gemacht?«
»Ich zeige es dir. Folge mir unauffällig.«
»Wie du willst.«
Jester führte Telschaw zu einem abgelegenen Ort der Einrichtung, der Raum war durch eine massive Metalltür versperrt, auf der die Worte »ZUTRITT STRENGSTENS UNTERSAGT« standen. Jester gab eine fünfstellige Zahlenkombination ein und die Tür öffnete sich automatisch. Die beiden betraten ein Zimmer mit tropischen Temperaturen, rote Lampen gaben dem Zimmer ein bedrohliches Aussehen. An den Wänden waren Behälter mit Erde aufgestellt, in denen seltsame Pflanzen wuchsen.
»Erstaunlich, wie hast du denn das finanziert gekriegt?«
»Ich kenne da jemanden im Ministerium für Forschung«, antwortete Jester mit einem Zwinkern.
»Und was baust du hier schönes an?«
»Flosnocturnus aeternum.«
»Entschuldigung?«
» Flosnocturnus aeternum, aus der Gattung der Nachtblumen. Auch bekannt als Ewige Prinzessin der Nacht oder Ewige Nachtblume. Eine wirklich besondere Spezies. Eine Pflanze, die in der Lage ist, sich selbst wiederherzustellen, und damit quasi unsterblich ist.«
»Nicht nur Chemiker, sondern auch Botaniker, du erstaunst mich immer wieder.«
Jester knuffte Telschaw freundschaftlich in die Seite.
»Aber sag mal, Walt. Wie bist du an eine solch exotische Pflanze herangekommen?«
»Ganz einfach. Ich kenne …«
»Lass mich raten. Du kennst jemanden, der dir noch einen Gefallen schuldet?«
»Ja. Jemanden auf einer basiliskarnischen Forschungsstation berichtete mir von der Existenz dieser Pflanze. Soll nicht so leicht gewesen sein, die Blume zu pflücken. Wie ich vernommen habe, sind ein paar Silberlinge drauf gegangen. Trotzdem haben sie es geschafft, sie mir hierher zu schicken.«
»Das erklärt auch, wohin du immer verschwindest.«
Telschaw schaute sich die mysteriöse Pflanze genauer an, sie sah schon sehr schön aus. Ihre Blätter waren tiefschwarz, während die rosenförmige Blüte in einem saftigen Rot erstrahlte. Er konnte schon verstehen, warum sie die Prinzessin der Nacht genannt wurde. Jester führte ihn zu seinem kleinen Experimentiertisch, dort standen allerhand Kolben, Reagenzgläser und Bunsenbrenner. Typischerweise alles penibel aufgeräumt.
»Es ist mir tatsächlich gelungen, ein verwendbares Serum aus der Pflanze zu extrahieren. Es könnte uns eventuell nützen«, erklärte Jester voller Stolz.
»Hast du es schon an Tieren getestet?«
»An Tieren?«, er lachte, »Warum sollte ich es an Tieren testen, wenn wir doch bereits ein Testexemplar haben. Tiere … das ich nicht lache. Seit wann teste ich irgendetwas an Tieren? Also, bitte.«
»Schon gut, ich habe es ja verstanden«, antwortete Telschaw leicht genervt.
»Bist du dir sicher oder soll ich es dir nochmal erklären?«
Telschaw rollte mit den Augen.
»Lass es uns einfach hinter uns bringen.«
Jester füllte eine Spritze mit dem Serum, der konzentrierte Saft der Pflanze war pechschwarz wie Teer. Die beiden verließen das geheime Laboratorium und begaben sich wieder in den Untersuchungsraum. Der Assistent hatte bereits alles wieder auf- und weggeräumt. Jester begutachtete die leicht angebrannte Leiche, von der ein widerlicher Gestank ausging.
»Bist du dir sicher, dass dein ungetestetes Serum eine Wirkung zeigen wird?«, fragte Telschaw zweifelnd.
»Was haben wir schon zu verlieren? Es ist zumindest einen Versuch wert. Und wenn es bei einer Pflanze funktioniert, dann klappt es auch bei einen minderwertigen Dragonier.«
»Ich weiß nicht so recht. Ein Dragonier ist schon ein komplexerer Organismus als eine einfache Blume. Ich bin mir da einfach nicht so sicher. Aber … wir werden es ja gleich sehen«, entgegnete der zweifelnde Kollege.
»Ganz genau! Sieh zu und lerne!«, Jester war voller Tatendrang und hatte absolutes Vertrauen in seine Methode. Ob er am Ende recht behalten wird? Wir werden ja sehen.
Jester nahm den Arm des Objekts und suchte eine passende Stelle, um das Serum in den Körper zu injizieren. Die schwarze Flüssigkeit wurde hinein gedrückt und begann sich im Inneren zu verteilen. Nach einigen Minuten passierte erst einmal … nichts. Keinerlei Regungen, kein Zucken, einfach nichts. In Jesters Innerem bahnte sich langsam die Enttäuschung hoch.
Doch dann, passierte etwas.
Man musste ganz genau hinsehen, um es zu erkennen. Die Verletzungen der Leiche … heilten sich! Die Zellen begannen sich zu regenerieren. Die Wunden schlossen sich, selbst der Schädel erneuerte sich. Es sah ganz so aus, als wäre dieses Experiment ein durchschlagender Erfolg!
Doch da irrte man sich. Die Verletzungen waren zwar wieder geheilt und der Körper wieder intakt, doch es gab immer noch keine Lebenszeichen. Kein Herzschlag, keine Augenbewegungen, kein Zucken. Da war nichts.
Jetzt brach die Enttäuschung völlig aus Jester heraus. Wie konnte das nur möglich sein? Es sah doch so vielversprechend aus.
»Mach dir nichts daraus, Walt. Wenigstens hast du ein Mittel entdeckt, dass Wunden in Rekordzeit heilt«, versuchte Telschaw seinen Kollegen zu trösten.
»Aber was nützt das? Es kann den Tod nicht heilen! Selbst wenn wir es den Soldaten verabreichen, sterben sie trotzdem. Und ihre Zahl wird immer geringer! Und weniger! Es ist egal, ob ihre Wunden geheilt sind. Ein Schuss in den Kopf und dann ist das Licht da oben aus. Da hilft auch kein Wunderheilmittel, dass jeden Kratzer heilt …«, sagte er enttäuscht.
»Wir werden schon ein Weg finden, wir müssen einfach nur weiterforschen …«
Doch die Zeit drängte, vielleicht war der Augenblick gekommen, um unorthodoxe Methoden anzuwenden?
1075
Drei Jahre waren nun vergangen. Es waren drei sehr lange Jahre, gefüllt mit Rückschlägen, Niederlagen und Versagen. Ein Experiment nach dem nächsten war gescheitert. Egal was die beiden Wissenschaftler ausprobierten, es funktionierte einfach nicht. Sie betrachteten ihr Problem von allen möglichen Seiten, aus allen existierenden Winkeln. Doch ihnen fiel keine Lösung ein, sie waren ratlos. Sie kamen der Vollendung keinen Millimeter näher. Sie drehten sich nicht einmal im Kreis, das wäre ja eine Art von Fortschritt. Nein, sie standen auf der Stelle. Telschaw machte den vorsichtigen Vorschlag das Projekt gänzlich abzusagen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, etwas, das mehr Erfolg versprach. Doch Jester war zu ehrgeizig, um jetzt aufzugeben. Wobei ehrgeizig vielleicht das falsche Wort war, Wahnsinn oder Besessenheit trafen es wohl eher. Telschaw konnte sich nicht gegen seinen Kollegen durchsetzen, egal was er sagte, egal welche Argumente er brachte und mochten sie noch so gut sein. Jester schaltete auf stumm, er hörte nicht hin. Für ihn war klar, dass das Projekt vollendet werden musste.
Doch selbst er wusste, dass die Zeit drängte. Jetzt zählte jede einzelne Sekunde. Draußen herrschte bittere Kälte und die Rebellen hatten fast ganz Gonzzoles eingenommen. Operation Gegenschlag, eine verzweifelte Maßnahme der Führungsetage, um den Bezirk wiedereinzunehmen, war katastrophal gescheitert. Vier Jahre lang hatte man eine schier endlose Anzahl an Materialien und Humanressourcen an die Front geschickt, damit sie dort verbrannt werden. Es war nicht nur ein militärischer Fehlschlag, sondern auch ein wirtschaftlicher. Fabriken arbeiteten auf Hochtouren, um das nötige Kriegsgerät herzustellen, neue Soldaten wurden im Schnelldurchlauf ausgebildet. Man hatte die Zwangsrekrutierung nochmal verschärft, nicht nur Jugendliche, sondern auch Greise wurden an die Front geschickt. Arbeiter mussten Überstunden in den Fabriken leisten, um Gewehre zusammenzubauen, Panzer zu konstruieren, Munition herzustellen, Flugzeuge zu bauen. Einige starben sogar an Überarbeitung. Selbst vor Kinderarbeit schreckte man nicht mehr zurück.
Die Banken kamen mit dem Geld drucken gar nicht hinterher, vielerorts mussten die Fabrikaufseher die Löhne streichen, da von den Fabrikkommandanten kein Geld mehr kam. Das sorgte natürlich für Frust unter den Arbeitern. Sie hatten sich schon mal erhoben, doch da wurden sie niedergemetzelt. Jetzt, jetzt war der eiserne Griff des Imperiums gelockert. Jetzt konnten sie ihre Augen und Ohren nicht mehr überall gleichzeitig haben. Jetzt waren die Kontrollen schwach. Die Arbeiter nutzen ihre Chance, viele wechselten zur anderen Seite, um gegen ihre ehemaligen Unterdrücker zu kämpfen. Andere lehnten sich gegen ihre Kommandanten auf und vertrieben sie oder richteten sie hin. Sie übernahmen die Kontrolle über die Fabriken, verteilten die gefundenen Gelder an die Menschen, zerstörten das Kriegsgerät und zertrümmerten so ihre metaphorischen Fesseln. Später sollten diese Arbeiter das Rückgrat für eine neue Bewegung werden, die vielen Arbeiteraufstände werden in einer nicht allzu fernen Zukunft zwei besondere Kämpfer dazu inspirieren, eine nie dagewesene Ideologie zu erschaffen. Doch das ist eine andere Geschichte.
Operation Gegenschlag war eigentlich relativ simpel. Mithilfe einer überlegenen Übermacht sollte der Bezirk Gonzzoles wiedererobert werden. Die Rebellen hatten zu Anfang des Jahres 1071 n.d.T schon fast mehr als die Hälfte von Gonzzoles erobert. Die oberste Administration entschied, die feindlichen Kräfte zu vertreiben. Koste es, was es wolle. Sektor um Sektor sollte erobert werden, jede noch so kleine Fabrik, jede noch so unbedeutende Stadt war ein Sieg. Zuerst sah es auch nach einen Sieg für das Imperium aus, aber das Blatt wendete sich bald. Die Macht der Rebellen wuchs und wuchs, ihre Zahl stieg ins Unermessliche. Ohne die Gefangenen in den DMT-Lagern konnte man nicht die nötige ökonomische Kraft aufbringen. Momentan kontrollierte das Imperium nur noch ungefähr zehn bis fünfzehn Prozent von Gonzzoles, doch diese Zahl sank von Tag zu Tag. Und jeder in der Führung wusste: Wen Gonzzoles fällt, fällt auch das Imperium.
Es handelte sich wahrscheinlich nur noch um Tage, bis die Rebellen das Lager von Jester und Telschaw erreichten. Jetzt mussten sie zu drastischeren Methoden greifen!
Und diesmal schien das Schicksal ihnen ein Geschenk machen zu wollen. Einer der neu eingetroffenen Gefangenen hatte einen Gegenstand von besonderer Bedeutung bei sich.
Der Gefangene hatte gegen das Anti-Religion-Sekten-und-Geheimbünde-Gesetz verstoßen, eigentlich wäre er dafür in ein normales Staatsgefängnis gekommen, doch da er bei seiner Festnahme drei Polizisten tötete (was genau sich bei diesem Vorfall abspielte, wird unter strengstem Verschluss gehalten) wurde er aufgrund politischer Verbrechen ins nächste Lager gebracht. Bei dem Gegenstand handelte es sich um eine Art religiöses Buch, das der Verurteilte bei sich trug. Irgendwie hatte er es geschafft, das Buch in das Lager hinein zu schmuggeln.
Einer der Wachmänner nahm das Buch an sich, gebrauchen konnte es sein ehemaliger Besitzer schließlich nicht mehr. Der hatte sich nämlich mit einem Holzsplitter das Leben genommen. Der Soldat brachte es zu den beiden Doktoren, die es sich näher anguckten. Telschaw kam es bekannt vor, er hatte schon oft Legenden vom Immatericon gehört, doch es nie für möglich gehalten, dass es wirklich existieren könnte.
Telschaw argumentierte, dass dieses Buch ihnen bei der Vollendung ihrer Pläne helfen könnte. Jester hielt davon nicht wirklich viel, er hatte schon immer Unbehagen gegenüber Magie. Er hielt sie für unheimlich, gefährlich, ja sogar ketzerisch. Das lag vielleicht daran, dass seine Familie in den Tagen vor dem Imperium starke Verbindungen zum Anti-Magier-Orden hatte. Doch blieb Jester eine Wahl? Er musste jede Möglichkeit ausnutzen, die Uhr schlug nämlich bald Zwölf.
Telschaw erklärte ihm, dass man für die Nutzung des Immatericons einen Magier braucht, sonst war das Buch nutzlos. Doch woher sollte man in solch einer kurzen Zeit einen Magienutzer auftreiben? Wiedereinmal war das Schicksal den beiden gnädig, zufälligerweise befand sich ein DMT-Inquisitor in der Nähe. Er hörte auf den Namen Pascal Keenast und stammte ursprünglich aus Gregorien. Doch er wurde nach Gonzzoles geschickt, um dort auszuhelfen. Er war für seine Gefühlskälte, seinen ausgefeilten Sinn für Logik und seinen Hang zum bedingungslosen Pragmatismus bekannt.
Es dauerte nur wenige Stunden bis er im Lager ankam. Jester war nicht wirklich glücklich darüber. Wenn er Magie schon unheimlich fand, empfand er gegenüber Magiern richtige Angst. Ihre Kräfte waren für ihn nicht erfassbar, er konnte sie einfach nicht begreifen. Auch hatte er Sorgen vor der Zerstörungskraft. Er hatte schon Gerüchte vernommen, die beschrieben, wie Magier ganze Städte in Asche verwandelten und zwar nur mit einem Fingerschnippen. Er traute Magiern nicht über den Weg, ganz und gar nicht.
Und bei Keenast spürte er Unbehagen. Er war ein mittelgroßer Mann mit ausdruckslosem Gesicht, der typische schwarze Inquisitorenmantel wehte um seinen Körper. Er strahlte eine eisige Aura aus, die dafür sorgte, dass Jester fror und zitterte. War das das Werk seiner Magie?
Keenast nahm seinen breitkrempigen Hut ab, es wurden schwarzbraune, struppige Haare sichtbar. Er schaute die beiden Wissenschaftler an, nickte ihnen zu und sagte: »Ich habe gehört, man benötige meine Dienste. Ist das wahr?«
Jester bekam Gänsehaut. Selbst die Stimme des Magiers war kalt und gefühllos. Nach jedem Wort fühlte es sich an, als ob der Raum kühler wurde.
Telschaw trat hervor und begrüßte seinen Gast: »Einen guten Tag, Herr Inquisitor. Vielen Dank, dass Sie in diesen schweren Zeiten zu uns gefunden haben. Und ja, die Gerüchte stimmen. Wir benötigen Ihre besonderen Fähigkeiten. Das Schicksal des gesamten Imperiums könnte davon abhängen.«
»Worum geht es?«, fragte er.
»Da die Zeit langsam aber sicher drängt, werde ich Ihnen auf dem Weg alles erklären. Folgen Sie uns, bitte.«
Die drei begaben sich ins Innere des Forschungskomplexes. Im oberirdischen Bereich befanden sich die Schlafsäle der Doktoren und Assistenten, sowie ein extra eingebautes Krematorium. All die wichtigen Dinge geschahen unterhalb des Komplexes, somit geht man sicher, dass im Falle eines Angriffs keine Forschungen zerstört werden. Telschaw führte Keenast zu einem Fahrstuhl, dessen Tür mit einem Passwort geschützt war. Nur berechtigte Personen hatten Zutritt zum Labor.
Die Tür öffnete sich und die Drei gingen hinein.
»Sagen Sie, Herr Inquisitor«, begann Telschaw, »Gibt es Neuigkeiten von der Front? Irgendwelche wichtigen Geschehnisse?«
»Vertrauliche Informationen. Mit ihresgleichen darf ich nicht darüber reden. Und es hat Sie auch gar nicht zu interessieren, da diese Informationen nur für hochrangige Militärs und hohe Mitglieder der Regierung verfügbar sind.«
»Oh, verstehe«, Telschaw fühlte sich leicht gekränkt.
»Aber sagen Sie, Dr. Telschaw, Sie wollten mir doch etwas erklären.«
»Ähm, ja, ja, genau! Wir brauchen Ihre … Magie. Wir haben dieses Buch gefunden, doch es funktioniert nur, wenn ein Magier es benutzt«, erklärte Telschaw.
»Was wollen Sie damit erreichen?«, Keenast hob eine Augenbraue.
»Tote wiederbeleben.«
Der Fahrstuhl blieb endlich stehen, langsam öffneten sich die Türen. Jester konnte es kaum noch erwarten, hinaus zu springen, ihn fröstelte es gewaltig. Warum merkte sein Kollege nichts?
Keenast drehte sich zu Telschaw um und sah ihm direkt in die Augen. Mit fester Stimme sprach er: »Sie haben mich von einer sehr wichtigen Angelegenheit weggebracht, um hier irgendwelche Spielereien mit mir zu vollziehen? Meinen Sie das wirklich ernst?«
Man konnte fast meinen, dass Zorn in seiner Stimme mitschwang, doch dafür musste man schon ein sehr gutes Gespür für menschliche Emotionen haben.
Gänsehaut zog sich über den gesamten Körper von Telschaw, es wurde gerade sehr viel kälter in der Fahrstuhlkabine. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Die Angst lähmte ihn. Jester konnte es nicht länger ertragen. Was bildete sich dieser Magier nur ein?
Er baute sich vor Keenast auf und sagte mit absoluten Selbstbewusstsein: »Hören Sie zu, Herr Inquisitor. Sie sind hier zu Gast und als Gast hat man sich an die Regeln zu halten. Und dazu gehört auch, Respekt gegenüber uns zu zeigen. Sie können uns jetzt also bei unserer sehr wichtigen Angelegenheit helfen oder sich wieder in das Loch zurück verpissen, aus dem Sie gekrochen sind. Verstanden?«
»Bedrohen Sie mich etwa, Doktor Jester?«
Jester sagte nichts, er nahm all seinen Mut zusammen und starrte dem Inquisitor direkt in seine dunklen Augen. Für einen kurzen Moment fühlte es sich an, als wären es Minusgrade in der Kabine. Jester ließ sich nichts anmerken und starrte weiter. Die Nervosität zernagte langsam Telschaws Nerven.
»Also gut«, brach Keenast die Stille, »Zeigen Sie mir das Buch.«
Für ein kurzen Augenblick huschte ein Lächeln über Jesters Gesicht. Sieg, dachte er sich. Er zeigte dem Inquisitor den Weg zum Labor.
Als Keenast außerhalb der Hörreichweite war, flüsterte Telschaw: »Danke.«
»Keine Ursache, dafür bin ich doch da«, antwortete Jester mit einem Augenzwinkern.
Die beiden folgten dem Inquisitor und geleiteten ihn ins Laboratorium. Dort lag der tote Sektierer bereits auf dem Seziertisch, das alte Buch lag daneben. Keenast schnappte sich sofort das Immatericon und begann darin zu blättern, auf seiner Stirn zeichneten sich dabei tiefe Furchen ab. Er schien noch nicht wirklich überzeugt zu sein.
»Dieses Buch verstößt gegen sämtliche Gesetze bezüglich Religion, Sekten, Geheimbünde und Okkultismus. Es dürfte gar nicht existieren. Eigentlich müsste ich es sofort beschlagnahmen und verbrennen. Und ihnen dem nächsten Richter vorführen … oder euch gleich selber exekutieren. Da die Situation aber gerade etwas … angespannt ist, werde ich vorerst davon absehen.«
»Zu gütig«, bemerkte Jester sarkastisch.
Keenast ignorierte Jesters Kommentar: »Bei welchen dieser … Rituale … braucht ihr denn meine Fähigkeiten?«
Telschaw sprang quasi zu ihm hin, nahm ihn das Buch weg, blätterte etwas und zeigte dem Inquisitor dann die Stelle.
»Darum geht es.«
Das Ritual trug den Titel Fleisch erwache, die zwei Seiten beschrieben im genauesten Detail, wie man vorzugehen hatte. Der Magienutzer nahm das Buch in die rechte Hand und mit der linken Hand berührte er den jeweiligen Körper. Dann sagte er noch ein paar rituelle Zauberwörter und so sollte das Ritual funktionieren.
Keenast war immer noch nicht überzeugt, aber er zuckte mit den Schultern und nahm das Buch wieder an sich. Er las sich das Ritual noch einmal gründlich durch und begann dann der Anleitung zu folgen. Zwei Laborassistenten gesellten sich dazu, sie wollten unbedingt das kommende Spektakel sehen. Er legte seine Hand auf die kalte Leiche des Okkultisten, dabei verzog er keine Miene. Er hatte schließlich Erfahrung damit. Er las noch einmal die magischen Worte, Keenast wollte sichergehen, dass er sie auch beim ersten Versuch richtig ausspricht.
Er begann zu lesen: »Ehcawre Hcsielf, Ehcawre Hcsielf. Ehcawre dnu Eshcaw. Eshcaw dnu Ehcawre. Ehcawre Hcsielf, Ehcawre Hcsielf.«
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Die Buchstaben im Immatericon begannen zu leuchten, genauso wie Keenast Hand. Schwarze Blitze zuckten aus der Leiche, Jester und Telschaw schauten gebannt zu. Hatte das Ritual etwa funktioniert? Die Lichter flackerten, die Luft schien zu flimmern. Sämtliche Haare von Jester stellten sich auf. Die beiden Laborassistenten schauten verunsichert durch die Gegend, auch sie spürten es. Die Luft flimmerte mehr. Schatten huschten an den Wänden. Ein leises Kratzen war auf den Fliesen zu hören. Etwas … war dem Ruf gefolgt. Jester hatte ein ganz mieses Gefühl bei der Sache.
Die Leiche begann sich zu regen, leider nicht so wie man es sich erhofft hatte. Das tote Fleisch begann zu erwachen und zwar im wortwörtlichen Sinne. Die Zellen begannen sich in unglaublicher Geschwindigkeit zu teilen. Das Fleisch wuchs! Keenasts Arm und das Fleisch verbanden sich. Was auch immer es jetzt war, es absorbierte seinen Arm. Der Inquisitor ließ nicht zu, dass Panik ihn übermannte, er packte seine nun verlorene Gliedmaße und ließ einfach seine Magie wirken. Der Abschnitt gefror augenblicklich und Keenast konnte sich in letzter Sekunde befreien. Doch der Horror begann erst. Die Leiche wurde langsam zu einem kleinen Berg, vom ursprünglichen Besitzer war kaum noch etwas zu sehen. Die anwesenden Wissenschaftler wussten nicht, wie sie jetzt weiter verfahren sollten, sie standen einfach da und schauten zu.
Aus dem Ding bildeten sich ein dutzend Arme, es versuchte sich aufzurichten, scheiterte jedoch dabei. Es versuchte, seinen Körper durch Ziehen fortzubewegen und landete dabei auf dem Boden. Weitere Arme wuchsen, einer von ihnen schnellte wie ein Tentakel heraus und schoss auf den jungen Assistenten zu. Keine Chance für ihn zu reagieren.
Das Ding packte ihn am Kragen und bevor er losschreien konnte, zog es ihn auch schon wieder zu sich. Es verschlang ihn mit dem Kopf zu erst, nur noch erstickte Schreie waren zu hören. Das Opfer wurde assimiliert. Jetzt war es bereit. Es mutierte und wuchs weiter. Beine, die an eine Spinne erinnerten, schossen aus seinem ekelhaften Körper. Das Ding begann auch langsam Form anzunehmen, obwohl niemand der Anwesenden genau sagen konnte, was es war. Augen platzten heraus wie eiternde Pickel, mundartige Löcher öffneten sich. Es richtete sich auf.
»Beim … Imperator«, flüsterte Telschaw.
»Der wird dir jetzt auch nicht helfen können!«, Jester schaute zum erstarrten Inquisitor, »Keenast! Jetzt stehen Sie doch nicht so blöd in der Gegend herum, sondern tun etwas!«
Der Inquisitor riss sich aus seinen Bann und begann sich zu konzentrieren. Um ihn herum leuchteten sechs kleine blaue Kugeln auf. Diese verwandelten sich in Eisdolche, die er mit mentaler Kraft auf die Kreatur schleuderte. Doch die schien ziemlich unbeeindruckt davon zu sein. Sie rannte einfach zum zweiten Assistenten und absorbierte ihn in ihre Masse. Sie kreischte und begann weiterzuwachsen.
Jester schüttelte Telschaw wach: »Komm jetzt! Wir müssen von hier weg!«
»Äh … Äh … ja …«
»Keenast! Schwingen Sie ihren Arsch hier raus!«
Die Drei flohen aus dem Raum, Jester schloss noch schnell die Tür zu. Ein vom Lärm alarmierter Wachmann eilte zu ihnen hin.
»Was soll denn das Geschrei? Ist etwas passiert?«
»Keine Zeit!«, brüllte Jester.
Die Gruppe machte sich zügig auf den Weg zum Fahrstuhl, keine Sekunde zu früh, da in diesem Moment die Tür zerbrach und der arme, ahnungslose Wachmann von einem Spinnenbein aufgespießt und sofort assimiliert wurde. Das Ding zog sich in den Gang und mit seinen hunderten von Augen fokussierte es die Gruppe. Panik erfasste Jester, er drückte wiederholt auf den Knopf, der den Fahrstuhl rufen sollte. Doch das Schicksal konnte auch eine Hure sein, denn der ließ sich Zeit. Wie sagt man immer so schön, aller guten Dinge sind drei.
Keenast handelte schnell und pustete einen Eisatem, der den Gang mit einer Mauer versiegelte. Die wird das Ding nicht für immer aufhalten, doch es verschaffte ihnen einige kostbare Minuten. Der Fahrstuhl kam endlich unten an und die Türen öffneten sich. Sie gingen hinein und fuhren nach oben. Jester atmete erleichtert aus, Telschaw schaute mit einem leblosen Blick in die Ferne und Keenast schwieg einfach, seine Miene verriet keinen persönlichen Gedanken.
Oben angekommen versuchte Jester sich einen Plan zu überlegen. Er musste dem Leiter Bescheid sagen, alle Soldaten müssen alarmiert, das Lager evakuiert werden! Aber wohin evakuieren? Sie waren schließlich von Feinden umzingelt. Seine Gedankengänge wurden schließlich von einem fürchterlichen Geräusch unterbrochen. Ein Kreischen. Metallische Geräusche. Das Ding bahnte sich einen Weg nach oben. Es blieb nicht mehr viel Zeit übrig, Jester rannte nach draußen, es war bereits dunkel. Schnee fiel herab, ein kalter Wind wehte. Telschaw und Keenast folgten ihm. Er ging zum Haus des Lagerleiters. Der Mann, ungefähr Mitte sechzig, schrieb gerade ein paar Briefe. Er schaute hoch: »Dr. Jester? Warum klopfen Sie denn nicht? Haben Sie Ihren Respekt verloren?«
»Evakuieren …«, keuchte er.
»Wie bitte?«
»Evakuieren Sie das Lager!«, schrie er.
»Was ist denn los?«, sein Gesichtsausdruck wandelte sich von verwirrt zu schockiert, »Sind die Rebellen etwa im Anmarsch?«
»Nein, nein, es ist …«, zu spät.
Ein lautes Krachen war draußen zu hören, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Gebrüll und Schüssen aus Maschinengewehren. Der Leiter und Jester gingen hinaus. Entsetzen war auf ihren Gesichtern zu sehen.
»Was haben Sie nur angerichtet, Sie Trottel?«, flüsterte der alte Mann.
»Das wüsste ich auch gerne …«
Die Kreatur war riesig, sie hatte das gesamte Forschungsgebäude zerstört. Sie war eine Ansammlung von Körperteilen, Knochen und rotem Fleisch, keine genaue Form, keine genaue Kontur. Sie brüllte und schnappte sich einen Soldaten nach dem anderen, sie alle schrien verzweifelt.
»Holt die verdammten Flame Thrower!«, rief einer der Offiziere bevor er zerquetscht wurde.
Ein mechanisches Biest von zwei Meter Größe wurde aktiviert, gefolgt von schweren Einheiten, die ebenfalls mit Flammenwerfern bewaffnet waren. Sie begannen das Monster anzugreifen, es schrie und wurde wütend.
Jester rannte zu Telschaw, der immer noch apathisch war. Von Keenast fehlte jegliche Spur. War er dem Biest bereits zum Opfer gefallen? Spielte jetzt keine Rolle. Er schüttelte seinen Freund wach und schrie ihn an: »Wir müssen hier weg! Wir müssen von hier verschwinden! Und zwar sofort!«
Es dauerte ein wenig, doch Telschaw begann zu realisieren, was um ihn herum passierte. Er nickte Jester langsam zu: »Okay, Walt.«
Jester schnappte sich Telschaws Hand und rannte los. Der Leiter rief ihn noch etwas hinterher, doch da hörte er ihn schon gar nicht mehr. Jetzt ging es nicht mehr um Befehlsketten, sondern ums Überleben. Als sie einige hundert Meter vom Lager entfernt waren, hörten sie noch einmal das schreckliche Brüllen, gefolgt von menschlichen Schreien. Die Geräusche brannten sich für immer in das Gedächtnis von Jester, nie sollte er jene Nacht vergessen. Er drehte sich ein letztes Mal um und sah, wie das Lager langsam in Flammen aufging und die Kreatur immer mehr wuchs. Zum allerersten Mal verspürte er Mitleid mit den Gefangenen.
1081
Einige Jahre waren seit dieser Nacht vergangen, sechs um genau zu sein. Und in diesen sechs Jahren hat sich Terra stark verändert. Fangen wir doch da an, wo wir aufgehört haben: im Jahre 1075 n.d.T.
Gonzzoles wurde von den Rebellen vollständig eingenommen, einige Zeit später landeten sie mit einer gewaltigen Flotte an den Küsten Lorgons, tausende von ihnen stürmten die Küstenverteidigung. Viele starben an diesem Tag und die Mauern brachen. Das Land wurde erstürmt und Sektor um Sektor erobert, Dörfer und Städte wurden aus den Klauen des Imperiums befreit. Bald machte sich die Hauptstreitmacht auf den Weg zum Herzen des Imperiums, der Hauptstadt Lorgon-City. Das Ziel war klar und deutlich: die Eroberung der Stadt und die Gefangennahme der Regierung, insbesondere des Imperators.
Es gab kaum Widerstand, die vielen versprengten Gruppen der DMT-Armee ergaben sich entweder oder schlossen sich sogar an, nur wenige lieferten einen Kampf. Kurz bevor die Rebellen die Stadt erreichten, kam ihnen ein gewaltiger Flüchtlingskonvoi unter der Führung von DMT-General Neuendorff entgegen. Hunderttausend Zivilisten und mehrere dutzend Truppen ergaben sich den Rebellen, sie suchten verzweifelt Schutz.
Die Armee marschierte weiter, teilte sich und die griff die Stadt an. Dieses Ereignis ging als die Schlacht von Lorgon-City in die Geschichte ein. Auf stundenlange Häuserkämpfe folgte ein Showdown auf dem Großen Platz. Überraschenderweise beendete die Elite, eine Gruppe von auserwählten Kämpfern und wichtigen Mitgliedern der Regierung, den Kampf. Sie versuchten die Lage zu beruhigen und erklärten den Krieg für beendet, sie machten den Imperator für alle Gräueltaten verantwortlich. Daraufhin wurde kurzerhand sein Todesurteil vollstreckt, eine Gruppe seiner eigenen Soldaten erschoss ihn.
Die Elite schickte dann an eine Nachricht an alle noch verbliebenen Gouverneure. Das Imperium ist vorbei, der Imperator ist tot. Ergebt euch oder spürt die Konsequenzen. Einige waren diesem Befehl gefolgt, andere leisteten Widerstand. Doch auch dieser zerbrach bald.
Nachdem auch der letzte Widerstand beseitigt war, begannen die Friedensverhandlungen zwischen den gemäßigten Imperialen und den Anführern der Rebellenkräfte. Es wurde eine Provisorische Zentralregierung eingesetzt, die den Prozess der Demokratisierung und die Verurteilung der imperialen Verbrecher überwachen sollte. Nebenbei begann die Arbeit an einer neuen Verfassung für eine internationale Regierung.
Ab 1077 n.d.T herrschte in Lorgon wieder eine Repräsentative Demokratie, der Senat und das Amt des Präsidenten wurden wiederhergestellt. In Lorgon-City begann man mit der Aufarbeitung der verbrecherischen Taten des DMT-Regimes, der Prozess sollte in wenigen Jahren stattfinden und die Urteile werden nicht nur in Gefängnis bestehen.
Die Zeiten waren nicht einfach, beinahe die gesamte Welt war in Schutt und Asche gelegt worden. Die Wirtschaft lag röchelnd am Boden, viele verloren ihre Jobs, ihre Lebensgrundlage. Was machte man mit den Millionen von Soldaten? Und besonders die Klone stellten ein großes Problem da, was sollte mit ihnen geschehen? Eine Maßnahme war es, die Klonfabriken ein für alle mal abzuschalten und zu zerstören. Blieben immer noch die lebenden Klone. Viele von ihnen nahmen sich das Leben oder versanken in tiefen Depressionen, ihr gesamtes Dasein war sinnlos geworden.
Aus dem Schatten der Provisorischen Regierung erhob sich auch ein alter Bekannter, die Handelsgesellschaft. Sie nahm gleich wieder ihren Platz als größtes Unternehmen ein und half emsig beim Wiederaufbau. Dabei sollen aber Entscheidungen getroffen worden sein, die später in der Zukunft ungeheure Konsequenzen haben. Doch genug erst mal davon.
Was haben Jester und Telschaw eigentlich seitdem gemacht? Nun, nach der grauenvollen Nacht im Lager waren sie Hals über Kopf geflohen. Sie blieben für einige Zeit unterhalb des Radars und schlugen sich nach Lorgon durch. Dort gaben sie sich als Lagerflüchtlinge aus, was ja nicht unbedingt gelogen war. Jester besorgte ihnen neue Ausweispapiere und Identitäten, das war in diesen turbulenten Zeiten nicht schwer. Von nun an waren sie nicht mehr Walter Daniel Jester und Nikolas Telschaw, sondern Julius Nickelburn und Konrad Chamber.
Nachdem die ganze Aufregung etwas abgeflacht war, nahmen sie ihre Arbeit wieder auf. Sie zogen nach Lorgon-City und kauften sich dort ein relativ kleines Krankenhausgebäude. Nickelburn konnte ein paar alte Freunde kontaktieren, die ihm noch etwas schuldeten, somit waren Geld und benötigte Materialien kein Problem. Sie eröffneten 1077 n.d.T eine Psychiatrie, genannt Chamber Asylum, Chamber übernahm die offizielle Leitung und gab auch seinen Namen dafür her, er war schließlich derjenige, der Psychologie studiert hatte. Nickelburn unterstützte ihn mit seinen Wissen in Neurowissenschaft und Medizin.
Die psychiatrische Lizenz zu bekommen, war keine große Schwierigkeit für die beiden. Viele Leute benötigten unbedingt psychologische Hilfe nach dem Ende des Krieges und Psychologen oder Psychiatrien waren rar gesät. Nickelburn und Chamber waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort und fanden die perfekte Marktlücke.
Also alles eitel Sonnenschein?
Mitnichten.
Nickelburn machte sich Sorgen um seinen Freund. Chamber hatte sich seit der schicksalshaften Nacht sehr verändert. Er war keine Frohnatur mehr, das Lächeln verschwand gänzlich aus seinem Gesicht. Um ehrlich zu sein, Nickelburn hatte ihn schon seit Jahren nicht mehr Lachen gehört. Die schulterlangen Haare wichen einer kurzhaarigen Frisur, wo schon erste Ansätze von Grau zu sehen waren. Die Miene wirkte ernst, die Augen blass und leer. Oftmals erwischte Nickelburn ihn dabei, wie er nachts aus dem Fenster starrte oder einfach in der Ecke stand und die Wand anguckte. Irgendetwas stimmte mit ihm ganz und gar nicht und das bereitete Nickelburn Sorgen.
Eines Abends hörte er Chamber murmeln: »Es ruft nach mir. Es ruft nach mir. Es kommt, es wird kommen, es muss kommen, denn es ruft nach mir. Ich höre es, ich höre es doch. Es ruft. Es ruft nach mir.«
Nickelburn wusste nicht, was er davon halten sollte. Es machte ihm etwas Angst. Verlor sein bester Freund etwa den Verstand? Es war gut möglich und wenn es stimmte … es lag eine gewisse Ironie darin. Psychologe verfiel dem Wahnsinn, das Schicksal kann grausam sein.
An einem regnerischen Frühlingstag des Jahres 1081 n.d.T geschah dann etwas, was das Leben der beiden grundlegend veränderte. Und dabei war es nicht mal ein großes Ereignis. Alles fing an mit einem Paket. Nickelburn entleerte den Briefkasten und wurde von einen kleinen Päckchen begrüßt. Nicht wirklich groß oder schwer, rechteckig und fest. Auf den Paket stand kein Absender, nur der Empfänger stand drauf: An J. Nickelburn und K. Chamber. Nickelburn war verwirrt, er hatte nichts bestellt, warum kam dann dieses Päckchen an? Er ging zurück in das Haus und setzte sich ins Wohnzimmer. Er riss die Verpackung auf und in dem Augenblick als er sah, was er da in den Händen hielt, traf ihn der Schock wie ein Blitz. Kalter Schweiß breitete sich auf seiner Haut aus, ein Gefühl der Übelkeit kroch seine Speiseröhre hoch.
»Das kann nicht sein, das kann nicht sein. Völlig unmöglich … ausgeschlossen«, flüsterte er vor sich hin.
Und doch war es Realität. Das Päckchen enthielt eine Erinnerung an die Vergangenheit. Es war das Buch aus der schicksalshaften Nacht, das Immatericon. Es war wieder zurückgekehrt. Nickelburn hielt es für unmöglich, es müsste doch in den Flammen des Feuers verbrannt sein oder zumindest hunderte von Metern tief in der Erde vergraben liegen. Und trotzdem lag es vor ihm. Es hatte den Weg zurück gefunden.
Auf einmal betrat Chamber das Wohnzimmer, Nickelburn hatte nicht genügend Zeit, dass Buch zu verstecken. Sein Freund starrte es einfach nur an, für einen kurzen Moment war ein Funkeln in seinen Augen zu sehen. Er murmelte: »Ich wusste es. Es kommt wieder.«
Er schnappte sich das Buch und bevor er den Raum verließ, sagte er zu Nickelburn: »Wir werden demnächst eine Menge Arbeit vor uns haben.«
»Was meinst du damit?«, doch er erhielt keine Antwort mehr, Chamber war schon wieder verschwunden. Wahrscheinlich schloss er sich wieder in sein Zimmer ein. Nickelburn war zutiefst über die gesamte Situation verunsichert. Und es machte ihm auch Angst. Das Buch hatte einfach den Weg zu ihnen zurück gefunden, obwohl es doch eigentlich nicht möglich sein sollte. Nickelburn starrte auf den Boden seines Wohnzimmers, er spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Wer weiß, was noch alles auf ihn zu kommt.
Zwei Wochen später arbeitete Nickelburn noch bis spät in der Nacht in seinem Büro in der Psychiatrie. Er musste noch ein paar Rechnungen überprüfen und Protokolle schreiben. Eigentlich hatte er gar keine Lust dazu. Er war müde und erschöpft. Seine Augen fielen ihm gleich zu, er konnte kaum noch die Buchstaben auf den Zetteln sehen. An Tagen wie diesen wünschte er sich sein altes Leben im Imperium zurück. Damals konnte er noch frei forschen und musste nicht solchen verdammten Buchhalterkram erledigen, das hätte jemand anderes übernommen. Doch die Zeiten hatten sich geändert, das Imperium war nicht mehr. Er schaute auf die Uhr: kurz nach zwei.
Nickelburn entschied doch erst mal Schluss zu machen und Schlafen zu gehen. Er verließ sein Büro und war auch gerade dabei zu gehen, als plötzlich ihn Geräusche aufhorchen ließen. Gemurmel, Gepolter, zischen. Das war nicht die Geräuschkulisse eines Krankenhauses in der Nacht. Es klang mehr nach Baustelle, die Quelle schien sich im Keller zu befinden. Waren wieder irgendwelche Jugendliche eingebrochen, um Medikamente zu stehlen? Er hoffte es nicht, darauf hatte er jetzt wirklich keine Lust. Er schnappte sich schnell eine Taschenlampe und begab sich nach unten. Im Keller des Chamber Asylum wurden Medikamente, medizinische Geräte, nicht gebrauchte Betten und allerhand Krempel gelagert. Eigentlich nichts Interessantes. Doch ab und zu brachen Banden von Jugendlichen, vaterlose Kleinkriminelle, ein um sich am Bestand zu vergreifen. Damit konnte man auf dem Schwarzmarkt ein gutes Sümmchen verdienen oder sich gleich zudröhnen. Beides konnte man in diesen schweren Zeiten gebrauchen. Auch Nickelburn überkam manchmal der Drang sich einfach ein paar Pillen einzuwerfen.
Als er im Keller ankam, wurden die Geräusche lauter, aus dem Gemurmel wurden fast verständliche Sätze.
Nickelburn kam der Quelle immer näher, Jugendliche konnten es schon mal nicht sein. An den Fenstern waren, zumindest für ihn, keine Einbruchspuren zu erkennen. Er sah eine geschlossene Tür, hinter der helles Licht durchschien und die Geräusche herkamen. Er öffnete die Tür und musste erst einmal zwei, drei Sekunden überlegen, was er da eigentlich genau sah.
Er erblickte seinen besten Freund und Kollegen, Chamber. Der war in seinem Kittel gekleidet und hielt das Immatericon in den Händen. Dahinter befand sich eine wahrhaftig skurrile Szene. Eine Gruppe von Patienten mit abwesenden Blick arbeiteten an irgendeiner Art von … Gerät. Sie schweißten und hämmerten und trugen Metall hin und her. Dabei hatten sie nicht mehr als ihre weißen Schlafhemden an. Es sah so aus, als würden sie einen aufrecht stehenden Kreis bauen. Nickelburn wurde nicht schlau daraus.
Doch die größte Überraschung hatte er noch gar nicht erblickt, neben Chamber stand nämlich ein altbekanntes Gesicht. Es war Ex-Inquisitor Pascal Keenast. Doch man musste schon genauer hinsehen, um ihn zu erkennen. Die schwarzbraunen Haare waren völlig fettig und gingen ihm bis zur Schulter. Im Gesicht hatte er einen ungekämmten, filzigen Bart. Seine Kleidung bestand aus dreckigen, zerrissenen Lumpen, kein Vergleich mit der eleganten schwarzen Uniform von damals. Ja, der Zerfall des Imperiums schien ihm nicht gut bekommen zu sein. Doch an seiner Mimik hatte sich nichts geändert, die war immer noch ausdruckslos. Und er strahlte noch immer diese Kälte aus, wenn auch nicht mehr so stark wie früher.
»Kon… Nick, was ist hier los?«
Chamber drehte sich um und schaute seinen Freund entgeistert an.
»Was machst du denn um diese Uhrzeit hier noch?«
»Das Gleiche könnte ich dich fragen.«
»Ich … arbeite, davon habe ich doch gesprochen«, entgegnete Chamber.
Nickelburn ging zu den beiden hin.
»Und was macht dann Inquisitor Keenast hier?«
»Keenast reicht aus«, erwiderte der ehemalige Staatsdiener.
»Er hilft mir, Walt. Er hilft mir bei meinem Projekt.«
»Welches Projekt? Nikolas, wovon sprichst du? Was ist nur los mit dir? Ich verstehe gar nichts!«
»Gemach, gemach, mein alter Freund«, begann Chamber, »Bald wird alles Sinn ergeben. Doch dafür brauchst du Geduld. Alles, wirklich alles … wird sich später offenbaren. Dann wirst du sehen. Dann … werden wir alle sehen. Doch vorerst muss ich weiter dem Ruf folgen, es ruft nach mir.«
So viel hatte Chamber schon lange nicht mehr gesagt.
»Ich verstehe nicht … Mensch, Nick. Ich mache mir doch nur Sorgen um dich. Nick … Ich habe Angst, um dich. Was damals geschah … Es war schlimm. Alptraumhaft. Was wir getan haben … Wer dafür bezahlen musste … Nick, wir … es ist schwierig. So, unfassbar schwierig …«, Nickelburns Stimme zitterte, er stand den Tränen nahe.
Doch Chamber hörte kaum hin, er schien in seiner eigenen kleinen Welt gefangen zu sein und begann wieder irrsinniges Zeug von sich zu geben. Er starrte irgendeinen Punkt im Raum an.
»Bald wird alles vorbei sein. Der Ruf, der Ruf wird verstummen. Sobald … sobald die Verbindung … Ja, das müsste, müsste klappen. Bald ist es geschafft. Der Durchbruch … Die Barrieren … Das Ende … Man ruft nach mir. Es wird kommen … Es wird … Es muss … Ja … Das Zerstören der … Hält alles zusammen … Ja … Ja.«
Nickelburn verstand gar nichts, er wurde aus dem Gebrabbel einfach nicht schlau. Er wandte sich stattdessen Keenast zu, vielleicht bekam er von ihm antworten.
»Was machen Sie hier?«
»Ich helfe ihrem Freund.«
»Bei was?«
»Bei seinem Projekt.«
Nickelburn strich sich durch die blonden Haare und atmete schwer aus.
»Ja. Ist mir schon klar. Aber um was handelt es sich bei diesem Projekt?«
»Das weiß ich nicht wirklich.«
Langsam verlor Nickelburn die Geduld. Er versuchte einen anderen Ansatz.
»Wie habt ihr beide euch überhaupt gefunden?«
»Es … Das kann ich ehrlich gesagt gar nicht erklären. Es ist einfach passiert.«
»Und was bekommen Sie dafür, dass Sie hier mitmachen?«
»Ich …«
»Das kann ich erklären«, unterbrach Chamber ihn, »Wie du sehen kannst, geht es den Herrn Keenast etwas schlecht. Seit dieser … Nacht … ist er nicht mehr derselbe. Zusätzlich leidet er unter Phantomschmerzen, wegen seines verlorenen Arms. Und ich wollte ihm helfen.«
»Inwiefern?«, Nickelburn mochte die Richtung nicht, in der das Gespräch gerade verlief.
»Er bekommt die dringend benötigen Schmerzmittel, die er sich nicht mehr leisten kann. Ja … Ja, das ist … eine angemessene Belohnung.«
»Daher weht der Wind also«, er schaute Keenast direkt in die Augen, seine Angst vor ihm war verflogen, »Sie wollen sich hier auf unseren Kosten zudröhnen lassen.«
»Die Zeiten sind schwierig geworden«, verteidigte Keenast sich, dabei verzog er keine Miene.
»Die Zeiten sind für uns alle schwierig«, Nickelburn schnaubte erbost. Er drehte sich wieder zu Chamber hin: »Und was machst du hier mit unseren Patienten? Sollen uns die Behörden erst Schwierigkeiten machen? Du weißt, die Zeiten haben sich drastisch geändert. Das Imperium hält nicht mehr seine schützende Hand über uns.«
»Mach dir darüber keine Gedanken. Es ist alles … unter Kontrolle. Alles verläuft nach Plan.«
Nickelburn schüttelte wütend den Kopf. Er konnte nicht wirklich glauben, was er sah und hörte. Experimente mitten in der Nacht. Illegale Ausnutzung von Patienten. Er konnte die wütenden Stimmen der Staatsanwaltschaft bereits hören. Er zeigte mit dem Finger auf Keenast.
»Dir ist auch bewusst, dass wenn irgendjemand herausfindet, dass wir einen ehemaligen Inquisitor bei uns haben, dass das alles hier aufliegen kann? Wir haben hier einen gesuchten Kriegsverbrecher bei uns zu Gast. Und wenn man noch etwas weiter forscht, findet man auch unsere Leichen im Keller. Dann hängen wir alle drei am Galgen! Ist dir das bewusst? Ist dir das … wirklich … bewusst?«
Chamber nickte.
Nein, dir ist gar nichts bewusst, dachte er. Du bist wahnsinnig, du bist verrückt geworden. Du weißt nicht, was für uns auf dem Spiel steht. Wir könnten alles verlieren, alles was wir gemeinsam aufgebaut haben. Ich möchte das nicht, ich möchte nichts verlieren. Ich möchte nicht dich verlieren. Ist dir das denn nicht bewusst? Bist du blind vor Wahnsinn geworden? Was ist nur mit dir geschehen?
All das sprach Nickelburn nicht offen aus. Wieso denn auch? Es hätte keinen Zweck gehabt, Chamber hätte eh nicht zugehört. Er konnte seinen alten Freund nicht mehr von seinem Weg abbringen, er konnte jetzt nur noch zuschauen.
Chamber schaute ihm direkt in die Augen. Nickelburns Haut begann zu kribbeln.
»Hast du schon mal von Maehigor gehört? Von der Legende des Maehigor?«
»Mähi-was?«, Nickelburn verstand nur Bahnhof.
Chamber antwortete daraufhin: »Maehigor der Dunkle Lord, der Erste der Dunklen Magier.«
»Nein? Sollte ich davon gehört haben? Keenast, haben Sie schon mal davon gehört?«
Der Magier schüttelte den Kopf: »Nein, der Name sagt mir nichts.«
»Es überrascht mich nicht«, fuhr Chamber fort, »Es ist nichts, worüber die Professoren auf den imperialen Hochschulen erzählen würden. Kaum einer weiß heutzutage noch etwas über ihn und seine unzähligen Errungenschaften. Schade eigentlich, wirklich schade.«
»Dann erleuchte uns, o Genius«, forderte Nickelburn.
»Nun gut. Über ihn gibt es unzählige Legenden und Mythen und nur ein Viertel davon enthält ein Körnchen Wahrheit. Sie alle sind sich aber einig, dass er vor vielen Jahrtausenden gelebt hat. Lange vor dem Letzten Kreuzzug, lange vor dem Drachenkrieg. Einige behaupten, er sei vor seinem Aufstieg zum Meister der Dunklen Künste nur ein einfaches Mitglied der Bibliothekarengilde gewesen. Ein junger, wissbegieriger Mann … und er war so talentiert. Er wollte einfach alles wissen, jeden noch so unbedeutenden Fetzen. Doch irgendwann kam er aufgrund seines Wissensdurstes in Konflikt mit seinem Orden und ganz besonders mit dem Magier-Rat. Sie meinten, seine Arbeit und seine Forschung verstießen gegen ihre ach so heiligen Regeln. Also, schickten sie ihn ins Exil und schlossen ihn aus dem Orden für immer aus.«
»Das ist ja eine nette Geschichte, aber was hat das mit deinem Projekt zu tun?«, fragte Nickelburn ungeduldig.
»Dazu komme ich ja gleich! Gemach, gemach! Maehigor wurde von seinen Brüdern verbannt, doch das stoppte ihn nicht, im Gegenteil. Er forschte weiter und diesmal war niemand da, ihn zu überwachen. Bald verließen weitere Magier den Orden oder wurden ins Exil geschickt, sie alle suchten Maehigor auf und er nahm sie freudig in seine Arme. Er gründete eine neue Schule, einen neuen Orden, den Orden der Dunklen Magier. Keinerlei Begrenzung der Magie, keine Verbote von Forschungen, keine dogmatischen Regeln. Maehigor und seine Schüler hatten nun freie Hand.«
»Und was erforschte dieser Maehigor?«, fragte Keenast interessiert.
»Allerhand, besonders im Bereich der verbotenen Magie. Experimente mit Seelen, Blutmagie, Beschwörung von Dämonen, und … die Toten wiederzubeleben. Walt, er tat das selbe wie wir. Und die Legenden berichten, er hätte es sogar geschafft.«
»Wirklich? Inwiefern?«
»Mit Hilfe von Seelen. Und nicht nur das, manche behaupten sogar, er hätte das Rätsel der Unsterblichkeit gelöst! Angeblich konnte er ewig leben. Das ist nicht tot, was ewig liegt, bis das die Zeit den Tod besiegt.«
»Ist das dein Ziel, Nick?«, fragte Nickelburn ungläubig, »Unsterblichkeit? Den Tod zu besiegen? Tote wiederzubeleben?«
»Nicht unbedingt. Das könnte man sich für später aufheben. Nein, Maehigor hat noch etwas weitaus Interessanteres gemacht: er besuchte verbotene Orte. Man berichtet, er sei im Immastellarium gewesen und habe Zwiesprache mit den Göttern gehalten. Er soll sich zum Rand des Universums begeben haben und darüber hinaus. Er besuchte die Bibliothek des Chronisten und lernte dort das Geheimnis der Geheimnisse. Er war überall und nirgendwo. Zwischen den Welten und in den tiefsten Tiefen der Dunkelheit. Walt, das möchte ich erreichen. Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das soll mein Projekt sein.«
»Was ist eigentlich mit diesen Maehigor passiert?«, fragte Keenast erneut. Er schien wirklich daran interessiert zu sein.
»Das weiß man nicht so genau«, antwortete Chamber, »Die meisten sind sich einig, dass er im Bruderkrieg umgekommen sei. Andere behaupten, dass er im Zweiten Ordenskrieg gefallen ist, obwohl dieser doch hundert Jahre später war. Nur wenige glauben, dass er beide überlebt hat und noch heute unter uns weilt. Fakt ist, nach dem Zweiten Ordenskrieg zogen einige Magier aus, um alle Gegenstände zu zerstören, die möglicherweise ein Fragment von Maehigors Seele enthalten könnten. Sie wollten sichergehen, dass auch der letzte Rest des Dunklen Lords aus unserer Welt verschwindet.«
»Schwachsinn«, spuckte Nickelburn.
»Was?«
»Das ist alles Schwachsinn! Humbug! Aberglaube! Nichts weiter als Magierpropaganda! Du jagst irgendwelchen Märchen hinterher! Was ist denn aus der Wissenschaft geworden? Ich dachte, wir seien Männer der wissenschaftlichen Lehre und nicht Anhänger des Okkultismus!«
Nickelburn schäumte vor Wut, er hatte genug von diesen Blödsinn gehört.
»Walt, du hast doch selbst gesehen, was damals passiert ist. Auch unsere Wissenschaft kann nicht alle Fragen beantworten.«
»Verhöre ich mich da gerade? Sagst du das gerade wirklich?«
»Wenn du nicht glauben möchtest, kann ich es dir gerne zeigen. Komm morgen Abend nochmal vorbei, dann müsste das Projekt startklar sein. Dann, mein Freund … wirst du glauben.«
»Du bist verrückt, Nick. Mehr als nur verrückt«, entgegnete Nickelburn.
»Weißt du, was lustig ist? Früher dachte ich immer, du seist derjenige, der eine Schraube locker hat. Der unbedingt seine Experimente, koste es, was es wolle, durchführen wollte. Ohne Skrupel. Ohne Hemmungen. Was ist nur aus dir geworden, Walt? Du warst doch einst die treibende Kraft hinter unseren Experimenten«, Chamber schaute seinen Partner fragend an.
»Die Zeiten haben sich geändert. Wir … haben uns geändert«, antwortete er darauf.
»Wohl wahr. So ist wahrscheinlich der Lauf der Dinge. Nichts steht niemals still, alles ist im Wandel«, philosophierte Chamber.
Nickelburn hatte genug, er hatte genug gesehen. Er verließ die surreale Szene und ging nach Hause. Es war um vier, als er endlich eingeschlafen war. Doch selbst im Schlaf fand er keine Ruhe. Nickelburn befand sich wieder in der Psychiatrie, doch diesmal war sie verlassen und verfallen. Efeuranken schlängelten sich durch zerbrochene Fenster. Spinnennetze und Staub hatten jeden noch so freien Quadratzentimeter erobert. Dem Zustand nach zu urteilen, war dieses Gebäude mindestens schon mehrere Jahrzehnte lang leer stehend, wenn nicht sogar noch länger. Überall hatte der Zahn der Zeit genagt oder besser gesagt: gefressen. Nickelburn schaute aus einem der Fenster. Draußen sah die Lage auch nicht wirklich besser aus. All die Häuser, die Gebäude, die Straßen, leer, verlassen, verfallen. Als wäre die gesamte Bevölkerung vor Urzeiten einfach verschwunden. Und der Himmel … oh, der Himmel. So viele verschiedene Farben. Farben, die Nickelburn noch nie in seinen Leben zu Gesicht bekommen hatte. So viele. Sie waberten und pulsierten, wurden größer und kleiner. Leuchteten heller und wurden schwächer. Und in der Mitte dieses Farbenspiels stand die Sonne hoch oben, die blutrote Sonne. Der hasserfüllte Stern. Riesenhaft. Er brannte, er brannte alles nieder. Unerbittlich. Rot. Leuchtend rot. So rot wie das Blut in unseren Adern.
Nickelburn konnte nicht anders, er musste diesen Stern anstarren. Er war hypnotisiert, er musste ihn einfach betrachten, diesen Stern, diesen hasserfüllten Stern. Er spürte seine Anziehungskraft, er wollte zu ihm gehen, runter auf die Straße, sich in seinem Lichte baden. Er atmete heftig ein und aus, sein Herz schlug immer schneller. Er musste auf die Straße, runter zu den anderen. Tanzen, er wollte tanzen. Im Lichte des Sterns tanzen.
Ein schöner Anblick, nicht wahr?, flüsterte eine Stimme hinter ihm.
Nickelburn drehte sich erschrocken um, befreit aus seiner Trance. Was er sah, überraschte ihn. Hinter ihm stand Chamber, angelehnt an einer Wand. Doch sein Freund hatte schon bessere Tage gesehen. Er war dünn, ausgehungert quasi. Sein Körper steckte in dreckigen, zerrissenen Lumpen. Sein Kopf war von langen grauen, filzigen Haaren bedeckt. Kleine rot unterlaufene Augen starrten aus diesen verdreckten Haardschungel heraus.
Nick? Nick, bist … bist du das? Bist du das wirklich?, fragte Nickelburn besorgt.
Chamber nickte langsam und sagte mit einer rauen Flüsterstimme: In Fleisch und Blut, Walt.
Was ist hier passiert? Wohin sind alle verschwunden?
Chambers Blick ging in die Leere, wahrscheinlich versuchte er gerade sich zu erinnern.
Der Schleier wurde gelüftet. Die Barrieren … Die Barrieren verschwanden. Sie kamen. Sie kamen in Massen. Alle auf einmal. Walt. Es ist passiert. Die Barrieren verschwanden, verschwanden, verschwanden. Alles passierte so plötzlich. Alles. Walt, wir hätten es wissen müssen.
Ich … verstehe nicht … Was … bedeutet das alles?
Chamber fokussierte seinen Blick auf Nickelburn, seine Pupillen verengten sich zu kleinen Punkten. Nur noch das Blutrote war zu sehen. Der hasserfüllte Stern.
Das Ende, Walt. Das Ende. Das Ende, es kommt. Es kommt und es wird niemanden verschonen. Alles wird zusammenbrechen, Walt. Nichts wird mehr so sein, wie es je war. Der Stern, der hasserfüllte Stern. Das Ende. Das Ende von allem. Walt. Walt. Niemand kann es aufhalten.
Er zeigte mit seinem knochigen Finger auf Nickelburn.
Du! Du hast mich im Stich gelassen! Du! Du! Du bist schuld! Schuldig! Schuldig, sage ich! Das alles hier, ist deine Schuld! Schuld! Schuld! Schuldig, im Sinne der Anklage!
Nickelburn war verwirrt wegen des abrupten Themenwechsels. Er konnte keine vernünftigen Worte finden, weshalb er einfach nur vor sich hin stotterte. Der dürre Chamber stampfte mit schweren Schritt auf seinen Freund zu, dabei sagte er immer wieder das Wort Schuld. Nickelburn fiel zu Boden, er versuchte wegzukriechen, doch eine Wand versperrte ihm plötzlich den Weg. Chamber stand nun vor ihm, er beugte sich zu seinem Partner herunter.
Der König wird über dein Schicksal richten. Und sein Urteil wird nicht gnädig sein, spuckte er heraus.
Mit einem Mal drehte sich sein Gesicht zur Seite, zum Vorschein kam ein zweites, das von Keenast. Sein linker Arm verfaulte und fiel ab.
Das Ende wird auch für Sie kommen, Dr. Jester. Es kommt für uns alle. Niemand wird verschont. Die Barrieren … zwischen den Welten … werden zerbrechen. Und sie alle werden hierher kommen. Dr. Jester, ich hoffe, dass Sie glücklich sind. Sie haben es geschafft, sprach das Keenast-Gesicht in seiner typischen emotionslosen Stimme.
Beide Gesichter begannen gleichzeitig zu sprechen: Das Ende. Das Ende. Das Ende, immer und immer wieder.
Lasst das! Hört auf! Lasst mich endlich in Ruhe!, schrie Nickelburn. Er schlug sich die Hände vor die Augen, hoffte, dass es bald vorbei war. Doch daraus wurde nichts. Das Ding packte ihn an den Armen und zog sie von seinen Augen weg. Nickelburn schaute in die Fratze des Schreckens. Es war nicht mehr das Keenast-Chamber-Ding, es war die Kreatur von damals. Tausend Augen und ein Maul mit unzähligen knochenartigen Zähnen starrten in seine Seele. Nickelburn erstarrte vor Angst.
Jeder bekommt das, was er verdient, Walt, sprach sie mit dämonischer Stimme. Das Monster öffnete seinen Mund und biss zu.
Nickelburn erwachte mit einem Schrei, Schweiß bedeckte seinen Körper. Er schaute auf die Uhr: zwölf Uhr mittags. Er entschied sich, heute nicht arbeiten zu gehen. Nickelburn lag in seinen nassen Bett und überlegte, was er da gerade eigentlich geträumt hatte. Irgendeinen nicht zusammenhängenden Mist. Die Bilder verblassten auch langsam.
Er stieg aus dem Bett und rieb sich die letzten Krümel Schlaf aus den Augen. Er wusste jetzt schon, dass dieser Tag nicht besser wurde. Nickelburn begab sich ins Bad und duschte sich. Langsam ging es mit seiner Laune bergauf. Dampfend stieg er aus der Dusche. Er fragte sich, was Chamber gerade trieb. Ob er an seinem seltsamen Projekt weiterarbeitete? Tief unten im Keller der Psychiatrie? Ob er wusste, dass seine Aktivitäten höchst illegal sind? Wahrscheinlich schon, aber es schien ihn nicht zu interessieren. Wenn die Polizei das herausfindet, sind alle dran. Er, Chamber und Keenast, alle wandern direkt ins Gefängnis oder, was noch schlimmer wäre, vor einem Kriegsverbrechertribunal. Und dann werden sie hingerichtet. Großartiger Gedanke.
Chamber sagte, dass sein Projekt heute Abend fertiggestellt sein würde. Und er hat Nickelburn eingeladen dabei zu sein, damit er ihm endlich glaubt. Er war noch nie ein Mann des Glaubens. Er hielt nicht viel von Religion, für ihn war es nur eine weitere Form von ketzerischer Magie. Das haben ihm seine Eltern und seine Großeltern beigebracht. Magie war gefährlich, Magie war tödlich, Magie war unnatürlich, zumindest für ihn. Und was unterscheidet schon die Religion von der Magie? Glaubten die Magier aus längst vergangener Zeit nicht daran, dass die Magie eine Art spirituelle Gottheit war? Etwas, das alle lebenden Wesen miteinander verband und durch alle hindurchfloss? Eine kosmische Energie? Und war die Seele nicht ein Splitter davon? So oder so ähnlich, dachten sie wohl. Für Nickelburn gab es weder kosmische Energie noch Gottheiten, sondern nur Ketzerei. So hatte er es gelernt und es war schwer eine solche Ideologie aus den Kopf zu kriegen, wenn sie erst einmal verinnerlicht wurde.
Man könnte jetzt entgegen halten, dass Nickelburn doch an eine Religion glaubte, nämlich an die des Anti-Magier-Ordens. Doch für ihn war es keine richtige Religion, sondern eher eine Art von Lehre oder Lebensphilosophie. Es gab in diesem Glauben keine Götter oder Energien oder höhere Wesen, es gab nur die Lehre, dass Magie gefährlich war. Magie war Ketzerei. Das war für ihn die Grundthese des Ordens. Und an der hielt er sich. Das konnte kein Traum, kein Fleischmonster und schon gar kein Buch ändern!
Nichtsdestotrotz wird er sich das Resultat von Chambers Projekt ansehen. Er war viel zu neugierig, um sich das entgehen zu lassen. Doch bis zum Abend war es noch eine Weile hin, er entschied sich vorerst für einen kleinen Spaziergang an der frischen Luft. Ihr Haus befand sich in einem der vielen kleinen Vororte von Lorgon-City, fernab von der grauen, überfüllten Stadt. Er war einer dieser Vororte, die vom Krieg relativ verschont wurden. Hier fanden keine Bauarbeiten oder Räumungen statt. Man musste auch keine Angst davor haben, beim Graben auf Munition oder nicht detonierte Bomben zu stoßen und in die Luft zu fliegen. Hier war es ruhig, hier gab es kaum Kriminalität. Nickelburn mochte diese Gegend. Sie kauften das leerstehende Haus vor einigen Jahren, die Besitzer hatten es Hals über Kopf verlassen. Es war ein echtes Schnäppchen.
Der Wind wehte leicht. Nickelburn dachte an die Zeit zurück, als er noch für das DMT-Imperium arbeitete. Bereute er es? Ein wenig. All diese armen Kreaturen, die man in Lager einsperrte und zu Tode schuften ließ oder an ihnen Experimente durchführte. So viele, so hohe Leichenberge. Die Krematorien waren im ständigen Betrieb. Er konnte noch immer den Geruch der Asche spüren. Dieser ekelhafte Geruch nach verbranntem Fleisch. Doch hatte er je eine andere Wahl gehabt? Er hatte es damals nicht gesehen. Er hatte nicht die Lügen erkannt, er sah nicht durch den Nebel der Propaganda. Ihm waren seine Karriere und seine Forschung wichtiger als das Leben anderer. Dabei hätte er so leicht selber hinter Stacheldraht landen können. Hätten sie je herausgefunden, wer er wirklich war, sie hätten keine Sekunde gezögert. Sie hätten ihn geschnappt, gefoltert, eingesperrt und irgendwann hingerichtet. Oder er wäre zu Tode geprügelt worden, wie der arme Dragonier. Er hätte sich rechtzeitig den Rebellen anschließen können, vielleicht … Hätte, hätte, hätte. Konjunktiv II. Es spielte keine Rolle, er hatte sich entschieden. Es war sinnlos, über alternative Möglichkeiten nachzudenken. Er wollte Tote wiederbeleben. Er war ein Fanatiker. Er war der Archetyp eines Verrückten Wissenschaftlers. Fast schon zu klischeehaft.
Der Spaziergang dauerte länger als gedacht, am späten Abend stand er wieder vor dem Chamber Asylum. Die Straßenlaternen erhellten die düstere, leere Straße. Diese Psychiatrie sollte eigentlich den Beginn seines neuen Lebens darstellen. Doch stattdessen holte ihn die Vergangenheit wieder ein. Sie war wie eine halbverhungerte Zecke, die sich mit aller Kraft an seinem Bein festgesaugt hatte. Und sie hatte nicht vor loszulassen. Immer wenn er glaubte, er sei sie losgeworden, war sie am nächsten Tag wieder da.
Er betrat das dunkle Gebäude. Stille. Normalerweise sollte man doch Schwestern, Patienten und Pfleger hören. Doch … da war nichts. Kein Ton. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Irgendetwas stimmte nicht. Nickelburn rannte in den Keller. Die surreale Szene von gestern wirkte noch surrealer.
Das Projekt … schien endlich vollbracht. Man hatte eine Art von Konstrukt gebaut. Ein runder Kreis aus Metall, sieben Zacken ragten an seinen Rändern heraus, auf der Vorderseite waren sieben Glaskugeln zu sehen. An jeder der zwei Seiten waren Stützen oder Verankerungen angebracht. Nickelburn fragte sich, wie das Teil angetrieben wurde oder ob es überhaupt Energie benötigte und wenn ja, welche Art von Energie? Einige Meter vor dem Konstrukt stand … ein Kontrollpult? Ein langer Metallstab ragte aus der Erde heraus, auf ihm war eine Halbkugel befestigt. Wurde damit die Apparatur gesteuert? Wer weiß. Nickelburn wusste nicht einmal, aus welchen Material die Konstruktion bestand, beziehungsweise wo Chamber die Materialien hergeholt hatte. Hatte er Gelder abgezweigt? Hatte er es gestohlen? Bekam er es geschenkt? Und wenn ja, von wem? Das Teil warf mehr Fragen auf als Antworten.
Um die Surrealität noch zu steigern, standen um die Maschine herum ungefähr zwanzig Patienten. Alle in demütiger Haltung mit gesenkten Köpfen, die Blicke waren auf den Boden gerichtet, keiner sprach auch nur ein Wort. Sie schienen auch nicht wirklich bei der Sache zu sein, sie waren wie weggetreten. In Trance. Mehrere Scheinwerfer erhellten den Raum und warfen lange Schatten an die Wand.
Vorne standen dann schlussendlich Chamber und Keenast. Der Erste trug einen weißen Ärztekittel mit seinem Namen vorne dran, der Zweite einen einfachen, billigen Mantel in der Farbe braun. Wahrscheinlich ein Geschenk von Chamber. In seiner rechten Hand, die einzige die er noch hatte, hielt er das Immatericon.
»Beeindruckend, nicht wahr?«, brach Chamber die unheilvolle Stille.
»Ich weiß noch nicht«, antwortete Nickelburn.
»Es wird noch viel beeindruckender! Das versichere ich dir!«
Chamber ging zu Keenast hin, flüsterte ihn etwas ins Ohr und zeigte ihm eine Seite im Immatericon.
»Lasst uns mit der Vorstellung beginnen!«, posaunte er hinaus.
Nickelburns schlechtes Gefühl wurde mit jeder verstrichenen Sekunde schlimmer. Übelkeit kroch langsam seinen Hals hoch. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er machte sich auf alles gefasst.
Keenast ging zum Kontrollpult und schaltete die Maschine an. Die sieben Glaskugeln begannen in sieben verschiedenen Farben zu leuchten. Im Inneren des Kreises sprühten Funken, blaue Blitze erschienen. Die Maschine war einsatzbereit.
»Perfektion«, murmelte Chamber.
Nickelburn beobachtete ihn, ein breites Grinsen und irres Funkeln in den Augen. Ja, der Mann hatte endgültig den Verstand verloren. Keenast drehte sich noch einmal um, schaute Chamber an. Dieser nickte und sagte: »Vorwärts.«
»Bist du dir sicher, Nick?«, fragte Nickelburn besorgt.
»Natürlich! Vorwärts! Vorwärts! Vorwärts!«, schrie er.
Keenast drehte sich wieder um und begann mit seiner Prozedur fortzufahren. Er öffnete etwas umständlich das Buch, legte es auf das Kontrollpult und begann, daraus vorzulesen. Seine rechte Hand ruhte auf dem Buch, mit dem linken Stumpen zeigte er auf die Maschine. Nickelburn konnte nicht verstehen, was Keenast da eigentlich vor sich hin murmelte, doch es machte ihm Angst. Kein gutes Gefühl, ganz und gar nicht.
Etwas schien zu passieren. Keenast keuchte schwer, seine Augen begannen blau zu leuchten. Er schüttelte sich. Die Glaskugeln an der Maschine begannen schneller zu blinken, immer schneller. Das Gemurmel wurde schneller, das Gekeuche schwerer. Nickelburn bekam es mit der Angst zu tun. Funken und Blitzen zuckten im Inneren der Konstruktion. Der Boden begann zu vibrieren, erst leicht, dann stärker. Die Patienten reagierten auf das Geschehen gar nicht, sie starrten einfach nur weiter den Boden an. Die Vibrationen wurden immens. Die Blitze immer stärker und heftiger. Nickelburn begann, die Realität doppelt, dreifach, vierfach, fünffach, siebenfach, zehnfach zu sehen. Die Realität begann zu zersplittern. So viele verschiedene Abbilder, so viele verschiedene Welten. Nickelburn fiel hin, seine Beine fühlten sich schwach an. Die Vibrationen sorgten für Schmerzen in seinem Kopf. Für ihn fühlte es sich an, als würde sein Gehirn jeden Moment explodieren.
»Macht das es aufhört!«, schrie er verzweifelt.
Eine Welle von Energie kam von der Maschine. Eine zweite und eine dritte folgten. Chamber, Nickelburn und die Patienten wurden gegen die Wände geschleudert. Nur Keenast blieb eisern stehen, murmelte weiter seine irrsinnigen Worte. Es sammelte sich Energie im Zentrum des Kreis, es entlud sich nochmal in eine noch heftigere Welle von Energie. Fenster klirrten, Nickelburn wurde noch weiter in die Wand gedrückt, sie schien … formbar wie Ton zu sein. Die sieben Glaskugeln leuchteten immer heller, heller als der hellste Stern des Kosmos. Nickelburn musste die Augen schließen, sonst wäre er wahrscheinlich erblindet. Noch ein lauter Knall und die Show war endlich vorbei.
Nickelburn fiel erleichtert zu Boden, er drehte sich um, um die Wand zu begutachten. Ein Abdruck seines Körpers war zu sehen. Alle Patienten lagen, wahrscheinlich bewusstlos, am Boden, Chamber rappelte sich gerade wieder auf. Er stürzte zu der unheilvollen Maschine hin.
»Es … Es hat funktioniert! Funktioniert! Ja! Ja! Es hat geklappt! Fantastisch, absolut fantastisch! Großartig!«
Nickelburn schaute sich das Endergebnis an. Zu sagen, er wäre nicht überrascht, wäre eine Lüge. Es hatte tatsächlich funktioniert. Im Inneren des Kreises hatte sich eine vollkommen schwarze Fläche gebildet. Nun machte es auch endlich Klick in Nickelburns rostigen Gehirn. Es war ein Portal! Natürlich! Warum war er nicht gleich darauf gekommen?
»Wie ist das nur möglich?«, flüsterte er.
»Ich habe es dir doch gesagt, Walt! Ich habe es dir gesagt! Es funktioniert. Jetzt wirst du glauben! Glauben, sage ich!«, Chamber sprang voller Freude durch die Gegend. Keenast hingegen ging es nicht so gut, er war auf die Knie gesunken, die Augen waren geschlossen, die Atemzüge flach. Chamber positionierte sich vor dem Portal.
»Ich habe es vollbracht! Ich! Ich hab den Ruf vernommen! Ich habe ihn geantwortet! Jetzt wird er mir antworten!«
Nickelburn sah, dass sich die schwarze Oberfläche wie Wasser bewegte. Etwas kam aus dem Portal. Er schrie: »Nick! Geh weg da! Verschwinde, sofort!«
Doch Chamber reagierte zu spät, er drehte sich um, das Ding war schon durchgekommen. Ein riesiger schwarzer Arm, der in einer fünffingrigen Klaue endete, griff nach Chamber. Auf seinem Gesicht breitete sich Entsetzen aus.
»So war das aber nicht abgemacht …«, flüsterte er noch, bevor das Ding ihn packte. Er begann zu schreien, Nickelburn schrie ebenfalls. Er sprintete los, er wollte seinen Freund retten.
»Nick! Nick! Nein! Bitte nicht!«
Chamber streckte seinen Arm aus, er wollte Nickelburns Hand greifen. Doch keiner der beiden schaffte es. Nickelburn schrie weiter. Das Ding zog Chamber in den Abgrund, in den endlosen, schwarzen Abgrund.
»Nick!«, doch die Mühe war vergebens. Der Arm und Chamber verschwanden hinter der pechschwarzen Oberfläche. Das Portal schloss sich wieder. Die sieben Glaskugeln erloschen. Der Raum wurde dunkel. Zurück blieb ein verängstigter Nickelburn, dem Tränen das Gesicht hinunterflossen. Er sank auf die Knie und hämmerte mit seinen Händen gegen die Maschine. Doch sie reagierte nicht. Sie interessierte sich nicht für Nickelburns Wutausbruch und seine Tränen. Die Maschine war tot.
»Nick! Nick! Nick!«, schrie er immer und immer wieder.
Doch niemand antwortete.
1084
Die Straßen waren wie leer gefegt, keine einzige Seele war zu sehen. Wobei, das entsprach nicht ganz der Wahrheit, eine einzelne Gestalt war zu sehen. Ein einsamer Wanderer in zerlumpten Kleidern, von der unerbittlichen Sonne gebleicht und von brutalen Winden zerfetzt. Das Gesicht war verhüllt mit einer schwarzen Schutzbrille und dreckigen Tüchern. Die Häuser waren nur noch Ruinen, tote Titanen aus einer längst vergangenen Zeit. Ihre Skelette waren das Einzige, was noch übriggeblieben war. Ihre Fenster waren nur noch leere Löcher, das Glas schon lange zerbrochen. Wie lange war das schon her? Schwer zu sagen, Zeit war nur noch schwer zu deuten. Tage konnten Jahre, Monate konnten Sekunden sein.
Der Fremde schaute zum Himmel, diese schrecklichen Farben. Das Firmament war nicht mehr dasselbe, seitdem dort zwei Sonnen leuchteten. Der alte Stern und der hasserfüllte, o dieser hasserfüllte Stern. Er strahlte gnadenlos auf die Sterblichen herab. Er verbrannte die Felder, die Meere, die Tiere und all die ach so weisen Geschöpfe.
Und wenn die Sterne hinterm Horizont verschwanden, brach die dunkle, kalte Nacht hervor. Und mit ihr kamen unaussprechliche Dinge. Kreaturen, voller Hass auf die Sterblichen, krochen aus ihren Verstecken. Es waren abscheuliche Wesen wie aus den düstersten Alpträumen. Ihre Körper folgten keiner Logik, als hätte ein Irrer sie zusammengenäht. Weiße Körper, überzogen mit schwarzen Adern, gierig leuchtende Augen, wenn welche vorhanden waren. Wenn man solche Wesen auf der Straße sah, sollte man lieber schleunigst verschwinden und sich verstecken. Es war nie eine gute Idee, nachts umherzuwandern. Doch der Fremde hatte Glück, die Nacht war noch weit entfernt. Hoffte er zumindest.
Er fragte sich, wie lange er eigentlich schon durch die Gegend wanderte. Fünf Jahre? Drei Monate? Sieben Stunden? Hatte er seine Reise gerade erst begonnen? Oder war sie schon wieder vorbei? Hatte er sie überhaupt je angetreten? Und warum wanderte er eigentlich? Er wusste es nicht, er wusste es einfach nicht mehr. Es gab wahrscheinlich keinen Grund. Wie lautete sein Name? Er hatte sicherlich keinen. Wer war er? Ein Niemand.
Nichts hate mehr Sinn. Logik, Kausalität, Korrelation, Fakten, Wahrheit, Realität existierten einfach nicht mehr. Man sollte sich von solchen Begriffen verabschieden. Sie haben ihre Bedeutung verloren, es sind einfach nur leere Worthülsen, abgestorbene Reste einer vergessenen Sprache.
Der Fremde blieb stehen. Die Ruinen waren nicht mehr da, die Straßen waren nur noch Staub. Er schaute nach vorn, da stand er. Der große obsidiane Turm. Seine Spitze durchbohrte das Himmelszelt. Er durchschritt das große eiserne Tor und machte sich auf den Weg nach oben. Der Aufstieg dauerte Jahre, Zeit und Raum funktionierten einfach nicht mehr. Was eigentlich Sekunden dauern sollte, dauerte Monate. Was fünf Meter von einem entfernt war, war eigentlich tausende Kilometer weit weg. Doch trotzdem erreichte er sein Ziel und betrat den Thronsaal.
Auf dem Obsidianthron saß die Person, die der Fremde so verzweifelt suchte. Ein alter Bekannter, doch war er nicht mehr derselbe von früher. Seine Haut war trocken wie Pergament, die Haare grau und lang bis zu den Schultern. Die Fingernägel waren spitze Krallen, jeder einzelne Knochen stach hervor. Die Augen waren nur noch leere, schwarze Höhlen, aus denen eine ekelhafte, dickflüssige schwarze Substanz langsam herausfloss. Schwarze Tränen. Er öffnete seinen zahnlosen Mund und die Wörter krochen schwach und vertrocknet heraus.
Ich habe so lange auf dich gewartet.
Der Fremde nahm die Schutzbrille und die Tücher ab. Zum Vorschein kamen blonde Haare, blaue Augen und ein markantes Gesicht. Seine Stimme war jung und kräftig.
Und ich habe so lange nach dir gesucht, doch hier bin ich endlich. Jetzt wird alles wieder gut. Jetzt kann ich alles wieder rückgängig machen.
Narr, krächzte der Alte, gar nichts wirst du machen. Du hast einen Pfad eingeschlagen, von dem es keine Rückkehr mehr gibt. Dieser Pfad kennt nur einen Weg, vorwärts! Immer vorwärts, niemals zurück! Das Ende ist gekommen und wird bleiben, bis auch der letzte Stern erloschen ist.
Im Gesicht des Fremden spiegelte sich Verwirrung.
Aber ich habe dich gefunden. Ich habe die gesamte Welt durchquert und die Spitze des Turms erklommen. Ist das nicht genug?
Der Alte schüttelte den Kopf und sagte: Nein. Du hast mich nicht gefunden. Gar nichts hast du. Deine Reise hat noch gar nicht angefangen. Du stehst … am Anfang!
Er hustete, schwarzer Schleim kam aus seinem Mund.
Was soll ich tun? Was soll ich nur tun?, rief der Fremde laut.
Du … musst es beginnen. Du musst IHM Treue schwören. ER wird dich leiten. ER ist die Lösung. Begib dich auf den Pfad, der nur einen Weg kennt. Erst dann wirst du mich finden.
Der Fremde sank auf die Knie: Ich … Ich kann es nicht. Ich bin nicht stark genug. Ich … Ich will dich doch nur wiederhaben! Ich will dich wieder in die Arme nehmen. Wieder in deiner Nähe sein! Doch … ich weiß nicht, wo ich anfangen soll! Wo bist du nur? Du bist verschwunden! Außerhalb meiner Reichweite! Wie soll ich dich finden, wie soll ich den Pfad finden?
Der Alte erhob sich mit großer Mühe vom Thron. Mit langsamen, schlurfenden Schritten begab er sich zum Fremden. Er legte ihm seine knöcherne Hand auf die Schulter.
Folge dem Ruf. Er wird dich leiten. Du musst nur … der Melodie des Rufes zuhören. Dann wirst du mich finden. Aber um dies zu vollbringen, darfst du nicht schwächeln. Keine einzige Sekunde lang. Folge den Ruf, begib dich auf den vorgeschriebenen Pfad und du wirst mich finden. Dann … werden wir wieder zusammen sein.
Alles begann sich langsam aufzulösen. Der Fremde starrte in die schwarzen Augenhöhlen. Schwarz wurde zu grau. Grau wurde zu weiß.
Nein, bitte noch nicht, flehte er, gib mir noch etwas Zeit.
Nein.
Nein!
NEIN!
Nickelburn wachte mit einem Schrecken auf. Er befand sich in seinem Bett, in seinem Haus, in Lorgon-City. Alles war normal. Keine Ruinen, keine Monster … kein Chamber. Er schwitzte, sein Bettlaken fühlte sich feucht an. Er schaute auf seinen Wecker: drei Uhr morgens. Die Lust nach Schlaf war ihn gehörig vergangen, also stand er auf und öffnete ein Fenster. Draußen war noch alles dunkel. Die Mondsichel war hinter Wolken versteckt. Die Straßenlaternen versuchten, die finsteren Straßen zu erhellen, sie waren wie kleine Lichtinseln. Graue Motten umschwirrten die Lampen, prallten gegen das Glas.
Nickelburn dachte über das Geträumte nach. Es war nicht das erste Mal, dass er solch eine Art von Traum hatte. Mittlerweile kamen sie fast regelmäßig alle drei Tage. Und immer war es dasselbe Szenario. Die Welt in Ruinen, der rote Zwillingsstern, so hasserfüllt am Himmel. Der Himmel mit den seltsamen Farben. Manchmal erreichte er den Turm und manchmal nicht. Manchmal war dort der alte Mann, manchmal war dort etwas … Anderes. Was hatte das nur zu bedeuten? Und warum bekam Nickelburn diese seltsamen Träume. Langsam konnte es ja kein Zufall mehr sein, man konnte fast ein Muster darin erkennen. Nickelburn setzte sich wieder auf seine Bettkante. Die Welt hatte sich in den letzten drei Jahren drastisch verändert. Aber es war so etwas wie Ordnung wieder ins Leben der Bevölkerung eingekehrt.
1082 n.d.T. wurde endlich die Weltregierung gegründet und mit ihr eine nie dagewesene allumfassende Verfassung, die Terranischen Rechte. Gleiche Rechte für alle. Gleichheit und Freiheit für alle Rassen. Frieden zwischen den Völkern. Frieden zwischen den Staaten. Demokratie für alle. Respekt der Lebenswürde. Nickelburn glaubte nicht daran, dafür war er viel zu viel ein Kind der autokratisch-autoritären Erziehung des Imperiums. Kann man es ihm verübeln? Er kannte ja schließlich nichts anderes. Er hielt nicht viel vom Prinzip der Demokratie, für ihn war es die Herrschaft des Pöbels, die Diktatur der Massen. Warum sollte die Mehrheit es besser wissen? Nur weil hunderttausend Idioten einer Meinung waren, heißt das ja nicht, dass sie Recht haben. Aus den Geschichtsbüchern wusste er, wie es um die Demokratie in Lorgon stand, wie toll sie doch war. Schon lange ausgehöhlt von machtgierigen Eliten und korrupten Politikern. Untergraben, unterwandert von diesen Schmarotzern. Keine Ordnung, keine Vernunft, keine Effizienz. Bis Floreo Darks kam und sie alle verscheuchte. Er riss sie aus ihren prunkvollen Schlafzimmern auf die kalte Straße, den Gewehrlauf am Kopf. Er verscheuchte die Aasgeier und machte Platz für eine neue Gesellschaft. Handelte er aus altruistischen Gründen? Wahrscheinlich nicht, dachte Nickelburn.
Aber wen kümmerte es? Die Ordnung wurde hergestellt und das alte, verrostete Getriebe wurde durch ein brandneues ersetzt. Floreo Darks befreite die Welt aus der Stagnation, fegte den Status Quo hinweg und katapultierte die Gesellschaft in ein neues goldenes Zeitalter. Ein Zeitalter des Fortschritts und des Wohlstandes.
Gab es Leid? Ja.
Gab es Tote? Natürlich.
Das waren Opfer, die man für die Industrialisierung zahlen musste. Eine industrielle Revolution würde niemals ohne Blutzoll funktionieren. Nicht alle schaffen es, manche werden unter den kolossalen Rädern der Maschinerie zerquetscht. Doch Fortschritt ist immer besser als Stillstand. Stillstand bedeutet Tod, Fortschritt bringt zwar Leid mit sich, eröffnet aber auch völlig neue Möglichkeiten. Wo wären wir ohne die Errungenschaften des Imperiums, fragte sich Nickelburn. Wahrscheinlich würde der Großteil der Bevölkerung immer noch in kleinen Bauernhütten leben und Inzest betreiben. Diese Welt wäre nichts für Nickelburn.
Natürlich gab es auch viel Schlechtes im DMT-Imperium. Im Nachhinein betrachtet, waren die Repressalien gegen die Nichtmenschen und die Andersartigen dann doch grausam und übertrieben. Er erinnerte sich an die riesigen Leichenberge und erschauderte. Trotzdem bedeutete das Imperium Fortschritt, und, hatte es nicht auch großartige Erfolge hervorgebracht? Kommunikation über weite Strecken, elektrischer Strom in allen Häusern, neuartige Fortbewegungsmittel, die Vereinigung der gesamten Welt, Überwindung des zwischenmenschlichen Rassismus und so vieles mehr. War das nichts wert?
Heutzutage stehen die großen Männer des Imperiums vor Gericht. Der größte Prozess in der Geschichte Terras mit tausenden Angeklagten, das wird sich wahrscheinlich noch einige Monate, wenn nicht sogar Jahre hinziehen. Erst gestern las Nickelburn in der Zeitung, dass sie den ehemaligen Staatsarchitekten Franz von Stauffburg, ein wahrlich brillantes Genie, in den Gerichtssaal gezerrt haben. Kann man sich das vorstellen? Ein armer, unschuldiger Mann im greisen Alter von zweiundneunzig Jahren wird angeklagt. Und so etwas schimpft sich Gerechtigkeit! Nickelburn konnte darüber nur lachen. Diejenigen, die jetzt Anklage erhoben und verurteilten, sind doch die selben, die noch vor wenigen Jahren Todesurteile gegen feindliche Rebellen vollstreckten. Und die sollen jetzt über ihre ehemaligen Kollegen und Verbündete richten? Welch ein Witz.
Es wird noch der Tag kommen, an dem man sich das Imperium und seine ewige Ordnung zurück wünscht, dachte Nickelburn sich. Man wird aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und diesmal die Grundlagen nicht auf rassistischen Repressionen aufbauen. Natürlich würde dieses neue Imperium nicht vom großartigen Floreo Darks angeführt werden, doch es wird sich sicher Ersatz finden lassen. Jemand der noch großartiger und weiser ist, jemand der Terra wieder in ein fortschrittliches, goldenes Zeitalter führen wird! Man kann ja noch träumen.
Nickelburn hatte vorerst genug von Wunschträumen, er schaute auf die Uhr: vier Uhr morgens. In drei Stunden sollte er sich wieder in der Psychiatrie befinden. Es war erst nicht leicht, sich eine Ausrede für das Verschwinden von Chamber auszudenken. Oder die komische Konstruktion im Keller. Für das erste Problem entschied sich Nickelburn nach langen Überlegungen für die offensichtlichste Lösung: er sagte allen, dass Chamber einfach verschwunden sei. Er ging zur Polizei und ließ eine Vermisstenanzeige aufgeben, wohl wissend, dass sie seinen Freund niemals finden werden. Egal wie sehr sie suchen. In der Anstalt übergab Nickelburn Chambers Posten einem Mann namens Richard Wolf. Ein studierter Psychologe, fünfzig Jahre alt. Hatte sich früher im Marinekrankenhaus von Rottstock um das Seelenheil der Matrosen und Admiräle gekümmert, bevor die Stadt zerbombt wurde. Danach floh er mit seinen zwei Söhnen, die Frau war im Bombenhagel getötet worden, nach Lorgon-City. Dort fand er dann eine neue Stelle im Chamber Asylum und dank seiner unbefleckten Vergangenheit war das auch kein Problem. Er war loyal, zielstrebig, handelte effizient und, was vielleicht am wichtigsten war, er stellte seinem Vorgesetzten nicht allzu viele persönliche Fragen. So war es für Nickelburn eine leichte Entscheidung, ihn gleich nach dem Verschwinden von Chamber zum Stellvertretenden Direktor und Chefarzt zu machen.
Das zweite Problem, nämlich das Portal im Keller, war schon ein Problem größeren Kalibers. Zuerst fiel Nickelburn eine sehr pragmatische und eigentlich sehr simple Lösung ein: einfach die Tür zum Raum abschließen. Doch irgendwann begannen Schwestern und Ärzte Fragen zu stellen, unglaublich viele Fragen. Er erzählte ihnen, dass er dort Ratten gesehen hat, riesige. So groß wie Katzen. Er behauptete, er würde einen Kammerjäger holen, der sich um diese Invasion kümmern wird. Die Schwestern mieden den Raum seitdem wie den Schwarzen Tod. Irgendwann vergaßen alle den Raum und der Alltag ging wieder seinen geordneten Gang. Nickelburn stellte sogar noch ein Regal vor die Tür, um das Zimmer vollkommen zu verstecken.
Die Patienten, die in der Nacht dabei waren, wurden nacheinander wieder auf ihre Zimmer gebracht. Da sie sich während ihrer Arbeitszeit in einer Trance befanden, war es für Nickelburn eine Leichtigkeit ihnen einzureden, dass das Erlebte nur ein schlimmer Alptraum war. Und selbst wenn sie es ihm nicht abkauften, wer glaubt schon dem Geschwafel eines Irren? Die Ärzte würden das Gerede als Phantasterei und Wahnvorstellung abtun, dann gäbe es ein paar Beruhigungsspritzen und schon wäre wieder Ruhe.
Nickelburn schaute zum dritten Mal auf die Uhr, wieder war eine Stunde vergangen. Die Zeit verstreicht wie im Flug, wenn man in Erinnerungen schwelgt. Er entschied, sich doch schon für die Arbeit fertig zumachen. Er ging in sein Bad, weiße Marmorfliesen, so mochte er es, und begab sich unter die Dusche. Nach ungefähr einer halben Stunde kam er dampfend heraus, das blonde Haar hing ihm nass ins Gesicht. Er trocknete seinen Körper ab und zog sich frische Klamotten an. Ein schwarzes Hemd, eine rote Krawatte, blaue Jeans und seinen weißen Kittel. Bevor er das Haus verließ, ging er an Chambers Zimmer vorbei, er war seit dem Verschwinden seines besten Freundes nicht mehr drinnen gewesen. Sollte er es heute wagen? Vielleicht nach der Arbeit.
Er machte sich auf den Weg zum Asylum, die Sonne war bereits aufgegangen. Nickelburn spürte die warmen Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Ein leichter Wind wehte durch seine Haare. Wie immer ging er zu Fuß zur Arbeit, er genoss einfach diese zwanzig Minuten Ruhe und Einsamkeit. Die öffentlichen Verkehrsmittel waren nichts für ihn. Zu voll, zu laut, zu übelriechend. Außerdem kamen sie nahezu jedes Mal zu spät. Das konnte einen zur Weißglut treiben. Damit wollte Nickelburn sich nicht herumschlagen. Auch das Autofahren war nichts für ihn, alleine schon deshalb, weil er nie es gelernt hatte. Er war immer begeistert von der Technik und der Ingenieurskunst, die diese stählernen Ungeheuer zum Leben erweckte, doch keine zehn Pferde konnten ihn in diese herum sausenden Särge-auf-Rädern zwingen.
Nickelburn durchschritt die Schwingtüren der Psychiatrie, sofort stieg ihm der beißende Geruch von Desinfektionsmittel und Depression in die Nase. Egal was er tat, er gewöhnte sich nie an diesen Duft, obwohl er doch schon seit Jahren im Labor arbeitete. Er begab sich zu seinem heutigen Patienten, um den er sich kümmern wollte. Auf dem Weg dorthin grüßte er pflichtbewusst die entgegenkommenden Pfleger und Krankenschwestern. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie ihren Vorgesetzten verabscheuten, vielleicht sogar Angst vor ihm haben. Wenn er sie anblickte, schauten sie weg, duckten sich, gingen ihm aus dem Weg. So wenig Blickkontakt wie möglich, bloß nicht ansprechen. Er hörte sie hinter seinem Rücken tuscheln und lästern, als ob er es nicht mitkriegen würde.
Aber er konnte ihnen ihren Hass und ihre Angst nicht verübeln, er tat nichts um sie zu zerstreuen. Er erzählte nichts von sich, er sprach kaum mit jemandem, er traf sich mit niemanden. Er arbeitete und ging nach Hause, arbeitete und ging nach Hause. Arbeit und Zuhause. Er sprach keine Bitten aus, sondern bellte Befehle. Er duldete keine Fehler, verlangte absolute Gehorsamkeit und zeigte keine Gnade bei Fehlern. Ja, er konnte ein Tyrann bei der Arbeit sein. Ihn umgab eine Aura des Schreckens und der Härte. Er konnte seiner imperialen Vergangenheit nicht entkommen, er war ein Produkt dieser Zeit und würde es wahrscheinlich auch bis zum Ende seines Lebens bleiben.
Er stand vor der Tür des Patientenzimmers, ein schöner euphemistischer Ausdruck für Zelle. Seit drei Jahren betrat er fast jeden Tag dieses Zimmer. Und es wurde nicht leichter. Jedes Mal wenn er die Tür aufschloss und die Klinke herunter drückte, machte sein Herz einen Abstecher in die Magengegend. Er fühlte sich einfach unwohl, vielleicht weil er ein Stück mitverantwortlich war für das Schicksal dieser armen Kreatur. Nickelburn betrat das schlichte, weiße Zimmer. Das Mobiliar bestand aus einem einfachen Bett mit Decke und Kissen. Mehr gab es nicht, mehr brauchten die Patienten auch nicht.
Die Lampen wurden zentral gesteuert. Pünktlich um sieben Uhr morgens gingen die Lichter an und ähnlich pünktlich erloschen sie um zwanzig Uhr. So musste niemand durch die Zimmer gehen und das Licht ausschalten, das sparte Zeit und Personal.
In der Ecke saß die zusammengekauerte tragische Figur, die Nickelburn seit über drei Jahren schon versucht zu therapieren. Pascal Keenast. Er saß da, Beine angezogen und vom rechten Arm umschlossen, völlig apathisch. Der Bart war gestutzt, die Haare gekämmt, die Augen glasig und leer. Von der einst eisigen Autorität war nichts mehr zu spüren. Ohne den schwarzen Mantel, ohne die Unterstützung des Imperiums war Keenast nicht viel. Jetzt wo Nickelburn dieses Bündel Elend vor sich sah, hatte er keine Angst mehr vor ihm. Im Gegenteil, er verspürte so etwas wie Mitleid.
Nickelburn fand seinen Lebensweg, den er mühsam aus den wenigen Worten seines Patienten zusammengezimmert hatte, sehr faszinierend. Schon früh entdeckte man seine Magiebegabung und so wurde er auch für das DMT-Imperium interessant. Mit gerade einmal sechs Jahren wurde er seiner Familie entrissen, die er seitdem nie wieder gesehen hatte. Wahrscheinlich waren sie bereits tot. Keenast gehörte zu einer Reihe von Magierkindern, die man für die neu gegründeten DMT-Inquisitoren rekrutierte, um es mal freundlich auszudrücken. Jedem dieser Kinder wurde ein schwieriges und grausames Trainingsprogramm auferlegt. Aus den Akten, die die Säuberungen überlebt haben und für die Öffentlichkeit aufbereitet wurden, wusste Nickelburn, wie grausam das Training war. Nicht jeder Schüler überlebte es. Man wollte sie zu bestialischen, gehorsamen und kalten Schattenmördern machen. Und bei dem einen oder anderen funktionierte es sogar, siehe Keenast.
Anderen schadete die Prozedur erheblich. Manche verfielen dem Wahnsinn, begingen Selbstmord oder waren einfach nicht unter Kontrolle zu bringen. Die Akten schwiegen über die genauen Zahlen, aber es gab anscheinend genügend Ausfälle, dass man sich Ende der Fünfziger entschloss, die Rekrutierung von magiebegabten Kindern zu beenden.
Keenast war eines der erfolgreicheren Modelle; emotionslos, grausam und kontrollierbar. Doch das Training hinterließ auch bei ihm seine Spuren. Durch das frühe Trauma und die harten Maßnahmen von Kindesbeinen an wurde er immer kälter und zurückgezogener, er legte sich im wahrsten Sinne des Wortes einen eisigen Panzer zu. Und diese Schale schützte seinen verletzlichen Kern, den er niemandem zeigen wollte. Er hüllte sich in Eis. Damit war er eine Zeitlang auch erfolgreich, bis die Hülle Risse bekam.
Die immer schlimmer werdenden Kriegsgräuel, die Nacht im Lager, der Zusammenbruch des Imperiums und der Vorfall vor drei Jahren sprengten den Eisberg und legten den weichen, verletzlichen Kern frei. Er war nun kein Mann der Autorität mehr, sondern nur noch ein hilfloses Wesen. Selbst seine magischen Kräfte wollte er nicht mehr einsetzen, er hatte nun zu viel Angst vor ihnen. Er war ein gebrochener Ex-Magier. Von Angst und Trauma zerfressen, immer nur einen Fuß entfernt vom tiefen, dunklen Abgrund, an dessen Ende der Wahnsinn wie eine hungrige Bestie lauerte. Nickelburn wusste nur zu gut, wie diese Bestie aussah. Er hatte sie nun oft genug gesehen.
Er setzte sich neben Keenast auf das Bett. Der Patient schaute ihm wie immer nicht in die Augen, sondern starrte die Wand an. Nickelburn holte seinen Notizblock heraus.
»Wie geht es Ihnen heute? Haben Sie gut geschlafen?«
Schweigen.
»Herr Keenast? Wie …«
»Ich habe Sie schon verstanden, Herr Doktor. Mir geht es gut. Ich habe auch gut geschlafen«, brummte der Patient.
»Sollen wir etwa lügen, Herr Keenast? Möchten Sie mich etwa anlügen? Wir haben doch schon so oft über dieses Thema gesprochen. Wenn Sie mich anlügen, können wir keine stabile Verbindung aufbauen und ich kann Sie nicht therapieren«, erklärte Nickelburn.
»Ich möchte aber nicht darüber reden, Herr Doktor.«
»Wieso nicht? Wir spielen dieses Spiel schon drei Jahre lang und sind keinen Schritt näher an ihre Genesung gekommen. Möchten Sie für immer in dieser Zelle bleiben?«
»Warum nicht? Ich habe kein Zuhause mehr, keinen Ort wo ich hingehen könnte. Ohne diese Anstalt müsste ich auf der Straße sitzen und frieren. Ich müsste in ein Obdachlosenheim, mich dort mit anderen Obdachlosen prügeln. Dann bevorzuge ich lieber diese weiße Hölle hier.«
»Wie Sie meinen.«
Betretenes Schweigen auf beiden Seiten für einige Minuten.
»Vermissen Sie ihn?«, brach Keenast überraschenderweise die Stille.
»Wen?«
»Ihren Freund. Den anderen Doktor. Telschaw.«
Nickelburn schaute betrübt auf den Boden.
»Ja. Ja, das tue ich. Jeden Tag umso mehr.«
»Ich habe mich nie entschuldigt, wissen Sie …«
»Sparen Sie sich den Atem. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, ich hege keinen Groll gegen Sie. Niemand ist schuld an diesem … Vorfall. Wir alle sind Opfer … höherer Mächte. Niemand konnte ahnen, dass es so eskalieren würde. Niemand konnte ahnen, welchen dunklen Pfad Nick gehen würde. Er wurde zu einem Gefangenen und ich habe es überhaupt nicht bemerkt.«
»Ich habe übrigens schlecht geschlafen, Herr Doktor.«
»Wie bitte?«, fragte Nickelburn verwirrt.
»Sie hatten nach meinem Schlaf gefragt. Ich habe schlecht geschlafen, sehr schlecht sogar. Die Phantomschmerzen, die Alpträume. Das alles hält mich nachts wach.«
»Was sind das für Alpträume? Können Sie die beschreiben?«
Keenast schaute den Doktor mit seinen blutunterlaufenen Augen an, nein, schauen war nicht das richtige Wort. Er starrte. Er blinzelte nicht.
»Ich starre in den Abgrund und der Abgrund starrt zurück.«
Nickelburn verließ bald das Zimmer des Patienten. Der Rest des Arbeitstages verlief relativ ereignislos, stur mechanisch erledigte er den Papierkram. Er sah die Zahlen und Buchstaben nicht mal wirklich, er war mit den Gedanken ganz woanders. Er dachte über die Worte von Keenast nach, über seinen Alptraum. Über das, was sich hinter Chambers Tür verbarg. Was würde er dort finden? Vielleicht Antworten? Oder vielleicht mehr schlaflose Nächte? Er wusste, es würde ihm keine Ruhe lassen, bis er in das Zimmer geschaut hatte.
Er musste es tun.
Er hatte gar keine andere Wahl.
Die Sonne verschwand hinterm Horizont und Nickelburn konnte endlich nach Hause gehen. Auf dem Heimweg kreisten seine Gedanken nur um das mysteriöse Zimmer. Welche Geheimnisse verbarg es wohl vor ihm? Er muss es herausfinden, sonst könnte er nie wieder ruhig schlafen. Er betrat das Haus und begab sich sofort zu der ominösen Tür. Er wollte sie öffnen, sie war abgeschlossen. Wo hatte er den Schlüssel versteckt? Auf dem Türrahmen, natürlich. Wo denn auch sonst.
Er steckte den Schlüssel in das Schlüsselloch, er öffnete die Tür. Für einen kurzen Moment blieb sein Herz stehen. Er ging in das dunkle Zimmer hinein. Sofort strömte abgestandene Luft in seine Nase, ein unangenehmer Duft. Alt und vermodert. Als würde man eine antike Familiengruft betreten. Er konnte in der Dunkelheit nichts erkennen, er tastete nach dem Lichtschalter. Sofort erhellte sich der Raum. Im Nachhinein wäre es besser gewesen, Nickelburn hätte die Vergangenheit im Dunkeln gelassen.
Das Zimmer war unordentlich, überall lagen Klamotten auf dem Boden. Dicker Staub bedeckte jede freie Oberfläche. Spinnen hatten ganze Imperien errichtet. In einigen Ecken sah Nickelburn Silberfischchen blitzschnell weg krabbeln, auf der Flucht vor dem brennenden Licht.
Das Erschreckendste war aber, woran Chamber anscheinend die ganze Zeit über gearbeitet hatte. An der gegenüberliegenden Wand hatte er eine riesige Bildcollage angebracht. Eine Vielzahl von gezeichneten Einzelbildern, die ein Gesamtbild ergaben. Nickelburn musste zweimal hinsehen, um zu erkennen, was das Kunstwerk darstellen sollte.
Eine große, schwarze Figur. Menschenähnlich, aber auch nicht wirklich. Weiße Augen, eine Krone mit spitzen Zacken auf dem Haupt. Die Figur ähnelte einem Schatten. Nickelburn verstand es nicht. War das nur ein Auswuchs von Chambers Wahn? Eine Halluzination? Ein Gebilde aus einem seiner Fieberträume? Er ging näher heran und erblickte dabei einen Gegenstand, der vor der Collage auf dem Boden lag.
Kalter Schweiß brach auf Nickelburns Stirn aus. Das war nicht möglich! Es war einfach unmöglich! Er nahm den Gegenstand in die Hand. Es war ein altes, ledernes Buch.
Immatericon, stand in großen Buchstaben vorne drauf.
Unmöglich, dachte er, ich hab dich eingeschlossen. Tief unten in der Psychiatrie. Was machst du hier? Wie kommst du hierher? Wie kommst du in ein Zimmer, das seit drei Jahren verschlossen ist? Warum werde ich dich nicht los?
Die Fragen schwirrten in seinem Kopf wie wild gewordene Wespen umher. Ihm wurde schwindlig, er begann zu schwanken. Am liebsten hätte er dieses verfluchte Buch sofort verbrannt, doch seine innere Stimme sagte ihm, dass sein Vorhaben nutzlos sei. Es würde wiederkommen. Egal, wie oft er es zerstörte. Doch Nickelburn wollte nicht auf seine innere Stimme hören. Seine innere Stimme konnte ihn mal kreuzweise am Arsch lecken. Er rannte aus dem Zimmer. Wühlte in den Schubladen herum, bis er fand, wonach er suchte. Streichhölzer! Er zündete eins an. Hell leuchtete die Flamme. Er hielt sie an das Buch. Es fing sofort Feuer. Er schaute zu, wie es brannte. Er schmiss es auf den Boden. Ein Gefühl der Befriedigung machte sich in ihm breit. Er lächelte. Bald war nur noch graue Asche übrig.
Er atmete erleichtert aus und ging duschen. Er musste auf andere Gedanken kommen. Das warme Wasser prasselte auf ihn herab. Welch ein gutes Gefühl, welch eine Erleichterung, welch eine Entspannung. Nickelburn genoss die Dusche. Dampf füllte das gesamte Bad.
Als er wieder hinaus ging, füllte er sich wie neugeboren. Doch dieses Gefühl verflog schnell wieder, als er sah, was auf dem Boden lag. Das Immatericon. Völlig unbeschadet. Nickelburn starrte das Buch ganze drei Minuten lang an, bis er sich wie von Sinnen auf das Buch stürzte und anfing panisch die Seiten raus zu reißen. Eine nach der anderen. Dann nahm er die einzelnen Seiten und zerriss sie in tausend kleine Einzelteile. Er hörte erst auf, als er einen kleinen Berg von Papierschnipseln vor sich zu liegen hatte. Erschöpft atmete er aus.
Das war‘s, kein Buch mehr, dachte Nickelburn. Er schleppte sich zu seinem Bett und brach dort zusammen. Ein tiefer Schlaf überkam ihn, alles wurde dunkel.
Als er die Augen wieder öffnete, befand er sich in einer Ruinenstadt. Der rote Stern und die Sonne strahlten ihr unheiliges Licht auf die verbrannte Oberfläche Terras. Die Farbe an den Häuserwänden war schon lange verblichen, die Fenster zersprungen. Nickelburn war alleine. Um genau zu sein, er war das einzige Lebewesen in der Umgebung. Keine Tiere, Menschen, Orks, Dragonier oder Skelette. Keine Pflanzen, nichts blühte oder wuchs. Es krabbelten oder schwirrten nicht einmal Insekten durch die Gegend.
Nichts.
Es war, als wäre das gesamte Leben auf Terra einfach verschwunden. Ausgestorben. Vernichtet. Ausgelöscht. Hier lebte nichts mehr. Nickelburn spürte eine tiefe Leere und Einsamkeit in sich. Er hatte sich noch nie so allein gefühlt.
Hallo?, rief der Doktor hoffnungsvoll in die Stille hinein.
Doch niemand antwortete. Vorerst. Irgendwo weit entfernt vernahm Nickelburn eine sanfte, geradezu liebliche Stimme. Sie kam von außerhalb der Stadt, sie rief nach ihm. Er konnte gar nicht anders als ihr zu folgen, es war wie der Klang einer Sirenenhexe. Und welch ein herrlicher Klang es war. Nickelburns Beine bewegten sich wie von alleine. Nach gefühlten Stunden verließ er endlich die urbane Gegend und eine weite Wüste öffnete sich ihm. Blutroter Sand so weit das Auge reichte. Warum war der Sand so rot? Als hätten Millionen von Menschen den Sand mit ihrem Blut gefärbt. Nickelburn interessierte sich nicht für diese Frage, für ihn hätte die Wüste auch aus Glas bestehen können, es wäre ihm nicht wichtig gewesen. Er hörte die Stimme und musste ihr folgen.
Er wanderte weiter geradeaus, noch immer kein Anzeichen von Leben. Aber Nickelburn bemerkte eine Veränderung. Er spürte etwas, es fühlte sich an, als würde er beobachtet. Nicht von ein paar Augen, sondern von tausenden. Aber da war niemand, nicht eine Seele. Nickelburn schaute zum Himmel, es war plötzlich Nacht geworden. Seltsam, dachte er sich, wo sind all die Sterne?
Kein einziger Stern leuchtete am Firmament. Es war, als wäre das Universum erloschen. Als wäre das gesamte Leben mit dem Fingerschnippen eines wahnsinnigen Titanen zu Asche verfallen. Doch der Nachthimmel hielt noch eine weitere Überraschung parat. Nickelburns Blick fiel auf den Mond. Welch ein kurioser Anblick. Die eine Hälfte des Mondes war noch ganz die alte, doch die andere … tausend Teile schwebten im schwerelosen All, zertrümmerte Felsen. Wer oder was war dafür verantwortlich? Welche Kraft war im Stande, den Mond in Einzelteile zu sprengen? Die gleiche Kraft, die den Sternenhimmel verschlang?
Nickelburn ging weiter durch die blutrote Wüste, immer der mysteriösen Stimme folgend. Das Gefühl beobachtet zu werden, ließ ihn nicht los. Im Gegenteil, es wurde nur immer stärker. Die tausend Augen schien sich von Sekunde zu Sekunde zu verzehnfachen. Welch ein ungutes Gefühl, das ständig schlimmer wurde. Paranoia stieg in Nickelburns Bewusstsein hoch, die Angst umklammerte ihn mit festem und kaltem Griff. Aus seinem schleichenden Gang wurde ein schnelles Gehen, dann ein zügiges Joggen und schließlich ein panisches Rennen. Er wollte weg von hier und zwar schleunigst. Er musste die Stimme erreichen. Wenn er es schafft, wird ihn niemand mehr anstarren.
Nickelburn wirbelte massig Sand auf, er fiel hin, rappelte sich wieder auf und rannte weiter. Fiel wieder hin, er krabbelte auf allen Vieren weiter. Er glich eher einem wilden Tier, als einem studierten Intellektuellen.
Irgendwann lag er keuchend im kalten, blutigen Sand. Er schnaufte, er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr weiter, sein Körper gab auf. Er wollte einfach nur noch liegen bleiben und einschlafen, für immer.
Folge mir, es ist nicht mehr weit, erklang eine liebliche Stimme.
Nickelburn lauschte. Woher kam sie?
Folge mir.
Er stand auf. Blickte sich um.
Folge mir, du hast es fast geschafft.
Er machte einen Schritt, doch sein Körper leistete Widerstand.
So ist es gut. Weiter.
Einen weiteren Schritt und noch einen und noch einen.
Gut, gut. Folge mir. Bald hast du mich erreicht.
Nickelburn hatte sich endlich überwunden und ging weiter, immer der schönen Stimme nach.
Sehr schön. Hervorragend. Das machst du gut. Es geht doch.
Ein Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Ja, ja er wird es schaffen. Er musste es schaffen. Er ging in einem zügigen Tempo weiter.
Prima. Wunderbar. Großartig. Folge mir. Folge mir nur. Du hast es bald geschafft.
Seine Geschwindigkeit wurde schneller und schneller, die Angst war vollkommen verschwunden. Er lief, er rannte. Es fühlte sich an, als würden seine Füße gar nicht den roten Sand berühren. Als würde er schweben, über die Wüste fliegen wie ein majestätischer Vogel. Es fühlte sich so schön an. Die Stimme flüsterte Lob in sein Ohr. O welch herrlicher Klang! Nicht die schönste Musik des großartigsten Komponisten kam an diese Melodie heran! Nickelburn flog! Er flog! Er war leicht wie eine Feder, leichter als Luft. Glückshormone flossen in sein Gehirn, als wäre ein Staudamm in seinmn Innersten gebrochen und die Fluten stürmten hinein.
Großartig! GROßARTIG! Du kannst es! Du hast es fast geschafft, nur noch ein Stückchen.
Nickelburn breitete die Arme aus, nun wurde er von imaginären Winden getragen. Der rote Sand verschwamm unter ihm. Bald sah er auch sein Ziel, er konnte es klar und deutlich erkennen. Ein großer, schwarzer Turm. Seine Spitze durchbrach den sternlosen Nachthimmel. Das Bauwerk kam Nickelburn sehr vertraut vor, er hatte es schon einmal gesehen. Doch er konnte im Moment nicht sagen wo und wann. Ein Gefühl von Vertrautheit, ein Gefühl von … Heimat … Zuhause überkam ihn. Die Stimme sang nun, welch süßer Klang! Diese wunderschöne Melodie! Solch komplexe Rhythmen, solch ein phantasievoller Aufbau. Noch nie hatte er so etwas gehört! Diese Musik musste aus einer anderen Daseinsebene stammen, kein sterbliches Wesen vermag so etwas zu verfassen. Daran hatte Nickelburn keine Zweifel.
Sein Flug war beendet. Er stand wieder mit beiden Beinen auf den Boden der blutroten Wüste. Nun befand er sich vor dem kolossalen Turm. Welch ein beeindruckendes Gebäude. Es schien aus geschliffenem Obsidian zu bestehen. Ein riesiger, glatter Obsidiankristall. Welche meisterhaften Hände waren in der Lage, solch eine Konstruktion aus Vulkanglas zu fertigen? War es die gleiche Kraft, die den Mond in seine Einzelteile zerschmetterte? War es der Titan, der das Sternenlicht raubte?
Nickelburn stand vor einer großen, massiven Holztür. Sie schien aus einer uralten Eiche zu bestehen. Das Material war makellos, kein einziger Fehler in der Verarbeitung. Auf den beiden Türblättern war ein Symbol eingebrannt worden. Eine schwarze Krone.
Nickelburn betrat den Turm. Die Melodie erreichte nun ihren Höhepunkt. Eine unglaublich lange Wendeltreppe schlängelte sich bis nach oben, er konnte das Ende gar nicht erkennen. Er trat auf die aus solidem schwarzen Stein gemeißelten Stufen und begab sich auf eine Reise zur Spitze. Der Aufstieg zum glorreichen Himmel war alles andere als anstrengend, es fühlte sich eher … befreiend an. Die wunderbare Melodie begleitete ihn, sie machte den Gang sogar noch leichter. Stufe für Stufe erklomm er den Turm, die Ekstase wurde mit jedem Schritt stärker und stärker. Der Gesang wurde lauter und lieblicher.
Nickelburn fühlte sich wie zuhause, als hätte er diese Stufen schon einmal erklommen. War er schon mal hier gewesen? War er schon mal auf der Spitze? Er wusste die Antwort auf diese Frage nicht. War es wichtig? Wahrscheinlich nicht. Es spielte keine Rolle. Nickelburn wollte einfach nach oben, ganz nach oben. Er wollte wissen, was sich dort befand. Was würde er dort finden? Vielleicht den Ursprung dieser grandiosen Musik? Gut möglich.
Er rannte die Treppe hoch, immer schneller, immer höher, der Gesang schallte in seinem Kopf. Herrlich! Er hätte den ganzen Tag so weiter laufen können. Ach was, nicht nur ein Tag, sondern sein ganzes Leben lang! Er hatte so viel Energie, er fühlte sich wie neugeboren. Bald hatte er es geschafft, es konnte nicht mehr weit sein.
Es war wie eine Ewigkeit, doch er erreichte endlich die sagenhafte Spitze. Er stand vor einer weiteren Tür, diesmal aus schwarzen Metall. Nickelburn hatte Schwierigkeiten die Tür zu öffnen, sie war so schwer. Doch er musste dahinter kommen! Er musste es einfach. Er strengte sich an, schob und schob. Endlich gab die Tür nach und er konnte den Raum betreten. Es war ein gigantischer Thronsaal, schlicht und leer. Wobei, nicht ganz. Etwas war in dem Saal, doch es war nichts lebendiges.
Links war ein riesiges, fahles Wesen durch einen Speer an die Wand gebohrt worden. Es sah entfernt humanoid aus. Es hatte kein Gesicht, dort war nur eine weiße Fläche. Auf dem Kopf trug es einen silbernen Helm. Flügelartige Auswüchse hingen von seinem Rücken herunter. Ein Arm war abgerissen worden. Um das Wesen herum lagen dutzende tote Humanoide, wahrscheinlich Menschen. Sie hatten seltsame Rüstungen an, alle waren auf brutale Art umgebracht worden. Manchen fehlte der Kopf, anderen hingen die Gedärme raus und ganz andere waren einfach nur zertrümmerte Körper, ein blutiger, matschiger Haufen von Knochen und Fleisch.
Auf der rechten Seite zeigte sich ein ähnliches Bild, doch mit einigen Unterschieden. Statt einer humanoiden Kreatur lag dort eine schwarze, amorphe Masse. Auf dem Kopf trug es den Totenkopfschädel einer Kuh, dieser wurde von einer Axt gespalten. Auch hier lagen unzählige menschenähnliche Wesen, alle grausam getötet. Sie trugen schwarze Umhänge und manche von ihnen auch einen Kuhschädel als Maske.
Welches Monster war für ein solches Massaker verantwortlich?
Wer waren die toten Wesen?
Haben sie miteinander oder gegeneinander gekämpft?
Nickelburn schaute nach vorn, dort war der schwarze Obsidianthron. Über ihm hing ein Ölgemälde, wahrlich eine technische Meisterleistung. Zu sehen waren sieben Individuen, die in einer Linie standen. Sie alle schienen unterschiedliche Tiermasken zu tragen. Eines der Wesen, das links außen, war nicht mehr ganz zu erkennen. Irgendjemand hatte das Gesicht von der Leinwand heruntergerissen. War das Mitglied nicht mehr erwünscht gewesen? Wer war diese Person? Wer waren überhaupt diese Tiermaskenträger?
Nickelburn fühlte sich auf seltsame Weise verbunden mit diesen Wesen. Er musste wissen, wer sie waren! Vielleicht hatten sie ein paar Antworten parat.
Er ging an den Thron näher heran, auf dem Sitz lag ein ledernes Buch. Es kam Nickelburn sehr bekannt vor. Er hatte es schon einmal gesehen, aber wo? Die Euphorie verflog wieder, zum Vorschein kam Angst.
Komm, sieh es dir genauer an, flüsterte die Stimme.
Ich … Ich weiß nicht. Es fühlt sich nicht gut an. Ich … Ich möchte nicht, erwiderte Nickelburn.
Keine Sorge. Dir wird nichts passieren. Alles ist gut. Komm … Komm näher.
Nein, ich kann nicht.
Doch, du kannst. Du musst es nur wollen.
Aber ich will es nicht!
Doch, du willst!
Nein!, rief Nickelburn verzweifelt.
Du hast keine andere Wahl.
Eine unsichtbare Kraft zog ihn näher an den Thron heran, er versuchte sich dagegen zu stemmen. Er stemmte seine Beine mit aller Macht gegen den Boden.
Du bist so weit gekommen. Und jetzt möchtest du aufgeben? Das passt so gar nicht zu dir, Walter Daniel Jester. Es ist nicht mehr weit. Schaue in das Buch und alle Antworten werden dir präsentiert!, beharrte die geheimnisvolle Stimme.
Nickelburn verlagerte sein gesamtes Gewicht nach hinten, seine Beine drückte er weiter auf den Boden. Doch die Kraft zog immer weiter an ihm, zerrte an seinem Widerstand. Er versuchte weiter dagegen anzukämpfen.
Muss ich dich zu deinem Glück erst zwingen? Muss ich dazu rohe Gewalt anwenden? Ich kann dich zwingen, ich kann dich brechen. Also, mach was ich sage, es lag nun eine gewisse Aggressivität in der ach so lieblichen Stimme.
Nein! Nein! Nein! Das ist … fauler Zauber! Täuschung! Illusion! Lüge!, knurrte er.
Seine Kräfte schwanden, seine Beine wurden schwächer. Sie gaben nach, er fiel auf die Knie. Nun übernahm jemand Fremdes seine Arme und Hände. Sie zogen ihn an den Thron näher heran. Nickelburn winselte und knurrte abwechselnd. Er wimmerte. Schmerz, so schrecklicher Schmerz. Er konnte nicht mehr länger Widerstand leisten. Die Schmerzen wurden unerträglich. Er gab auf, er konnte nicht mehr. Er gab sich seinem Schicksal hin.
So ist es gut. Nun nimm das Buch.
Nickelburn hatte gar keine Kontrolle mehr über seinen Körper. Seine beiden Hände packten das Buch und drehten es um. Immatericon stand auf der Vorderseite. Nickelburn hatte es sich schon gedacht.
Ich will nicht. Bitte. Ich will nicht, schluchzte er.
Ist mir egal. Du hattest einmal die Wahl. Es wird dir gefallen.
Nickelburn kniff die Augen fest zusammen, doch das nützte nichts. Sie wurden sofort mit Gewalt wieder aufgerissen.
Nein …
Er schlug das Buch auf, Licht überströmte ihn. Wunderschönes Licht, göttliches Licht. Es überstrahlte sein ganzes Gesicht. Es war, als würde er einen neugeborenen Stern erblicken. Ein himmlischer Chor ertönte in seinem Kopf. So liebliche Stimmen, es übertraf selbst die wundervolle Melodie und die liebliche Stimme um den Faktor Einhundert. Das Licht! Der Chor! Er fing vor Freude an zu weinen. Die Tränen kullerten sein Gesicht hinunter.
JA!, schrie er freudestrahlend, ja! Ich verstehe es nun! Es ist alles so klar! Ich sehe es vor meinen Augen! Alle Antworten! Der Schlüssel zum Universum! Der Schlüssel um Nick wieder zu mir zubringen! Ja. Ja! JA! Göttliches Licht, übernimm mich! Göttliche Kraft, leite mich! JA! Ihr Götter! Ich habe es nun endlich verstanden! Ihr Götter! Ihr Götter, hört ihr mich! Ich! Habe! VERSTANDEN!
Er schloss zufrieden die Augen …
… und als er sie wieder eröffnete, befand er sich in seinem vertrauten Zimmer. Sein Gesicht war tränenüberströmt, das Lächeln zierte noch immer seinen Mund. In seinen Armen hielt er fest umklammert ein braunes Buch, das Immatericon. Nach einer kurzen Zeit der Realisierung warf er es vor Schreck gegen die Wand. Es klatschte mit einem lauten Knall dagegen und fiel geöffnet zu Boden.
Nickelburn stand auf, machte das Licht an und schaute sich die Seiten an. Wie der Zufall es so will, zeigten die aufgeschlagenen Seiten, wie man eines der merkwürdigen Portale in Betrieb nimmt und wohin sie führen können.
»Ja, ich verstehe. Ich weiß, was du von mir möchtest. Ich habe es nun endlich verstanden«, flüsterte er in den leeren und stillen Raum.
Er nahm das Buch nun ohne Angst auf und schaute sich die Seiten genau an. Er wusste jetzt, was er zu tun hatte. Bald war er wieder mit Chamber vereint.
An Schlaf war nun nicht mehr zu denken, Taten mussten her. Nickelburn zog schnell ein paar Sachen an und warf sich eine Jacke über. Im Eiltempo rannte er zum Chamber Asylum, das Buch hatte er unter den Arm geklemmt. Er stürmte in die Nervenheilanstalt, weckte mit dem Türenknallen den schlafenden Nachtwächter. Schwestern, Pfleger und Assistenzärzte schauten erschrocken beim Anblick ihres Vorgesetzten. Dieser hatte nur ein Ziel, ein ganz bestimmtes Zimmer.
Er riss die Tür auf, Licht flutete den dunklen Raum, ein Paar erschrockene Augen starrten den Eindringling an.
»Ich brauche Ihre Hilfe. Sofort!«, raunte er, völlig außer Atem.
Der Patient rieb sich die Augen. Er brauchte ein paar Minuten um zu verstehen, was überhaupt gerade los war und wer da eigentlich in seinem Zimmer stand.
»Wa… Was? Wissen Sie … eigentlich wie spät es ist?«, stöhnte er.
»Mir egal. Es gibt Arbeit zu tun! Die Zeit drängt«, entgegnete Nickelburn aggressiv.
Eine Schwester schien die absurde Szene mitbekommen zu haben. Sie ging mit unsicheren Schritt hin und sprach mit leicht verängstigter Stimme: »Herr Doktor Nickelburn … Die Patienten … Es ist jetzt Schlafenszeit … Man sollte sie nicht … Sie wissen schon … Nachtruhe … Die Patienten müssen doch … Und sie kennen das doch … Es ist so spät … Und …«
Nickelburn drehte sich zu ihr um, Wut brannte in seinen Augen. Mit zusammengepressten Zähnen sagte er ihr: »Wissen Sie, wie egal mir das ist? Glauben Sie, ich mache mir was aus Ihrer Meinung? Sie mischen sich in Dinge ein, die Ihr jämmerlicher Verstand gar nicht begreifen kann, sie nutzlose Arbeitsdrohne! Verschwinden Sie und machen Sie das Licht für diese Zelle an! Ich habe wichtige Gespräche mit diesem Patienten zu führen. Und ich möchte dabei nicht gestört werden, verstanden? Also, los!«
Ihr Gesicht wurde rot, Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand den Gang hinunter. Kurze Zeit später erleuchtete die Lampe das Zimmer hell. Nickelburn schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf das Bett.
»Es gibt Arbeit für Sie, Keenast. Sie werden mir bei einer kleinen Sache helfen.«
»Was soll ich tun?«, er war verwirrt.
Nickelburn hob das braune Buch hoch und antwortete: »Das Portal. Öffnen Sie es wieder.«
Alle Gesichtszüge des Patienten entglitten ihm. Er konnte gar nicht fassen, was er da hörte.
»Das … Das können Sie doch nicht … Nein … Nein … Nein! … Das … geht nicht … Nein … Ich … Nein … Es ist …«, stammelte er.
»Sie haben gar keine andere Wahl. Entweder Sie helfen mir oder ich werde wichtigen Leuten erzählen, wer Sie wirklich sind. Dann geht es Ihnen an den Kragen. Sie können natürlich mit mir kooperieren, dann wird Ihnen selbstverständlich nichts passieren.«
Welch eine Ironie! Die Rollen haben sich nun vertauscht. Jetzt war Nickelburn der kalte Unnachgiebige und Keenast der verängstigte Untergebene. Der Doktor verspürte keine Angst mehr vor dem ehemaligen Inquisitor. Warum sollte er auch? Der Magier war schwach und krank, keine Gefahr mehr für ihn. Er saß jetzt am längeren Hebel. Doch woher kam dieses neue Selbstbewusstsein? Nickelburn schaute auf das Immatericon. Hatte es seine Finger im Spiel? Er wusste, es war kein gewöhnliches Buch, sondern ein magisches. Vielleicht hatte es Einfluss auf seine Psyche genommen. Gut möglich. Aber Nickelburn würde sich jetzt nicht darüber beschweren, es fühlte sich nämlich gut an.
»Das … Das können Sie nicht machen! Sie sind genauso schuldig wie ich! Sie sind ein Verbrecher! Sie haben so viele Leben auf den Gewissen! Wenn ich dran bin, sind Sie auch dran!«, erwiderte der ehemalige Inquisitor empört.
»Wem würden die Leute eher glauben? Einen mental gebrochenen Inquisitor oder einen Doktor für Biotechnik, Medizin und Neurowissenschaft? Dazu noch der Direktor einer bekannten Psychiatrie. Wer glaubt schon den Worten eines dahergelaufenen Verrückten? Ganz simple Antwort: niemand. Niemand würde Pascal Keenast glauben.«
»Ich … Nein, ich kann nicht. Nicht … Nicht schon wieder. Ich möchte es nicht. Das letzte Mal … Nein. Nein!«
Nickelburn ging näher an ihn heran.
»Hören Sie mir genau zu. Ich habe endlich eine Möglichkeit gefunden, Nick wiederzubekommen. Ich werde mir diese Möglichkeit, diese einmalige Chance, nicht nehmen lassen. Sie werden mir helfen, ob Sie wollen oder nicht. Sie haben einfach keine andere Wahl. Es sei denn, Sie wollen unbedingt am Galgen hängen.«
Keenast schaute ihn fassungslos an, er überlegte einige Sekunden, schien seine Möglichkeiten abzuwägen.
»Nein … Ich möchte unbedingt noch ein paar Jahre leben. Wer weiß, was mich auf der anderen Seite erwartet.«
»Gut. Dann können wir ja gleich anfangen.«
»Was? Jetzt? Um diese Uhrzeit?«
»Ja. Besser jetzt als nie. Ich darf keine weitere Zeit verschwenden. Es muss jetzt geschehen. Ich darf Nick nicht länger warten lassen. Ich muss ihn wiedersehen. Ich muss mich … entschuldigen.«
»Sind Sie sich sicher, dass es funktionieren wird?«
Nickelburn hielt das Immatericon hoch. Er lächelte siegessicher.
»Keine Sorge. Mir wurde alles gesagt, was ich tun muss.«
Keenast schaute den Doktor an und war sich nicht wirklich sicher, was er von ihm halten sollte. Nickelburn packte den Patienten am Arm und zog ihn aus dem Zimmer. Vorbei an Ärzten und Schwestern gingen sie in die dunklen Gewölbe des Asylum. Nickelburn zog den Schrank von der verborgenen Tür weg und schloss sie auf, er schaltete das Licht an. Das Portal stand noch immer dort, strahlte seine geheimnisvolle Aura aus. Staub bedeckte den Boden. Drei Jahre war es nun her, seit Nickelburn den Raum betreten hatte. Ein Gefühl der Trauer überkam ihn, alte Erinnerungen schwammen an die Oberfläche. Er hörte die Schreie Chambers, er sah die flackernden Lichter, das aufleuchtende Portal. Er spürte, wie er in die Wand gedrückt wurde. Ein Schauer kroch seinen Rücken hinunter. Er sah Keenast an und drückte ihm das Buch an die Brust.
»An die Arbeit«, befahl er.
Der Magier zögerte.
»Wird‘s bald?«
Er ging an das Kontrollpult, legte das Buch darauf und schlug es auf.
»Ich kann nicht … Ich kann es nicht … Nicht schon wieder …«
»Tun Sie es!«
»Nein …«
»Los!«
»Ich …«
»Machen Sie schon! Wird‘s bald?«
»Aber …«
»Ich habe nur diese eine Chance und die werde ich mir nicht von Ihnen nehmen lassen!«
Keenast schwieg. Er konnte nicht mehr, er hatte keine Kraft mehr für irgendeine Form von Widerstand. Hatte er noch eine Wahl? Wahrscheinlich nicht. Nicht in diesem Moment. Es hatte alles keinen Sinn mehr, er musste sich seinem Schicksal fügen. Er wollte nicht am Galgen enden, er wollte noch ein paar Jahre leben. Sterben kam für ihn im Moment nicht infrage. Er hatte gesehen, was auf der anderen Seite lauerte. Nein. Das wollte er noch so lange wie möglich hinauszögern. Nickelburn starrte ihn grimmig an, seine Zähne mahlten vor Anspannung. Sein Körper stand kerzengerade, die Hände waren zu Fäusten zusammengekrampft.
Der ehemalige Inquisitor schaltete die Maschine an, die Kugeln leuchteten in sieben verschiedenen Farben auf. Einsatzbereit, mal wieder. Keenast legte seine Hand auf das Buch und zeigte mit dem halben Arm auf das Portal. Er begann die geheimnisvollen Worte zu murmeln. Sofort durchdrang Magie, diese geheimnisvolle kosmische Kraft, seinen Körper, füllte jede noch so kleine Zelle. Er atmete schwer, er keuchte, er murmelte weiter. Keenast öffnete die Augen, blaues Licht trat hervor. Er war bereit. Nickelburn schaute mit Erwarten zu. Die Maschine rumorte, Funken sprühten, es knisterte. Die Luft war angefüllt mit elektrischer Ladung. Die Haare des Doktors standen zu Berge.
Keenast murmelte weiter, flüsterte uralte, mächtige Worte. Es blitzte in der Maschine. Die Kugeln leuchteten heller, immer schneller. Wieder begann der Boden zu vibrieren. Erst leicht, dann stärker. Diesmal war Nickelburn darauf vorbereitet und zwar auf alles. Die Vibrationen erzeugten diesmal nicht so große Kopfschmerzen wie beim letzten Mal. Er schloss die Augen und genoss die Situation. Die Maschine arbeitete und schnaufte, die Blitze wurden immer stärker, immer gewaltiger. Die Lichter leuchteten hell. Kleine Sonnen, gefangen in einem Rad aus Eisen.
Eine Welle aus Energie, dann die zweite und kurz darauf die dritte. Alle drei trafen Nickelburn, doch er stand fest auf beiden Beinen. Das war das Zeichen, dass das Portal bereit war. Es war nun … offen. Er öffnete die Augen wieder. Alles hatte funktioniert. Blaues kühles Licht strahlte über Nickelburns Gesicht, das Licht des Portals. Keenast lag am Boden, keuchend und nahe der Bewusstlosigkeit. Doch das spielte keine Rolle. Wen interessierte das weitere Schicksal dieses Irren, er hatte schließlich seinen Zweck erfüllt. Nickelburn ging näher heran, er stieg über den Körper des erschöpften Magiers. Dieser versuchte seine Hand nach ihm auszustrecken, doch er war zu schwach.
»Warten … Nicht …«
Nickelburn ignorierte ihn. Er hatte etwas viel Wichtigeres gehört. Kam da … eine Stimme aus dem Portal? Er lauschte. Ja, da war eine Stimme. Chambers Stimme! Er konnte es kaum glauben! Er hörte ihn, er hörte seinen verlorenen Freund! Er trat noch näher an das Portal, im blauen Licht erstrahlte sein Gesicht. Vielleicht noch einen Schritt näher? Er schloss die Augen und ging hinein.
???
Ich öffnete meine Augen wieder.
Blaues Licht überall.
Welch ein eigenartiges Gefühl.
Ich fühlte mich so … leicht. Schwerelos. War mein Körper noch da oder hatte er sich aufgelöst? Ich wusste es nicht. Ich spürte ihn nicht. Ich wollte auch nicht hinuntersehen, ich hatte zu viel Angst davor. Ich schwebte. Aber wo? Wo genau war ich? Das war nicht Terra. Aber wo war ich dann? Im Nirgendwo. Zwischen den Räumen. Es gab hier nichts als blaues Licht. So hell. So wunderschön. Fühlte sich so der Tod an? War das das Jenseits?
Nein.
Kann nicht sein.
Ich war nicht tot.
Ich war noch am Leben.
Aber auch nicht so richtig.
Ich war … dazwischen.
Wie viel Zeit war vergangen? Ich wusste es nicht. Es war schwer zu beurteilen. Was war das? Ein Riss? War das der Ausgang? Ja. Das muss er wohl sein. Helles Licht, es blendete. Ich schloss meine Augen, es tat weh. Warum schmerzte dieses Licht so sehr? Es fühlte sich an, als würde ich lebendig verbrennen. Als würde mein Körper direkt in die glühende Sonne katapultiert werden. Unerträglicher Schmerz. Ja, ich war definitiv noch am Leben. Der Schmerz intensivierte sich. Er stieg ins Unermessliche. Dann … war er wieder weg. So, als wäre er nie dagewesen.
Ich öffnete meine Augen wieder. Ich war nicht mehr von blauem Licht umgeben. Ich war wieder woanders. Aber wo? Meine Augen mussten sich fokussieren, alles war so verschwommen. Ich fasste mit mir meiner Hand an den Kopf. Ja, das war mein Körper. Er war noch da. Funktionierte einwandfrei. Ich schaute mich um. Es war ein seltsamer Ort, nichts ergab hier Sinn. Es gab kein Oben und auch kein Unten. Weder Norden noch Süden. Der Himmel, wenn man ihn so nennen kann, bestand aus Farben, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Sie verschmolzen miteinander, verschlangen sich gegenseitig. Vermischten sich, bildeten neue Farben und Formen. Es war, als würde man eine unendliche Amöbe beim Atmen, Fressen und bei der Fortbewegung beobachten.
Ich stand auf einer Art Plattform, wahrscheinlich aus irgendeinem mir unbekannten Gestein, es war ein schwebender Felsbrocken. An ihm waren unmögliche Treppen befestigt, auch sie schwebten. Alles schwebte hier.
Ich ging eine der Treppen hoch, sie waren aus dem selben Material wie die Felsbrocken. Bei meinem Gang nach oben bemerkte ich, wie still es hier doch war. Keine Geräusche. Wobei … das war nicht ganz richtig. Ein Geräusch gab es. Eine Art Pulsieren im Hintergrund. Kam es vom Himmel? Von dieser kosmischen Amöbe? Es beunruhigte mich, ich ging lieber weiter. Die Treppe rauf, runter, zur Seite, wieder nach unten, nach oben, links, rechts.
Nach einiger Zeit kam ich an einem Gebäude an. Es erinnerte mich an ein … Schloss? Eine Kirche? Eine Kathedrale? Ich war mir nicht sicher, was es genau darstellen sollte. Es war schwierig mit dem Auge zu erfassen. Das Material war nicht … fest. Es waberte, blähte sich auf und zog sich wieder zusammen. Als würde es atmen.
Es hatte keine konsistente Architektur. Es war eine verzerrte Parodie der Architektur. Es erinnerte mich nur an ein Schloss, an eine Kirche, eine Kathedrale, da das, dass Bild war, das mein Gehirn versuchte zu rekonstruieren. Es ergab keinen Sinn, dieser ganze Ort ergab keinen Sinn.
Da es keine weiteren Optionen gab, ging ich in das seltsame Gebäude hinein. Von Nahem war das Ding viel größer, als ich dachte. Größer als der Turm des Imperators, größer als jedes von Menschen erdachte Bauwerk. Ich ging durch das offene Tor, ich fühlte mich wie eine Ameise.
Das Innere verwirrte mich nur noch mehr. Räume waren willkürlich angeordnet, die Bauweise hatte etwas Surreales, nicht Geometrisches an sich. Es war fast die Antithesis von geometrischer Bauweise. Kleine Räume, große Räume, Gänge die nirgendwo hinführten. Gänge, die mich versuchten in endlose Abgründe zu locken. Welcher Wahnsinnige hatte dieses Gebäude erschaffen? Und alles war so still, nur das leise Pulsieren im Hintergrund. Es zerrte an meinen Nerven. Ich spazierte durch diese merkwürdigen Hallen, bis mich ein fremdes Geräusch erstarren ließ. Durch die Stille war es unnatürlich laut. Ein schlurfender Gang. Krallen, die am Boden entlangfuhren. Ich versteckte mich hinter einer dieser unmöglichen Säulen. Aus meinem Versteck begutachtete ich die Lage.
Bei allem was uns heilig ist! Ein lebendiges Wesen in dieser Höllenwelt. Wenn auch kein menschliches. Wahrscheinlich war es nicht einmal freundlich gesinnt. Es war eine abstoßende Kreatur. Etwas ähnlich Abscheuliches hatte ich zuletzt vor neun Jahren gesehen.
Schneeweiß, überzogen mit pulsierenden schwarzen Adern. Sinnlos zusammengestückelt. Da wo der Kopf sein sollte, ragte ein dreigliedriger Arm heraus. Der Kopf sprang aus der Brust, ein zweiter wuchs an der linken Schulter. Es ging aufrecht auf drei Beinen, der linke Arm war unnatürlich lang und hing schlaff. Die Kreatur schleifte mit ihm auf den Boden herum. Und Augen, überall Augen. Münder, Nasen, Löcher, wahllos verteilt auf diesem Körper.
Ich spürte nichts als Entsetzen. Ich musste weg von hier. Ich ging in die Hocke und schlich mich davon. Das Ding schien nichts mitzubekommen, es schnaufte nur und schlurfte weiter. Vielleicht war es doch ungefährlich? Ich wollte es nicht so unbedingt herausfinden und ging einfach weiter. Manchmal war mir mein Leben doch lieber als die Befriedigung meiner wissenschaftlichen Neugier.
Ich schlich weiter und erkundete die mysteriöse Gegend. Endlose Hallen reihten sich aneinander, Säulen die bis zum Himmel reichen. Treppen, die nirgendwo hinführten. Türen, die sich nicht öffnen ließen. Türen, die nur die Leere zeigten. Bald kam ich in einer weiteren großen Halle an, doch diese war ein wenig anders. Brennende Kerzen waren überall auf dem Boden verteilt, unzählige Kerzen aus weißem Wachs. Manche hatten die Größe eines kleinen Fingers, andere waren so groß wie Bäume. Ein roter Teppich war ausgerollt worden. Ich folgte ihm eine Weile. Ich musste irgendwann wahrscheinlich in der Mitte des Raumes angekommen sein, da sah ich etwas Erstaunliches.
Wieder eines dieser schneeweißen, von schwarzen Adern überdeckten Wesen. Doch dieses war um ein Vielfaches größer. Wahrlich ein gottgleicher Titan. Es erinnerte entfernt an einen sehr dünnen Humanoiden, es erinnerte mich an … an einige Nichtmenschen, die ich in den Lagern gesehen hatte. Auf Fotos und in der Wirklichkeit. Ihre abgemagerten Körper. Nur noch Haut und Knochen. Kein Fett mehr, kein Fleisch. Nur noch Hüllen, die sich verzweifelt an einen dünnen Faden von Leben klammerten.
Das Wesen sah ähnlich aus. Es schwebte im Schneidesitz einige Meter über dem Boden. Sein Gesicht war minimal, es hatte nur Augen und die waren geschlossen. Es schien auch einen spitzen Hut zu tragen, aber der war wohl auch Teil des Körpers. Die schwarzen Adern wuchsen dort ebenfalls. Seltsame Kreatur.
Ich ging näher heran. Ich fühlte mich so winzig neben diesem Wesen. Was machte es hier? Was war sein Zweck? War es der Anführer all dieser kleineren Monster? Der Vater? Die Mutter? Verehrten diese Abscheulichkeiten diesen Titan als ihren Gott? Eher unwahrscheinlich. Das Ding von vorhin schien ziemlich geistlos zu sein, nicht mehr als ein wildes Tier. Es würde das Konzept einer göttlichen Entität nicht nachvollziehen können. Aber vielleicht waren nicht alle so. Ich habe schließlich nur ein einziges dieser Wesen gesehen. Wer weiß, ob die anderen Kreaturen intelligenter waren.
Ich starrte den Hut an. Er sah aus wie die Feder eines Füllers. Unten rund, dann nach oben spitz verlaufend. Eine Art Kreuz war darauf graviert worden. Die Senkrechte und die Waagerechte schienen gleich lang zu sein, vielleicht war die Erstere auch länger. Von hier unten konnte ich das nicht beurteilen. Ich starrte es weiter an, als plötzlich der waagerechte Balken des Kreuzes anfing sich zu bewegen. Er öffnete sich! Zum Vorschein kam ein Auge mit roter Iris und runder Pupille.
Ich erschrak und wich zurück, damit hatte ich nicht gerechnet. Nun starrte das Auge mich an. Die Pupille verkleinerte sich. Ich war wie eingefroren, konnte mich nicht von der Stelle rühren. Hatte ich es geweckt? War es nun wütend? Zornig?
Der dünne Körper bewegte sich nicht, nur das Auge folgte meine Bewegungen. Eine gefühlte Ewigkeit verstrich, dann begann die Kreatur mit einem Mal zu sprechen! Es war eine kräftige, donnernde Stimme, die durch den gesamten Raum hallte. Sie erinnerte mich an die eines Marktschreiers oder an einen dieser religiösen Fanatiker, die manchmal in der Stadt den drohenden Weltuntergang verkündeten. Das Wesen sprach und alle Kerzen erloschen. Nun war der Raum in ein düsteres Rot getaucht, das Licht kam von dem geöffneten Auge. Es war ein übles Rot, ein böses Rot. Es erinnerte mich an den Stern, diesen hasserfüllten Stern.
»Ein Materieller? Hier? Unmöglich. Vollkommen unmöglich. Und doch, ist er hier. Ein Materieller in meinem Domizil, verteilt seinen Dreck, verpestet die Umgebung. Sprich, Materieller! Was ist dein minderwertiges Anliegen?«
Die Angst fesselte mich, ich wusste nicht was ich sagen sollte. Meine Gedanken flogen wie außer Kontrolle geratene Gummibälle durch meinen Kopf. So viele Fragen.
»Ich … ähm… Ich … Was … Was bist du?«, stammelte ich vor mich hin.
»Der Materielle weiß nicht, wer ich bin?«, das Auge fokussierte sich auf mich, »erbärmliche Kreatur. Ein erbärmlicher Materieller. Bricht in meine heilige Kathedrale ein und fragt mich, wer ich sei. Erbärmlich. Wer ich sei? Spricht man so mit einem Gott? Ich bin Ortholyconar! Immaterieller Gott des Glaubens, der Religion und des Fanatismus! Der Gläubige! Zu mir beten die wahnsinnigen Priester! Zu mir schreien die verzweifelten Opfer, wenn man ihnen das Herz herausreißt! Ich bin der Glaube in dir, die Religion zu der du gehörst. Ich bin der Priester, der von der Kanzel herunter auf die gläubigen Schafe schreit! Ich bin der Anhänger und der Messias! Ohne mich gäbe es keinen Kult, keine Sekten, keine Religion, kein Glauben!«
»Wo … Wo bin ich hier? Was ist das für ein Ort?«
Das Auge brannte vor Zorn und Hass.
»Noch immer spricht dieser Materielle so respektlos mir gegenüber! Dabei weiß er doch nun, dass er einen Gott vor sich hat! Der erbärmliche Materielle befindet sich im Immastellarium! Im Reich der Seelen und der immateriellen Götter! Von hier aus schauen wir auf die widerwärtige materielle Welt! Wir warten auf dem Tag, an den wir die Barrieren endlich durchbrechen und uns auf das Materia stürzen können. Ist dein Wissenshunger gestillt, Materieller? Kann dein niederer Verstand das begreifen?«
»Ich … Ich denke, ich gehe besser. Ich habe Euch lang genug gestört, Eure Exzellenz«, ich verneigte mich und drehte mich um. Ich wollte schleunigst weg von hier. Das war mir eine Nummer zu groß. Götter? Seelenreich? Immastellarium? Nein, damit wollte ich nichts zu tun haben. Ich wollte weg von hier. Weit weg, weg von diesem Gott. Ich wollte ihn nicht noch weiter erzürnen. Wer weiß, wozu er im Stande war.
Ich machte ein paar Schritte, doch weiter kam ich nicht. Eine unsichtbare Macht hielt mich an Ort und Stelle fest. Ich wurde in die Luft gehoben, immer weiter weg vom Boden. Ich befand mich wahrscheinlich hunderte von Metern darüber. Gewaltsam wurde ich umgedreht und musste nun in dieses rote, hasserfüllte Auge blicken. Das Licht blendete mich. Es war so hell, so warm. Kein Vergleich zum kühlen Blau.
»Nicht so schnell, Materieller. Wer sagt, dass er schon gehen darf?«, donnerte der wütende Gott, »ich möchte den Materiellen näher betrachten. Hmm … Ein Mann der Wissenschaft. Kein Mann des Glaubens. Verachtet gar den Glauben. Typisch Materielle! Verstehen nichts außerhalb ihres beschränkten Bewusstseins! Er hat Angst! Fürchtet sich sogar! Das sollte er auch, wenn er vor einen Gott tritt. Ein Diener eines gefallenen Imperiums. Ein Reich, das ewig regieren wollte. Doch seine Existenz dauerte nur einen Wimpernschlag. Ein unbedeutendes materielles Weltreich. Nichts von Bedeutung. Er hat seinen materiellen Freund verloren. Sucht nun nach ihm. Welch vergebliche Mühe. Die Bedürfnisse der Materiellen sind so nichtssagend! Ihr seid nichts! Nichts als Schmutz! Was sehe ich da noch? Walter Daniel Jester. Julius Nickelburn. Resurgentis Carcosa. Viele Namen für einen Materiellen. Und der Materielle hat noch einen weiten Weg vor sich, er muss noch Großes vollbringen. Er wird Diener einer viel größeren Sache werden. Einer Sache, die sein materielles Dasein bei Weitem übertrifft. Interessant! Sehr interessant! Vielleicht ist dieser Materielle doch nicht so erbärmlich. Was rede ich da? Er ist nur eine jämmerliche Schachfigur. Nur ein einzelnes Puzzlestück.«
»Ich … Ich verstehe nicht …«, ich versuchte mich aus dem unsichtbaren Griff zu befreien. Ich wand mich, ich wollte weg von hier. Unbedingt!
»Natürlich versteht es der Materielle nicht. Warum sollte er auch? Er ist schließlich nur ein Materieller. Er kann dieses kosmische Schachspiel nicht nachvollziehen. Das Einzige, was er zu tun hat, ist seine Rolle zu spielen. Und die wird er spielen. Denn es wird geschehen, was geschehen muss. Nichts kann den Verlauf ändern.«
Der Griff lockerte sich und ich fiel. Stürzte wie in Zeitlupe dem Boden entgegen. Ich glaubte, mich schreien zu hören. Ich war mir nicht sicher. Welch grässliches Schicksal. Ich werde aufplatzen wie eine überreife Tomate. Ich machte die Augen zu und hoffte auf das Schlimmste. Doch kurz bevor ich aufschlug, wachte ich in einem weichen Bett auf. Ich riss die Augen auf, mein Körper war nass vor lauter Schweiß.
Ich keuchte. War alles nur ein böser Alptraum gewesen? Welch eine surreale Erfahrung. Ich begutachtet das Zimmer, irgendetwas stimmte nicht. Das war nicht mein Raum. Das war nicht das Schlafzimmer in meinem Haus in Lorgon-City. Es war anders angeordnet, anders dekoriert. Das Bett war auch viel größer. Ich hörte leises Schnarchen. Erschrocken blickte ich zur Seite. Neben mir schlief jemand. Könnte es sein? Nein, nein. Völlig ausgeschlossen. Meine Hand zitterte als ich die Decke wegzog. Ich war fassungslos. Die schulterlangen, braunen Haare. Die große Nase. Das Gesicht. Er war es … Nikolas. Er war es wirklich. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich rüttelte ihn wach.
»Nick. Nick. Nikolas! Wach auf!«
Er knurrte, öffnete aber seine Augen.
»Was ist denn los, Walt? Ist irgendwas passiert? Hast du schlecht geträumt?«, fragte er verschlafen.
»Warum bist du hier? Warum liegst du neben mir? Was ist mit unserem Haus passiert?«
»Häh? Was ist mit dir denn nicht in Ordnung? Warum fragst du mich so was? Ich liege jeden Abend neben dir. Warum sollte ich das nicht tun? Wir sind schließlich verheiratet. Und unser Haus ist doch wie immer, alles ganz normal.«
»Wo … wo wohnen wir?«, mir schwante etwas.
»Was? Regiis, natürlich. Hier wohnen wir seit ungefähr zwölf Jahren«, er richtete sich auf und rieb sich die Augen. Dass ich verwirrt war, war noch eine Untertreibung.
»Regiis? Nicht Lorgon-City?«
»Nein? Warum sollten wir dort wohnen? Du wolltest doch nie nach Lorgon.«
»Aber … der Krieg … das DMT-Imperium … unsere Flucht … das Lager … das Chamber Asylum.«
Nikolas schaute mich völlig entgeistert an.
»Hast du schlecht geträumt oder warum redest du da so ein wirres Zeug zusammen? DMT-Imperium? Hast du in der Schule nicht aufgepasst? Das gab es nie.«
»Wie … Wie kann das sein? Warum?«
»Muss ich dir jetzt wirklich um diese Uhrzeit Geschichte erklären? Floreo Darks konnte gestürzt werden. Die Demokraten … ich glaube, dass war 1023 … hatten ihn und seine Truppen besiegt.«
Ich stand vom Bett auf. Das war alles ein bisschen viel für mich. Zu viel. Mein Kopf schwirrte.
»Das … Das kann nicht sein … Nein … Kein Imperator … Kein Krieg … Ein normales … Leben«, stotterte ich vor mich hin. Ich war nicht mehr fähig auch nur einen korrekten Satz mit meiner Zunge zu formulieren. Ich schwankte. Das war die Welt, die ich mir immer gewünscht habe. Meine perfekte Welt. Kein endloser Krieg. Kein Gehorsam gegenüber einen gesichtslosen Imperator. Kein Fremdenhass. Keine Homophobie. Keine Lager für Andersartige. Keine Portale. Die perfekte Welt, meine Traumwelt. Frieden. Harmonie. Liebe. Alles, was ich je wollte.
»Walt, geht es dir gut? Alles in Ordnung?«, fragte mich mein Liebster.
Ich fiel gegen die Wand, ich war … verwirrt, aber auch zufrieden. Ich war glücklich. Ich war im Himmel. Alles war perfekt. Ich lehnte meinen Kopf zurück und lächelte. Verweile doch, du bist so schön. Ich schaute wieder nach vorn und das Schlafzimmer mit Nikolas waren verschwunden. Stattdessen befand ich mich in einem beinahe leeren Hörsaal. Ein paar Studenten kramten in ihren Taschen oder tratschten miteinander. Ich stand vorne am Schreibtisch des Dozenten. Über der grünen Tafel hing ein Gemälde des Imperators, daneben die Flagge des Imperiums. Schwarzer Hintergrund, DMT in großen, roten Buchstaben und darüber das silberne Gesicht eines Bären. Ich war wieder an der Floreo-Darks-Universität, ich war wieder ein Student.
»Wa… Was … «
»Hören Sie mir überhaupt zu, Herr Jester?«
Ich erkannte diese raue Stimme sofort. Es war mein Dozent für Moderne Medizin, Professor Henry-Paul Barton. Er war damals schon alt, über sechzig. Ein leicht übergewichtiger Kerl mit nach hinten gekämmten grauen Haaren und einem kantigen, bartlosen Gesicht. Eine Hornbrille mit dicken Gläsern wackelte auf seiner Nase. Er konnte mich nicht ausstehen und ich konnte ihn nicht ausstehen. Ich hielt ihn für kleinkariert und überheblich. Dieser Mann hatte doch keine Ahnung von Forschung!
»Entschuldigen Sie, Herr Professor. Ich habe Sie nicht verstanden.«
»Wiedereinmal typisch für Sie, Jester!«, keifte er, »Sie hören mir nie zu! Was soll bloß aus Ihnen mal werden? Unser Reich brauch keine Trantüten wie Sie. Mit solch einem Verhalten werden Sie es zu gar nichts bringen. Aber was soll‘s, ich rede mich hier nur wieder in Rage. Was ich Ihnen gesagt habe, war, dass ich Ihnen keine Leichen zur Verfügung stelle.«
Ach ja, das war der Grund für den Streit. Ich erinnerte mich wieder. Meine Experimente, für die ich eine Erlaubnis brauchte, um sie durchzuführen. Schon damals war ich von dieser Idee, die Toten wiederzubeleben, fasziniert. Ich wollte sie unbedingt realisieren. Wie naiv ich doch früher war.
»Wieso? Warum bekomme ich keine?«, fragte ich wütend, obwohl ich die Antwort bereits wusste.
»Warum? Das fragen Sie mich noch? Als ob ich hier Ihre perversen Experimente erlaube! Für wen halten Sie mich denn? Ich müsste verrückt sein, Ihnen das zu erlauben.«
»Herr Professor, ich darf doch bitten. Mit meinen Forschungen könnte ich dem Imperium große Dienste erweisen. Es könnte die Art, wie wir Krieg führen, völlig revolutionieren. Stellen Sie sich doch nur mal die Möglichkeiten vor …«
Moment … Warum sagte ich das? Warum war ich überhaupt hier? Ich war doch gerade noch wo anders. Und jetzt war ich hier. Ich war gerade eben noch in dieser perfekten Welt und jetzt war ich wieder in meiner Studentenzeit. Was passierte hier? In was für einem Alptraum war ich hier gefangen?
»Ich möchte mir das ehrlich gesagt nicht vorstellen«, fuhr Barton fort, »Tote zum Leben erwecken … Sie haben sie doch nicht mehr alle. Was für eine wahnwitzige Idee! Nicht einmal Dr. Toxin würde solche Experimente durchführen und beim Imperator! Für den ist Forschungsethik ein Fremdwort! Und selbst wenn ich es erlaube, es würde definitiv gegen eine unserer Grundsäulen verstoßen, wahrscheinlich Einheit oder Ordnung. Vielleicht sogar beide. Ach, was rede ich da von vielleicht? Ganz bestimmt! Und das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist dass der Geheimdienst … oder noch schlimmer … einer dieser Inquisitoren an meiner Haustür klopft! Dann bin ich nicht nur meinen Titel los, sondern lande auch noch im Lager … wenn der Inquisitor mich nicht sofort hinrichtet. Wollen Sie das? Ich kann das einfach nicht riskieren!«
»Aber Herr Professor, was ist mit der vierten Säule? Fortschritt? … Das müsste …«
»Das müsste was, Herr Jester? Herr Jester? Geht es Ihnen gut? Sie sehen so blass aus?«
Ich hatte genug, ich hatte dieses Gespräch doch schon mal geführt. Ich weiß, wie es ausging. Also, warum redete ich noch darüber? Mich hatte wohl der Ehrgeiz gepackt und der alte Hass gegen meinen sturen Uni-Professor. Ich hatte die Situation aus den Augen verloren. Wie war ich hier bloß hergekommen?
»Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Mir ist bewusst, dass diese Idee wahnsinnig ist. Das musste ich selber erfahren. Meine naiven Vorstellungen haben so viele Menschen das Leben gekostet. Und jetzt habe ich nicht nur Nikolas verloren, sondern bin auch noch in der Vergangenheit gelandet.«
Barton schaute mich verwirrt an, mit leichter Fassungslosigkeit sagte er: »Was? Wovon reden Sie? Haben Sie gerade einen Schlaganfall? Haben Sie eine Hirnblutung?«
»Seien Sie doch still, Sie kleinkarierter Möchtegernintellektueller! Sie haben mich nie Ernst genommen! Sie haben mich nie unterstützt! Selbst als ich Doktor wurde! Selbst da haben Sie nur die Nase gerümpft! Doch wissen Sie was, Professor Barton? Dieses Imperium ist dem Untergang geweiht! Es wird untergehen! Der Imperator wird sterben! Die Säulen werden zerbrechen!«
Es fühlte sich so gut an, ihm endlich mal die Meinung zu sagen. Er schaute mich mit entsetztem Gesicht an, die Augen hatten die Größe von Medizinbällen.
»Sind … Sind Sie … Sind Sie eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Wissen Sie, was Sie da eigentlich gerade gesagt haben? Wenn uns der Geheimdienst gehört hat …«, er schaute sich ängstlich um und begann dann in einem leisen Flüsterton weiterzusprechen, »… Sie bringen mich noch ins Lager. Was soll dieser Anflug von Wahnsinn? Warum reden Sie solch wirres Zeugs?«
»Das ist kein wirres Zeug! Ich bin in der Vergangenheit! Ich habe, dass alles schon mal erlebt! Das ist nicht meine Welt!«
Ich ging, ich konnte nicht mehr. Erst die Begegnung mit diesem Gott, dann die perfekte Welt und jetzt die Vergangenheit. Was passierte hier nur? Ich war durch das Portal getreten und nun … Ich musste weg von hier. Ich sprintete davon, weg von meinem verwirrten Professor. Ich war bei der Tür angekommen, ich wollte raus aus dem Hörsaal. Ich wollte einfach nur weg. Ich öffnete sie und ging hindurch.
Da war ein Leuchtturm. Ein grauer See. Ein dichter Nebel verdeckte nahezu die ganze Umgebung. Ich drehte mich um, der Hörsaal war nicht mehr da. Da waren nur Wald und Landschaft. Ich schaute an mir hinunter. Ich trug eine altmodische Herrenjacke, eine karierte Anzughose und feine Schuhe. Auf meinem Kopf trug ich einen Zylinder. Ich trug Kleidung, die schon seit über einhundert Jahren als veraltet galt.
Ich glaubte, ich wurde langsam wahnsinnig. Das konnte alles nicht echt sein. Unmöglich. Ich war im Hörsaal und jetzt im Wald. Nein, nichts davon konnte echt sein. Wo war ich nur? Ich schaute mich verzweifelt um, war denn keine einzige Seele hier? Doch, da war jemand, am See. Eine kleine, abgemagerte Gestalt kauerte am Boden. Ein Kind? Ich ging zu ihm hin.
»Hey, hey du!«, sagte ich.
Das kleine Ding drehte sich erschrocken zu mir um. Auch ich erschrak. Es war ein Kind, doch es trug eine seltsame, filzige Maske, die wahrscheinlich eine Ratte darstellen sollte. Große, schwarze Glasaugen starrten mich an. Mir wurde sehr ungemütlich dabei. Das Kind stank auch fürchterlich und war halbnackt. Nur eine alte, zerrissene Hose trug es. Sonst nichts. Es hatten einen abgemagerten Körper, die Rippen waren deutlich zu sehen. Die Arme waren so dünn wie die Äste eines verrottenden Baumes. Sehr bemitleidenswert. Und irgendwie auch ekelhaft. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie mit Kindern zu tun gehabt, wie spricht man mit denen?
»Ganz … ruhig. Ich möchte dir nichts tun. Ich möchte dir nur ein paar Fragen stellen.«
Das Kind zuckte zusammen, als es meine Stimme vernahm. Es hatte Angst. Ich konnte das sehr gut nachvollziehen. Ich hatte auch ziemlich große Angst. Ich kniete mich hin, damit ich nicht mehr so riesig erschien. Hätte ich doch nur ein paar Süßigkeiten dabei gehabt … oder überhaupt irgendetwas zu essen. Das hätte die Sache wesentlich leichter gemacht. Ich versuchte mit meiner sanftesten Stimme zu reden: »Keine Sorge, Kleiner. Ich möchte dir wirklich nichts tun. Weißt du, ich hab mich verlaufen und würde sehr gerne wissen, wo ich bin. Kannst du mir helfen, bitte?«
Das schien eine Wirkung zu erzielen. Das Kind hielt seinen Kopf schief und schaute mich an. Seine Haltung wirkte weniger versteift und ängstlich. Es schien sich zu öffnen.
»Sie sind … im Steelwood, Sir«, die Stimme klang schwach und durch die Maske gedämpft. Ich konnte auch nicht wirklich sagen, welches Geschlecht das Kind nun hatte. Es war schwer zu identifizieren.
»Steelwood …«, sagte ich zu mir selbst. Von solch einem Ort hatte ich noch nie gehört. Vielleicht irgendein Wald in irgendeiner Provinzgegend von Georgezop. Klang jedenfalls danach.
»Und sag mir, Kleiner … Welches Jahr haben wir?«
Das Kind schien zu überlegen, hatte wohl Schwierigkeiten mit der Frage.
»Das Jahr unseres Herrn, kann ich Ihnen nicht sagen, Sir. Das weiß ich wirklich nicht. Aber Vater spricht immer von der dicken Queen Victoria, er schimpft über sie und fragt, wann sie endlich vom Thron runter fällt.«
Den Namen höre ich zum ersten Mal. Queen Victoria? Da klingelte bei mir nichts. Ich konnte mich auch nicht an eine Königin erinnern, die jemals auf irgendeinem Thron saß. Ich musste aber auch zugeben, dass mein Wissen über geschichtliche Verläufe und Ereignisse mehr als nur löchrig war. Konnte gut sein, dass ich mich einfach nicht an diese adlige Dame erinnere. Anscheinend war ich also wieder in der Vergangenheit gelandet, sogar noch weiter zurück als beim vorherigen Mal. Das machte die Sache nicht wirklich besser, gab mir aber zumindest einen Anhaltspunkt. Wahrscheinlich befand ich mich einige Jahrzehnte vor der Gründung des DMT-Imperiums. Ich schätze mal so zwischen 930 und 980 n.d.T.
»Mein Kleiner, über welches Land herrscht die Queen Victoria?«, fragte ich neugierig.
»Na, über Großbritannien natürlich! Das große Vereinigte Königreich!«, es begann freudig umherzuspringen und dabei ein mir unbekanntes Lied zu singen: »Rule, Britannia! Rule the waves: Britons never will be slaves!«
Ich stutzte.
»Groß…britannien? So ein Land kenne ich gar nicht, mein Kleiner. Meinst du nicht eher … Georgezop?« Aber das konnte auch nicht sein. Dazu passte das komische Lied nicht. Ich hatte diesen Song noch nie in meinem Leben gehört. Britannia … was sollte das sein? Und welches Vereinigte Königreich meinte das Kind? So etwas gab es nicht.
»Welcher George hat einen Zopf, Sir?«, fragte es mich völlig verwundert.
»Schon gut. Ist nicht so wichtig«, erwiderte ich.
Ich stand auf, mein Knie tat mir langsam weh. Jetzt war ich wieder bei Null. Ich war nicht in der Vergangenheit, ich war … in der Zukunft? Nein, red nicht solch einen Schwachsinn. Was soll das für eine Zukunft sein, wo man Mode aus dem letzten Jahrhundert wieder hervorkramt? Nein, ich war ganz woanders. Und das machte mir Angst. Ich begann leicht zu schwitzen. Das Rattenkind schaute mich mit seinen leblosen Augen an. Das war echt unangenehm.
»Sag mal, mein Kind. Warum trägst du eigentlich so eine lustige Maske? Verkleidest du dich gerne?«
Das verwahrloste Kind fasste sich an den Kopf, als ob es jetzt erst realisierte, dass es etwas auf dem Kopf trug.
»Die hier? Die trage ich, weil …«, weiter kam es nicht. Es hörte einfach mitten im Satz auf zu sprechen. Es schien zu lauschen. Ich lauschte auch und hörte etwas. Musik? Leise Musik. Orgelmusik. Ein seltsames Lied, noch seltsamer als der Gesang des Kindes. Ich konnte keine genaue Struktur erkennen oder eine Form von Rhythmus. So etwas hatte ich noch nie in meinen Leben gehört. Sie unterschied sich selbst von dem himmlischen Klang aus meinen Träumen drastisch. Die Geräusche schienen vom Leuchtturm zu kommen. Nein, nicht vom. Unterhalb! Von unterhalb des Turmes. Das Kind starrte auf das Bauwerk, es war wie im Bann. Auf einmal bewegte es sich, sprang in den See und schwamm rüber zu der kleinen Insel. Ich konnte es nicht mehr aufhalten, es war zu schnell. Ehe ich mich versah, war es bereits im Inneren des Leuchtturms verschwunden.
»Was zur Hölle passiert hier?«, fragte ich mich selbst.
Ich glaube, ich hatte genug gesehen. Ich rannte in den Wald. Die Musik spielte weiter. Mir kamen mehr und mehr Rattenkinder entgegen. Sie alle schienen zum Turm zu laufen. Es zog sie an wie das Licht die Motten. Dutzende, aberdutzende von Kindern. Alle von unterschiedlicher Größe. Sie schienen zwischen fünf und dreizehn Jahre alt zu sein. Und sie alle rannten, rannten zum Turm. Sie waren in einem Bann gefangen.
Ich bewegte mich in die entgegengesetzte Richtung, ich wollte damit nichts zu tun haben. Ich wollte einfach nur noch nach Hause. Ich rannte, Äste schlugen mir ins Gesicht. Ich verlor meinen Zylinder, meine Kleidung bekam Risse. Ich keuchte, meine Lunge brannte. Doch ich rannte weiter, ignorierte die Warnsignale meines Körper. Doch da vorne war schon der Lichtblick! Der Wald war zu Ende, ich hatte es fast geschafft. Ich sammelte noch einmal alle meine Kräfte und machte einen letzten Sprint. Und … geschafft! Ich war draußen! Ich drehte mich siegessicher um … der Wald war nicht mehr da. Stattdessen: eine riesige Metropole. Gigantische Gebäude, die bis zum Himmel reichten. Dazwischen alte Häuser. Seltsame Autos standen auf den breiten Straßen, sie brannten. Überall herrschte Chaos. Ich war wohl mitten in einem Tumult geraten.
Menschen prügelten aufeinander ein. Alle waren in graue und schwarze Klamotten gekleidet. Viele trugen Clowns- und Froschmasken. Sie schlugen mit Holzknüppeln und Eisenstangen auf schwarzgekleidete Individuen ein. Diese hatten Armbinden mit einem mir unbekannten Symbol darauf. Zwei sich überlappende Fahnen, eine rote und eine schwarze. Ich drehte mich um und sah Plakate, Schilder und Transparente. NukeMankind mit einem Gitter davor, No Nuclear Holocaust, Stomp Fascism, Destroy the World!, Blast them!, William Joker for President 2020, Kill the Rocketman!, Make Love not Nuclear War. Bei vielen Wörtern wusste ich nicht, was sie zu bedeuten haben. Es verwirrte mich nur noch mehr. Ich war wohl mitten in einen politischen Kampf hineingeraten.
Am Ende der Straße stand ein großes, weißes Gebäude mit einer enormen Kuppel. Auch dieses riesige Bauwerk stand in Flammen. Davor befanden sich unzählige Flaggen eines mir nicht bekannten Landes. Rot-weiße Streifen, ein blaues Rechteck mit vielen Sternen. Dazwischen immer wieder eine weitere Flagge, grün mit einem weißem Kreis. Im Inneren befand sich ein … Pilz? Eine riesige Explosionswolke? Ich konnte es nicht genau sagen. Mein Kopf schwirrte wieder, ich hatte so unerträgliche Kopfschmerzen.
»Was ist hier nur los?«, schrie ich verzweifelt.
Niemand beachtete mich, sie alle waren in ihre Kämpfe vertieft. Fäuste, Knüppel und Stangen flogen. Blut spritze. Zähne fielen aus Mündern heraus. Ich hörte Knochen knacken und Getroffene vor Schmerzen aufheulen. Nirgendwo waren Anti-Aufstandspolizisten zu sehen. Ich fühlte mich, als wäre ich mitten in einem Bürgerkrieg gelandet. Laute Knallgeräusche. Gewehrschüsse? Bomben?
Ich schnappte mir eines der Froschgesichter, ich hielt es krampfhaft am Arm fest.
»Du! Sag mir, wo bin ich hier?«, schrie ich es an.
Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber es schien die Situation sehr unangenehm zu finden.
»Ey, Mann! Warum grapscht du mich so an? Lass das, Alter!«
Ich fasste ihn noch härter an. Er heulte auf. Ich wollte Antworten.
»Hör mir zu, Froschgesicht. Wo bin ich hier?«
»Was ist denn mit dir nicht in Ordnung? Bist du bekifft? Wir sind hier in Washington! Au! Du tust mir weh, Alter. Hör auf!«
Washington? Schon wieder so ein Ort von dem ich noch nie gehört hatte.
»Wo liegt dieses Washington? Welches Jahr haben wir? Was ist hier los?«, schrie ich.
»Alter, du hast dir doch sicher was eingeworfen. Bestimmt LSD oder so was. Das Zeug haut richtig rein. Sieht man ja bei dir. Scheinst ja keinen Plan zu haben. Washington ist die Hauptstadt von Amerika, du Penner. Solltest du doch eigentlich wissen oder bist du so eine liberale Schwuchtel, die nicht mal das weiß? Und wir haben 2020, das beste Jahr aller Zeiten! Wuhuuu!«
Das … das ergab doch alles gar keinen Sinn. Amerika? 2020? Wo war ich hier nur? Alles war so seltsam, ich war so verwirrt. Mein Verstand wollte nicht akzeptieren, was hier vor sich ging.
»Und was zur Hölle ist hier los? Warum ist hier so ein Chaos?«, ich wollte mehr wissen.
»Gott, Alter! Du bist ja völlig weg von Fenster. Kriegst nichts mehr mit, oder? Es ist 2020 und William Joker ist Präsident! Haste noch nicht gehört? Das Internet brennt gerade! Hashtag NukeMankind trendet auf allen Plattformen! Hätt nie gedacht, dass dieser Troll-Champion es schafft. Und jetzt wird er uns alle in den nuklearen Winter bomben! Das ist doch ein Grund zu feiern. Weltuntergang, Mann! So was erlebt man nur einmal im Leben. Aber die Antifanten, diese Dreckswichser, wollen uns die Feierstimmung vermiesen. Da gibt‘s halt ein paar aufs Maul. Verstehste? Alles geht den Bach runter, aber Amerika wird aus der Asche emporsteigen wie ein Phönix. Aber erst mal muss der ganze Ballast entsorgt werden!«
Ich stieß ihn von mir weg. Kein einziges seiner Worte ergab Sinn für mich. Das waren alles Fremdwörter. Unbekannte Begriffe. Mein Kopf schwirrte und schmerzte so sehr. Es fühlte sich an, als hätte man mir ein Piano über den Kopf gehauen. Es knallte heftig. Ich drehte mich zur Seite. Ein Feuerball. Eines der seltsam geformten Autos war wohl explodiert. Das Froschgesicht nutzte die Gelegenheit und rannte davon. Ich stand allein da. Um mich herum Schreie und Explosionen.
Alles war so laut. Ich hielt mir die Ohren zu und schloss die Augen. Ich wollte nicht mehr, ich konnte einfach nicht mehr. Ich wollte wieder nach Hause! Wann ist dieser furchtbare Alptraum zu Ende? Wann ist es vorbei? Ich holte tief Luft und zählte bis Zehn.
Eins …
Zwei …
Drei …
Vier …
Fünf …
Sechs …
Sieben …
Acht …
Neun …
Zehn …
Ich atmete aus und öffnete die Augen. Washington und der Bürgerkrieg waren verschwunden. Stattdessen saß ich in einem dunklen Raum, die Wände schienen aus Gummi zu bestehen. Ich konnte meine Arme nicht bewegen. Was sollte das? Ich schaute runter. So wie es aussah, trug ich eine Zwangsjacke. Ich atmete schwer, versuchte mich zu befreien. Doch es war vergeblich, alles fest. Wo war ich hier? Warum war ich eingesperrt? War das irgendein kranker Scherz?
Nein. Nein, nein, nein, nein. Nein!
Befreit mich! Lasst mich hier raus! Lasst mich gehen!
Ich schmiss mich auf den Boden, wälzte und wand mich.
»Lasst mich raus! Befreit mich aus dieser verdammten Zwangsjacke! Was soll das? Warum tut ihr mir das an? Warum? Warum?«, schrie ich lautstark.
Sofort öffnete sich die Sicherheitstür, Licht flutete den dunklen Raum. Es tat in den Augen weh. Ich sah zwei Schatten in der Tür stehen. Sie kamen näher. Zwei Herren, gekleidet in weiße Kittel. Ärzte. Sie schnappten meine Arme und legten mich wieder aufrecht an die Wand. Ich sah in ihre Gesichter.
Das konnte nicht sein, das konnte einfach nicht sein. Der Alptraum nahm kein Ende.
»Keenast! Nikolas! Ihr seid es! Aber das ist doch völlig unmöglich! Das ist unmöglich! Das kann nicht sein!«, ich verlor fast die Nerven. Ich schrie die beiden an, doch das schien sie nicht zu kümmern.
Ich wandte mich an Nick: »Es ist so schön dich wiederzusehen. Du glaubst gar nicht, was ich alles durchmachen musste. Ich war an so vielen Orten. Das würde mir niemand glauben, wenn ich es erzähle! Ich war in Amerika! Und in Großbritannien! Und in einer perfekten Welt! Und ich traf einen Gott! Es war Wahnsinn! Purer Wahnsinn! Aber sag doch, mein alter Freund, warum bin ich hier eingesperrt? Warum die Zwangsjacke? Warum darf Keenast frei rumlaufen? Er sollte doch in seiner Zelle hocken! Was ist hier nur los?«
Doch Nick reagierte nicht auf meine Worte, er ignorierte alles was ich sagte. Er schaute mir nicht mal in die Augen. Er sah Keenast an und sagte: »Sein Zustand scheint sich verschlechtert zu haben. So ein komisches Zeug hat er gestern noch nicht von sich gegeben. Das beunruhigt mich doch sehr.«
»Da stimme ich dir zu. Seine Wahnvorstellungen haben ein ungeheures Ausmaß angenommen. Das beunruhigt mich auch sehr.«
Ich schaute ihn entgeistert an.
»Für wen hältst du dich eigentlich, du drittklassiger Möchtegerninquisitor? Ich und Wahnvorstellungen? Das ich nicht lache! Du hast die Wahnvorstellungen! Du bist krank! Du beschissener Magier! Warum hast du mich in diese Zwangsjacke gesteckt? Warum werde ich hier eingesperrt? Warum?«, ich war so wütend. Ich schrie ihn an, ich spuckte und tobte. Doch nichts beunruhigte sie. Ihre starren Gesichter blieben starr.
Nick sagte zu Keenast: »Schon witzig. Er hält dich für einen Magier und Inquisitor. Sein Gesundheitszustand scheint sich wirklich drastisch verschlechtert zu haben. Wirklich schade. Ich dachte, wir wären auf dem richtigen Weg. Nun sind wir wieder bei Null. Schade, sehr schade.«
Keenast kniete sich vor mir hin, sein Gesicht versuchte Mitleid zu zeigen, doch es gelang ihm nicht richtig. Er tätschelte mein Knie.
»Bleiben Sie ruhig, Herr Jester. Alles wird wieder gut. Sie sind nur gerade ein wenig verwirrt. Das geht wieder vorbei.«
»Ich bin nicht verwirrt! Du bist es! Nick, Nick! Warum lässt du das zu? Warum hilfst du mir nicht? Ich brauche dich! Hilf mir doch!«, flehte ich meinen Freund an. Doch es half nicht.
»Herr Jester, Sie sind gerade in einem Zustand geistiger Verwirrung«, erklärte mir Keenast in einem sanften Ton, »Sie sind sehr krank. Die Zwangsjacke dient zu Ihrer und selbstverständlich unserer Sicherheit. Das können Sie doch nachvollziehen, oder? Und ich bin nicht verwirrt und geisteskrank, ich bin bloß Ihr Doktor. Und ich möchte Ihnen helfen. Sie scheinen eine Sache vergessen zu haben. Sie sind der ehemalige Inquisitor. Nicht ich. Sie leiden an einer schweren Posttraumatischen Belastbarkeitsstörung. Sie haben ein schweres Kriegstrauma erlitten. Zusätzlich noch irrationale Gewaltausbrüche und Phasen tiefer Depression. Verstehen Sie? Erinnern Sie sich wieder?«
»Das ist nicht wahr! Du lügst! Ihr alle lügt! Ich sollte gar nicht hier sein! Ich sollte ganz woanders sein! Aber nicht hier! Alles Lügen!«
Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich konnte es auch nicht glauben. Aber langsam … ganz langsam, machte es bei mir Klick im Kopf. Ich war wieder in einer ganz anderen Realität gelandet, einer wo Keenast und ich quasi die Rollen getauscht haben. Er war der Doktor und Psychiater, ich der geisteskranke Inquisitor. Welch eine seltsame Welt. Was hier wohl noch alles anders war. Das werde ich wahrscheinlich nie erfahren. Ich war hier gefangen. Hoffentlich nicht für immer. Das könnte ich nicht ertragen. Für immer hier gefangenen zu sein! Welch ein grausiger Gedanke! Nein. Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte einfach nur wieder zurück. Zurück!
Ich begann meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, immer und immer wieder. Dabei intensivierte ich die Aufschläge nach und nach. Ich gab gurgelnde, knurrende Geräusche von mir. Fing an zu bellen. Mein Kopf begann zu schmerzen. Kopfschmerzen. Die hatte ich momentan die ganze Zeit. Mir war es egal. Alles sollte nur aufhören!
Ich glaube, ich verlor langsam meinen Verstand.
Ich knurrte, gurgelte und sabberte weiter. Meine Augen drehten sich nach oben.
»Nick? Hol schnell ein paar Beruhigungsspritzen«, hörte ich Keenast sagen. Ich hörte die Sorge in seiner Stimme. Die konnte er sich sparen! Die konnte er sich sonst wo hin stecken! Und wehe jemand spritzt mir irgendetwas! Ich beiße dem die Finger ab!
Nick verließ den Raum, Keenast versuchte mich zu tätscheln.
»Ganz ruhig. Bleiben Sie ganz ruhig. Wir helfen Ihnen. Bleiben Sie ruhig.«
Spar dir das du Missgeburt! Spar dir deine dreckigen Worte!
Fass mich nicht an!
Fass mich bloß nicht an!
Wage es nicht! Ich ertrag einfach nichts mehr! Ich habe genug! Genug! Genug, sage ich! Fass mich mit deinen dreckigen Pfoten nicht an! Geh weg von mir! Verschwinde einfach! Hau ab!
Keenast wurde auf einmal mit voller Wucht gegen die Wand geschleudert. Ich hörte etwas knacken. Hab ich das gerade gemacht?
Nick kam wieder zurück, er hatte eine Spritze in der Hand. Er sah, dass Keenast bewusstlos … war er tot? … am Boden lag. Nick sah bestürzt aus. Er schaute mich an, voller Abscheu und Angst. Wie es doch mein Herz zerbrach! Das wollte ich nicht!
Er kam näher, die Spritze war bereit.
»Nein, bitte! Bitte nicht! Geh weg! Geh weg! Ich will dir nichts tun! Ich will einfach nur weg von hier! Weg! Weg! Weg! Einfach weg! Verschwinde! Komm mir nicht zu nah! Bloß weg von mir!«
Ich schrie und flehte, doch Nick war sich sicher. Er wollte mich ausschalten. Das war nicht mein Nick, das war ein anderer. Ein Keenast-Nick. Für ihn war ich nur der Irre, nicht der langjährige Freund und heimlicher Liebhaber. Er kannte mich nicht. Er wollte mich nicht kennen. Ich war bloß Arbeit für ihn. Lästige Arbeit. Ich war Teil seines Berufs. Nein, das war nicht mein Nick. Das war ein fremder Nick.
Kurz bevor mich die Spritze erreichte, bemerkte ich, wie ich nach hinten fiel. Die Wand hatte sich aufgelöst. Ich fiel, ich fiel in die schwarze Leere.
Ich sah noch den verwirrten Gesichtsausdruck von Keenast-Nick, bevor auch er aus meinem Blickfeld verschwand.
Alles war so dunkel.
Wo war ich?
Wer war ich?
Mit einem gewaltigen Krachen landete ich wieder auf dem harten Boden der Tatsachen. Mein Rücken schmerzte. Ich schaute mich um. Ein edler, roter Teppich. Überall lagen Bücher verstreut, ich war auf ein Bücherregal gefallen und hatte einiges vom Inhalt verteilt. Ich schnappte mir eines und las den Titel: Alte Legenden. Interessant. Worum es dabei wohl ging?
»Hm, Sie sind früher da als gedacht. Ich hatte noch gar nicht mit Ihnen gerechnet«, ertönte es plötzlich neben mir.
Ich drehte mich erschrocken um. Einige Meter von mir entfernt saß ein … Mann? Er saß an einem antik wirkenden Schreibtisch, darauf befanden sich eine Schreibmaschine, ein schwarzer Zylinder und eine einfache Lampe. Der Mann selber trug eine braune Weste, eine rote Krawatte, ein weißes Hemd und schwarze Handschuhe. Doch das Besondere an dem Herrn war sein Gesicht, es war nämlich hinter einer Krähenmaske versteckt. Runde, leer wirkende Augen starrten auf eine silberne Taschenuhr. Er klappte sie wieder zu und sah mich an.
»Hatten Sie denn eine gute Reise? Es muss bestimmt sehr aufregend gewesen sein. Sie haben sicher eine Menge Fragen. Viele Fragen. Vielleicht kann ich Ihnen ein paar davon beantworten«, sagte er mit einer sehr höflich klingenden Stimme, »Aber bevor wir das machen … Sind Sie durstig? Sie sind doch sicher ganz vertrocknet. Wie wäre es mit einer heißen Tasse Kamillentee?«, plötzlich hatte er eine Tasse Tee und einen Untersatz in der Hand. Natürlich war es feines Silberporzellan. Das Getränk dampfte, es roch herrlich.
»Nein … danke. Ich bin nicht so durstig. Aber danke für das Angebot«, entgegnete ich freundlich. Ich wollte ihn nicht beleidigen. Schließlich war ich in sein Domizil eingefallen und hatte ein ziemliches Chaos angerichtet, da sollte man sich höflich gegenüber dem Hausherrn benehmen.
Dieser ließ sich nichts anmerken und zuckte nur mit den Schultern.
»Wie Sie meinen«, sagte er und das Geschirr verschwand wieder.
»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte ich einfach unverblümt.
Er lehnte sich zurück und antwortete: »Junger Herr, ich trage viele Namen. Joseph, Roland, Krähenmann, der Schriftsteller, Schreiberling, Vollstrecker, Weiser, Minister … ich selber bezeichne mich als … der Chronist.«
Der Chronist? Bedeutete das etwa … ? Ich schaute meine Umgebung genauer an. Die Bücherregale ragten bis zum Himmel, unzählige Bücher, unzählige Reihen von ihnen. Millionen, Milliarden, vielleicht sogar Billionen.
»Befinde ich mich hier in der Bibliothek des Chronisten?«
Der Krähenmann nickte: »Wohl wahr. Das ist … man kann es wohl mein Zuhause nennen. Meine bescheidene Bibliothek. Hier findet man alles. Jedes Buch, das geschrieben wurde, geschrieben wird und niemals geschrieben würde. Nennen Sie mir einen Titel und ich kann Ihnen versichern, dass er sich hier befindet. Sie sollten mich aber vorher fragen und nicht alleine losgehen. Man kann sich hier sehr leicht verirren und schon so mancher ist wahnsinnig geworden bei der Suche nach einem bestimmten Buch. Warum setzen Sie sich nicht und wir plaudern ein wenig miteinander?«
Ein bequemer Stuhl materialisierte sich vor dem Schreibtisch. Ich nahm den Sitz dankend an.
»Die Bibliothek …«, das erinnerte mich an etwas, »War denn schon mal ein gewisser Maehigor hier?«, fragte ich neugierig.
Der Chronist überlegte. Nach einiger Zeit sagte er: »Maehigor … Hmm … Kann sein, weiß ich nicht mehr. Hier waren schon so einige Besucher. Ich versuche zwar sie mir zu merken. Aber an einen Maehigor kann ich mich nicht erinnern«, er schüttelte seinen Krähenkopf.
»Schade«, antwortete ich.
»Nun denn, möchten Sie mir von ihren Erlebnissen erzählen?«, die Tasse und der Teller erschienen wieder in seiner Hand. Er tauchte den Schnabel seiner Maske in das dampfende Getränke und machte ein schlürfendes Geräusch. Merkwürdig.
»Wollen wir dann, Walter Daniel Jester oder sollte ich lieber Julius Nickelburn sagen?«
Ich war ehrlicherweise erstaunt.
»Woher … Woher wissen Sie meine Namen?«
Der Krähenmann lehnte sich entspannt zurück.
»Oh, ich weiß viele Dinge. Sehr viele Dinge. Ich kann die großen Buchstaben lesen, sie flüstern mir allerhand Informationen zu.«
»Ich verstehe nicht so ganz …«
Er schüttelte seinen Kopf und sagte: »Nicht so wichtig, fangen wir lieber an und reden nicht weiter um den heißen Brei herum.«
»Zuerst war ich an diesem seltsamen Ort, dort schien es keine Naturgesetze zu geben. Dort war ein Gott, an den Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Er war riesig, weiß, mit schwarzen Adern. Er hat was von Immastellarium geredet …«
»Ahh, das Jenseits. Das Reich der Seelen. Das Zuhause der Götter des Immastellariums. Arrogante, überhebliche Biester. So hasserfüllt. Halten sich für die mächtigsten Gestalten des Kosmos. Doch was ist schon ein Gott? Nichts weiter als ein gesprochenes Wort oder Buchstaben auf einem Stück Papier. Götter sind nicht mächtiger als die Buchstaben, als der endlose Text. Aber ich schweife ab, fahren Sie fort.«
»Nun gut … ich war danach in einer, zumindest für mich, perfekten Welt. Eine Welt ohne DMT-Imperium, eine Welt … wo ich mit meinem Freund zusammen war. Ich war glücklich. Danach befand ich mich auf einmal in der Vergangenheit. Ich sah meinen alten Professor, den Hörsaal. Das war schon sehr merkwürdig«, schilderte ich meine Erlebnisse.
»Interessant, sehr interessant«, sagte der Chronist nur.
»Dann war ich in einem Wald in … Groß… Britannien? Wenn ich mich richtig erinnere. Ich traf dort ein Kind mit einer räudigen Rattenmaske und seltsame Musik begann im Hintergrund zu spielen. Und eh ich mich versah, befand ich mich mitten in einer Art Bürgerkrieg. Ich glaube, das war in Waschenten … nein, nein.Washington. Washington hieß es. So lautete der Name. Da kämpften Frösche und Clowns gegen Typen in schwarz. Es war eine unübersichtliche Situation. Explosionen, Schreie, Kämpfe.«
»Ahh ja, Amerika. Schöne Zeit. Ich war gerne dort. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Was haben Sie denn noch so erlebt?«
»Ich landete in einer Psychiatrie. Ich war dort der Insasse. Es war furchtbar, die Rollen vertauscht. Nun war ich der Geisteskranke. Ich war der Gefangene, der Patient. Und mein Patient war nun der Gesunde, der Doktor. Welch eine absurde Situation«, ich schaute in die Ferne. Meine Gedanken schweiften ab. Was war das doch für eine surreale Reise. Ich konnte es noch immer nicht begreifen. Aber vielleicht kann mir dieser Chronist ein paar Antworten geben, er schien eine Menge zu wissen. Er kann mir bestimmt weiterhelfen.
»Faszinierend«, antwortete er. Er schaute mich interessiert an. Als sei ich irgendeine Kuriosität für ihn.
»Wenn ich so fragen darf …«
»Fragen Sie ruhig! Ich werde versuchen Ihren Wissensdurst zu stillen.«
»Was genau ist mit mir passiert? Ich verstehe nichts. Warum sprang ich plötzlich von einem Ort zum anderen? Können Sie mir das erklären?«
Er schaute mich ernst an. Zumindest glaubte ich das. War schwer zu sagen, wegen der Maske und so.
»Wo fange ich da am besten an? Die Sache ist ein wenig … wie soll ich sagen … kompliziert. Vielleicht sollten Sie erst mal selbst sehen«, die Tasse verwandelte sich plötzlich in einen Silberspiegel. Er hielt ihn mir vor. Ich sah hinein und war verwirrt.
»Ist er kaputt? Das Spiegelglas scheint zerbrochen zu sein.«
»Nein.«
Langsam begann ich zu realisieren. Ich schaute noch einmal genauer hin. Mein Gesicht … es war … zersplittert. Zerbrochen wie ein alter Spiegel. In jeder Scherbe schien ein anderes Ich von mir zu leben. Ich schaute mir meine Hände an, auch sie waren zersplittert. Was hatte das zu bedeuten? Was sollte das? Ich zitterte, meine Finger zuckten wild. Ich sah den Chronisten fragend an.
»Mein werter Herr«, begann er, »Sie erleben gerade das Verschmelzen verschiedener Realitäten miteinander. Das ist nicht unüblich für jemanden, der durch das Multiversum reist. Ihr Ich vereint sich mit den anderen Ichs.«
»Wa… Was hat das zu bedeuten?«, jetzt begann mir wieder der Kopf zu schwirren und zu schmerzen.
»Dazu … muss ich etwas ausholen«, er legte den Spiegel beiseite und machte eine drehende Handbewegung. Plötzlich hielt er eine verzierte Pfeife. Mit der anderen Hand machte er eine ähnliche Bewegung und … schwupps … hatte er ein Feuerzeug. Er zündete den Tabak an und hielt sich die Pfeife an den Schnabel. Er zog mehrmals kräftig und blies Rauch aus dem vorderen Teil der Maske heraus. Danach lehnte er sich völlig entspannt zurück.
»Sie sollten wissen, ihr originales Ich kommt aus dem sogenannten Primum Universum. Da wo alles passiert, was passieren soll. Sie sind durch das Portal gegangen und einmal quer durch den Multikosmos geflogen. Es gibt nämlich nicht nur eine Realität, sondern unglaublich viele. Universen, Dimensionen, Zwischenräume. Dabei ist das Ganze in drei Ebenen unterteilt: das Materia, die Traumebene als Zwischenbarriere und das Immastellarium. Was das Materia ist, muss ich Ihnen wahrscheinlich nicht mehr erklären. Das wissen Sie ja bereits. Auch mit dem Immastellarium sollten Sie nun vertraut sein. Die Traumebene ist … um es kurz zu fassen … ein Ort zwischen Diesseits und Jenseits. Eine Art kollektive Traumwelt. Mit ihren eigenen Bewohnern, Regeln und Gesetzen. Ein faszinierender Ort. Die Brücke zwischen Sterblichen und Göttern«, er zog an seiner Pfeife und blies zwei Rauchringe aus.
»Sie landeten zuerst im Immastellarium, wahrscheinlich weil ihr Portal dahin führte. Der Ort ist eigentlich nicht für Materielle gedacht. Danach einmal quer durch das Materia. Verschiedene Realitäten, wo auch ein Walter Daniel Jester lebte. Mit diesen ganzen anderen Jesters verbanden Sie sich. Um es Ihnen nochmal deutlich zu machen. Stellen Sie sich eine ungeheure Anzahl an Türen vor«, auf einmal erschienen aberdutzende von Türen, die meisten schwebten in der Luft. Ich war umgeben von Türen. Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, ich wäre nicht erstaunt gewesen. Langsam begriff ich auch, worauf der Krähenmann hinaus wollte.
»Und hinter jeder Tür«, fuhr er fort, »befindet sich ein anderes Terra, ein anderer Walter Daniel Jester. Ein Terra, wo das DMT-Imperium niemals die Macht ergreifen konnte. Oder ein anderes, wo ein Leuchtturm mit einer gewaltigen Orgel steht. Oder ein Terra, das durch einen Feuerball ausradiert wurde. Völlig unerheblich wie dieser Planet nun heißt. Ob Terra, Erde, Gaia, Ero, Earth, Blaue Kugel oder P-3. Die Kontinente mögen anders angeordnet sein und die Länder anders heißen, aber das ist vollkommen egal. Es ist immer ein Planet mit Menschen. Sie, und ihr Heimatplanet, sind eine Art Konstante im Multiversum. Und Sie, werter Herr Nickelburn, sind Teil davon. Verstehen Sie, was ich meine? Worauf ich hinaus will?«, die Türen verschwanden wieder.
»Ich … denke ja«, das tat ich wirklich. Ich verstand es, ich war schließlich nicht dumm.
»Und machen Sie sich keine Gedanken bezüglich Ihres Aussehens. Das legt sich wieder, das versichere ich Ihnen. Keine Bange.«
Ich atmete erleichtert aus. Ich glaubte ihm, warum sollte er auch lügen? Er schien sich mit dieser ganzen Sache wirklich hervorragend auszukennen. Ein echter Experte.
»Aber ich sehe … Sie haben noch ein paar Fragen. Schießen Sie los!«, er zog wieder an seiner Pfeife.
Ja, ich hatte definitiv noch Fragen.
»Ich … Ich hatte diese komischen Träume …«
»Visionen …«
»… bevor ich in dieses Portal stieg. Ich hatte Träume vom Ende der Welt. Von einem schwarzen Turm. Eine zertrümmerte Zivilisation. Ein leerer Nachthimmel. Was hat das zu bedeuten? Haben Sie damit zu tun?«
Er zeigte mit seinem behandschuhten Finger auf sich.
»Ich? Ich verbiete mir diese Unterstellung! Ich war zwar schon für so manchen Weltuntergang verantwortlich, doch das, was Sie beschreiben … das ist dann doch eine Nummer zu groß für mich. Das übersteigt meine Kräfte und Fähigkeiten bei Weitem.«
»Wer ist dann dafür verantwortlich? Welches Wesen ist so mächtig?«
Der Chronist sagte nichts, er ließ einfach die Pfeife verschwinden und kramte in seiner Weste herum. Nach einigem Suchen zog er eine Spielkarte hervor. Einen Kreuzkönig. Ich machte ein fragendes Gesicht.
»Er ist dafür verantwortlich. Der Schwarze König. Sie … werden noch mit ihm zu tun haben«, die Karte verschwand wieder im Inneren der Weste.
»Verstehe. Tut mir leid, dass ich Ihnen etwas Übles unterstellt habe. Das wollte ich nicht, ich wollte Sie nicht beleidigen. Das war ganz und gar nicht meine Absicht! Es ist nur so … im Thronsaal sah ich ein komisches Gemälde«, versuchte ich zu erklären.
»Ein Gemälde? Was für eins?«, es schien seine Neugier gepackt zu haben.
»Es war eine Gruppe von Personen zu erkennen. Tiermaskenträger, wie Sie. Eine Schlange, ein Schwein, eine Katze, ein Tiger, eine Hyäne, eine … ich denke, es war eine Beutelratte und eine ausradierte Gestalt. Ich habe vermutet, dass Sie das sein könnten.«
»Ich verstehe. Ja, ich weiß was Sie meinen. Das ist … meine Familie.«
»Sie haben Familie?«
»Natürlich!«
»Haben Sie noch Kontakt mit ihnen?«
Er erhob sich von seinem Stuhl und wandte sich von mir ab. Als er sprach, klang seine Stimme traurig: »Nicht mehr. Wir sind … zerstritten.«
»Warum?«
Er zuckte mit den Schultern: »Streitigkeiten. Meinungsverschiedenheiten. Konträre politische und philosophische Ansichten. Das Übliche halt.«
Das würde das zerstörte Bild erklären.
»Wie lange haben Sie schon nicht mehr miteinander gesprochen?«, ich wollte unbedingt mehr wissen. Hoffentlich beleidigte ich ihn nicht mit meinen endlosen Fragen. Er drehte sein Gesicht zu mir. Ein schwarzes Auge blickte mich an.
»Zeit ist relativ, Walter Daniel Jester. Für mich ist Zeit kein Fluss, der nur in eine Richtung fließt. Ich empfinde es als sehr schwierig, in Zeiteinheiten zu sprechen. Heute, morgen, früher, gestern, Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart … All diese Begriffe spielen für mich keine Rolle. Jahre, Minuten, Monate, Stunden, Sekunden … völlig irrelevant. Ich lebe außerhalb solcher einengenden Worte. Für mich zählen nur die Buchstaben und der Verlauf der Handlung.«
Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich wirklich verstand, was er von mir wollte. Aber ich beließ es fürs Erste dabei.
»Was ist eigentlich meine Rolle in diesen ganzen Spiel?«, das war die wichtigste Frage.
Der Chronist schaute mich direkt an.
»Junger Herr, Sie haben eine gewaltige Rolle. Sie werden ein Diener sein, ein Diener des Schwarzen Königs. Sie werden Großes vollbringen, Resurgentis Carcosa. Wenn Ihre Reise beendet ist, werden Sie ein völlig neuer Mensch sein. Ein mächtiger Mensch. Mächtiger, als Sie es sich im Moment vorstellen können.«
»Steht das fest? Ist das endgültig?«
Er nickte: »Nichts geschieht aus Zufall. Alles folgt einer klaren und zielgerichteten Handlung. Wir alle sind Teil dieser Geschichte, Sklaven der Buchstaben. Wir spielen alle unsere Rolle in diesem kosmischen Theaterstück.«
Ich überlegte kurz.
»Wenn ich diesem König diene, werde ich dann Nick wiedersehen? Werde ich meinen Freund wieder in meine Arme nehmen können?«
»Gut möglich. Ich kann dazu nichts sagen.«
»Hmm.Es könnte eine Chance sein … «
»Fakt ist, die Ankunft des Schwarzen Königs wird alles verändern. Und Sie werden Ihre Rolle spielen. Ob Sie wollen oder nicht. Sie haben da keine Wahl. Niemand hat das.«
»Ich verstehe.«
Ich verstand es wirklich. Ich habe eine Rolle zu übernehmen. Nichts geschieht aus Zufall, wir alle haben ein Schicksal. Und meines schien sehr klar zu sein. Wenn es bedeutete, dass ich wieder mit Nick vereint werde, so sei es. Dann werde ich diese Rolle, welche auch immer es sein mag, spielen. Für Nikolas! Für ihn gehe ich bis ans Ende des Universums. Für ihn opfere ich ganz Terra.
Der Chronist holte seine silberne Taschenuhr hervor und klappte sie auf.
»Es wird langsam Zeit, Herr Carcosa. Sie sollten gehen. Ihre Geschichte ist noch nicht vorbei.«
»Gehen? Wohin?«
»Ans Ende Ihrer Reise, Herr Nickelburn.«
Eine braune Holztür erschien aus dem Nichts. Ich schaute dahinter. Sie war nirgendwo befestigt, dahinter befand sich einfach nur die Bibliothek. Wohin sollte diese Tür schon führen?
»Ich … Ich habe aber noch so viele Fragen«, irgendwie fiel mir der Abschied sehr schwer.
»Es ist die Natur des Lebens, aus Fragen zu bestehen. Wir werden niemals alle beantworten können. Aber in einer anderen Form, zu einer anderen Zeit werden wir uns sicher wiedersehen. Passen Sie auf sich auf, Herr Jester.«
Ich begab mich zur Tür und legte meine Hand auf den Knauf. Ich öffnete sie, blaues Licht strahlte auf meinen Körper.
Zum Schluss sagte der Chronist: »Schon witzig. Ich dachte immer, die Apokalypse kommt auf Pferderücken geritten. Doch das stimmt nicht. Das Ende verbarg sich in den Träumen.«
Ein weiteres Rätsel. Ich ging durch die Tür.
1130
Draußen stürmte es. Heftiger Regen prasselte auf die überschwemmte Erde. Blitze zuckten aus den schwarzen Wolken. Der Wind heulte wie der Tod. Bäume brachen unter seiner Kraft zusammen und wurden umher geschleudert, tödliche Projektile für jeden, der es wagte, ihren Weg zu kreuzen. Ja, es war eine stürmische Nacht. Vielleicht die stürmischste Nacht seit unzähligen Jahren. In dieser Nacht gab es viele Todesopfer. Von Bäumen und Blitzen erschlagen. Herunterfallende Ziegel, die Schädel spalteten. Häuser, die einstürzten und ihre Bewohner begruben. Autos, die von der Straße abkamen. Geflutete Keller, wo die dort Gefangenen sinnlos um Hilfe schrien.
Vielerorts hatte man mit gewaltigen Überschwemmungen zu kämpfen. Sandsack um Sandsack wurde aufgestapelt, doch es half nichts. Die Fluten waren zu stark, der Katastrophenschutz und die freiwilligen Helfer mussten sich zurückziehen, wenn sie nicht mitgerissen werden und jämmerlich ertrinken wollten.
Irgendwo im tiefen, dunklen Wald entlud sich eine elektrische Ladung. Doch sie kam nicht aus dem Himmel, sondern vom Boden. Energie wurde freigesetzt und mit einem Mal stand dort ein Mann. Er fiel auf die Knie, keuchte und hustete. Er kroch zu einer Pfütze, er wollte wissen, wie er aussah. Die Zersplitterungen waren verschwunden, doch dafür schien sein Körper zu wabern. Als würden mehrere schattenhafte Ichs um ihn tanzen. Er schaute sich seine Haare an, sie waren schneeweiß. Seine Augen hatten sich verändert, seine Iris war siebengeteilt. Sieben verschiedene Farben leuchteten dort. Es waren die gleichen Farben wie bei den Kugeln am Portal. Das konnte kein Zufall sein.
Er stand auf, er schnaufte noch immer. Seine Hände bewegten sich wie in Trance. Faszinierend, er fand es faszinierend. Er schaute in den Himmel, genau in diesem Moment zuckte ein ungeheuerlicher Blitz. Für einen kurzen Moment war die gesamte Welt hell erleuchtet und er sah eine letzte Vision von der Zukunft.
Er stand einsam auf einer hohen Klippe. Unter ihm breitete sich eine apokalyptische Landschaft aus. Blutrote Meere. Riesige Leichenberge türmten sich auf dem grauen Boden. Wie viele Humanoide waren das wohl? Tausende? Millionen? Milliarden? Unzähliges Leben wurde hier vernichtet. Nicht einmal die Leichenhaufen in den Lagern konnten mit diesem Anblick mithalten. Zwischen den Bergen gab es noch andere Leichen, sie waren keine Humanoiden. Es waren große Haufen von verwesendem weißen Fleisch, das mit schwarzen Adern übersät war. Er wusste, was sie waren.
Götter. Tote Götter. Nicht einmal diese mächtigen Wesen konnten dem Tod entrinnen. Für sie gab es keinen Platz mehr in dieser neuen Welt. Sie waren nur Störenfriede und Konkurrenten für den neuen Gott. Den nun einzigen Gott.
In der Mitte dieser grässlichen Szenerie erhob sich der schwarze Turm aus Obsidian. Über der Spitze schwebte der zersplitterte Mond. Der Himmel war sternlos. Die Vision verblasste und der Wald kam wieder zum Vorschein. Der Mann atmete aus.
»Ja. Ich verstehe, was du von mir willst«, flüsterte er. Seine Stimme war im Donnergrollen kaum zu vernehmen.
»Ich weiß, was du von mir verlangst. Ich weiß, was getan werden muss. Nichts geschieht aus Zufall, alles folgt einem Plan. Und nichts kann diesen Plan ändern.«
Er marschierte los. Es durfte keine Zeit mehr verloren gehen. Es gab schließlich eine Menge Arbeit zu tun.
»Ich bin nicht mehr Walter Daniel Jester.«
Es blitze und der Donner folgte.
»Ich bin nicht mehr Julius Nickelburn.«
Ein weiterer Blitz. Ein weiteres Donnergrollen.
»Ich bin …«
»… Resurgentis Carcosa.«