Ein ganz mieser Tag

Ein Riese aus Stahl, Beton, Glas und Plastik wuchs aus dem Boden, ein Wolkenkratzer wie jeder andere, ein weiteres seelenloses, charakterloses, postmodernes Gebäude, das sich nahtlos in das Stadtbild eingliederte, eine weitere Zelle im amöbenhaften Körper der Mega-City. Das Architektenteam, denn es gab nicht mehr nur den einen Architekten, hatte wahrscheinlich kollektiv seinen Fetisch für Fenster entdeckt, denn wenn es eins gab, woran dieses Gebäude nicht mangelte, dann waren es großflächige Fenster. Der Wolkenkratzer war auch nicht wie seine Vorfahren aus dem Fernen zwanzigsten Jahrhundert geformt, ein rechteckiger Turm, sondern war eher rund, wie ein Zäpfchen oder ein Dildo, der den Himmel penetriert.
Das Innerste entsprach den neuesten, modernen Richtlinien der Technologie und ließ das Herz eines jeden unbezahlten Praktikanten höherschlagen. Statt der langweiligen, abgeschlossenen Büroräume und Kaffeemaschinen aus den Achtzigern des letzten Jahrhunderts gab es Sitzsäcke, eine Gourmetküche mit veganen und vegetarischen Gerichten, Sojalatte-Macchiatos, eine komplette Etage ausgestattet mit den neuesten Unterhaltungsmedien, die aktuellsten Serien, Filme und Spiele immer abrufbar (und das völlig kostenlos!), ein firmen-internes Gym, ein Massagesaal, eine Sporthalle, ein Katzen- und Hunde-Café. Alles war perfekt auf den individuellen Mitarbeiter zugeschnitten.
Doch InfluencInc, das ist nebenbei bemerkt eines der größten Social-Media-Marketing-Unterhaltungs-Internet-New-Technology-Unternehmen (abgekürzt als SMMUINT) auf dem globalen Markt, bot so viel mehr. Urlaub in ferne Orte, ermöglicht durch die neusten Virtual-Reality-Brillen. Eigene Schlafräume, damit Mitarbeiter auch nachts hier arbeiten konnten und nicht den weiten Weg nach Hause nehmen mussten. Was gab es schließlich, was dort auf sie wartete? InfluencInc stellte natürlich nur Singles ein. Des Weiteren bot das Unternehmen die besten Sicherheitsvorkehrungen, sexuelle Belästigung, Betrug und wirtschaftliche Spionage gehörten der Vergangenheit an, dank eines Heers aus unzähligen Überwachungskameras und -mikrofonen, die beinahe jeden Quadratmillimeter des Wolkenkratzers bedeckten. Jeder Verstoß gegen Corporate Guidelines wurde sofort an Human Ressources übermittelt, Konsequenzen folgten in der Regel sogleich.
Einer der vielen Mitarbeiter von InfluencInc war Thomas, sechsundzwanzig Jahre alt, einhundertfünfundsiebzig Zentimeter groß, siebzig Kilo schwer, Blutgruppe AB, Single, männlich-Cisgender, heterosexuell, weiß (also ein Auslaufmodell), atheistisch (so wie so ziemlich jeder), ernährte sich bewusst vegan, betrieb ausgiebig Sport (obwohl er mal wieder zur regulären medizischen Untersuchung beim Unternehmensarzt erscheinen sollte), wählte selbstverständlich die Parteien, die für Demokratie, Gleichheit, Freiheit und Menschenrechte einstanden, besaß mehrere Social-Media-Apps und hatte vor einem Jahr sein Studium der Kommunikationswissenschaften erfolgreich abgeschlossen.
Er arbeitete im zweiundzwanzigsten Stockwerk und war verantwortlich für die KI-Generierung von Memes, was in der Praxis bedeutete, dass er den ganzen Tag Social-Media-Feeds durchforstete, Trends und Hypes analysierte, ein paar Schlüsselbegriffe in den Generator eintippte und schließlich das generierte Bild noch ein wenig aufhübschte. Am Ende wurde es in den endlosen Äther des World Wide Webs geschickt, wo es sich (hoffentlich) wie ein Virus verbreitete und die Gedanken der User infizierte. Das Geschäftsmodell von InfluencInc bestand übrigens darin, verschiedene Aufträge von anderen Unternehmen oder der Regierung anzunehmen.
Momentan hatte Thomas ein Auge auf Julia geworfen, eine Kollegin mit blonden, langen Haaren und blauen Augen im selben Alter. Sie arbeitete bereits seit zwei Jahren für die Firma und hatte vorher Betriebswirtschaftslehre studiert. In diesem Augenblick saß sie auf einem lila Sitzsack, sie trug schwarz-glänzende Lederstiefel (Thomas hatte mal gelesen, dass sie von einem deutschen Wehrmachtsarzt erfunden worden waren, was der Tatsache, dass sie heutzutage häufig mit Punks und Linken assoziiert werden, eine gewisse ironische Note gab), blaue Jeans und ein weites, weißes T-Shirt. Die langen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Auf ihrem Kopf saß eine VR-Brille, das neueste Modell, ihre Hände wedelten und wischten in der Luft. Ihr Job war es, die vielen Influencer, die sich ein paar Stockwerke tiefer befanden und den ganzen Tag damit beschäftigt waren, das Netz mit kurzweiligen Werbevideos zu überfluten, zu koordinieren. Das sollte natürlich nicht heißen, dass Julia in der Rangordnung höher als Thomas stand. Bei InfluencInc gab es keine strikte Hierarchie, das Unternehmen war sehr stolz darauf, ein ›flaches, hierarchieloses, egalitäres, diverses Arbeitsumfeld, wo alle Mitarbeitenden gleichwertig sind‹, zu bieten.
Thomas näherte sich ihr langsam, er hatte sich seinen Plan genauestens überlegt.
»Hey, Jul. Wie geht`s?«, fragte er locker.
»Gut. Und dir?« Sie wedelte weiter in der Luft herum, würdigte ihn nicht mal eines Blickes.
»Ach, auch ganz gut. Hey, ich hab vorhin diesen ultralustigen Witz gelesen und dachte mir, den muss ich mit dir teilen.«
»Hat die Maschine den ausgespuckt?«
»Nein, nein. Der ist echt. Zu hundert Prozent.«
»Na, dann schieß mal los«, seufzte sie gelangweilt.
»Okay, mach dich bereit … Wie nennt man einen Afrikaner, der mit dem Zug fährt?«
»Keine Ahnung … Fahrgast? So wie man jeden anderen Menschen auch nennen würde.«
»Halt dich fest … ein Schwarzfahrer.« Thomas lachte laut auf. Er beobachtete Julia, wartete ihre Reaktion ab, aber sie lachte nicht, sie lächelte nicht einmal, im Gegenteil, ihre Mundwinkel gingen steil nach unten und auf der Stirn bildeten sich Falten der Verärgerung. Sie schaute ihren Kollegen an, sie nahm die Brille nicht ab, aber sie schaute ihn trotzdem an. Das Lachen verstarb sofort.
»Thomas … Das war ein geschmackloser Witz, der einen negativen Stereotyp über People of Color, nämlich das diese ›schwarzfahren‹ und somit grundlegend kriminell sind, darstellt. Das offenbart ein rassistisch-biologisches Denken, was ein typisches Symptom von toxischer Maskulinität und westlich-weißen Kolonialchauvinismus ist. Du solltest echt mal über dein Verhalten nachdenken, statt auf marginalisierte Gruppen einzuschlagen. Wir haben 2063, solch ein Rassismus sollte der Vergangenheit angehören. Aber du als weißer, heteronormativer Cis-Mann verstehst das wahrscheinlich nicht.«
Thomas wusste nicht, was er erwidern sollte. Sein Mund stand sperrangelweit offen.
»Tut … Tut mir leid«, stammelte er und zog sich beschämt zurück. Julia widmete sich wieder ihrer Arbeit.
»Scheißnazi«, flüsterte sie noch, ein schöner Arschtritt zum Schluss.
Thomas kehrte wie ein geschlagener Hund zu seinem Arbeitsplatz zurück (eigentlich gab es nicht ›seinen Arbeitsplatz‹, er suchte sich einfach nur einen freien Sitzsack) und versuchte sich auf die Arbeit zu konzentrieren, was schwieriger gesagt war, als getan. Es hieß immer: »Was soll schon groß passieren? Das Schlimmste, was sie sagen kann, ist ›Nein‹.« Ein gewaltiger Irrtum, es ging immer schlimmer.
Um sechzehn Uhr war dann Feierabend, wer wollte, durfte auch länger bleiben, aber Thomas fehlte die Motivation dafür. Er begab sich zu seinem selbstfahrenden EDISON-M6, ein unglaublich teures Modell, aber dafür mit der modernsten Technik ausgestattet. Er setzte sich hinein und drückte auf den START-Knopf, als plötzlich eine Fehlermeldung auf dem Bildschirm erschien: »Zugriff verweigert. Fahrzeug kann nicht gestartet werden.«
Thomas runzelte die Stirn und versuchte es wieder. Dieselbe Fehlermeldung ploppte erneut auf (»Zugriff verweigert. Fahrzeug kann nicht gestartet werden.«).
Er seufzte, er hatte jetzt absolut keine Lust, sich mit dem Kundenservice herumschlagen zu müssen, das konnte mitunter Stunden dauern. Wahrscheinlich handelte es sich um irgendeinen Softwarebug. Er entschied sich auszusteigen und stattdessen den Öffentlichen Nahverkehr zu nutzen. Die Bushaltestelle war wenigstens nicht weit entfernt.
Auf den Straßen war viel los, Leute fuhren mit ihren Elektrofahrrädern, Passanten, eingetaucht in ihrer eigenen digitalen Welt, strömten an Thomas vorbei. Die Wände der Shoppingläden und andere Dienstleistungsgebäude waren vollgekleistert mit Werbung. Von jeder Seite wurde man mit Rabatten, Aktionen, Spendenaufrufen, Trailern von den neuesten Hollywood-Blockbustern, Neuigkeiten, Kurzvideos von Influencern (manche waren sogar von InfluencInc, Thomas erkannte die Gesichter) und dergleichen bombardiert. Niemand konnte sich der Reizüberflutung durch Bilder und Geräuschen entziehen.
In der Menge von Pixeln erspähte Thomas das Gesicht des Kanzlers, der gerade eine seiner vielen Reden hielt. Es ging um den stetig eskalierenden Krieg im Norden, weshalb der Kanzler heute beschloss, in enger Kooperation mit den transatlantischen Verbündeten, neue Waffen in Form von automatischen Drohnen (die gar keine Piloten mehr benötigten) ausgestattet mit Brand- und Streumunition in das Kriegsgebiet zu schicken, unter dem Slogan #WaffenFürDenFrieden. Der Kanzler appellierte an die Bevölkerung, stark zu sein und die Strapazen zu ertragen, damit die freien und demokratischen Nationen weiterhin frei und demokratisch bleiben. Danach kam ein Werbespot des Industriegiganten ›Saalestahl‹, der die Kampfdrohnen in Aktion zeigte.
Thomas hatte die Bushaltestelle erreicht, bevor er aber in einen der vielen selbstfahrenden Busse einsteigen konnte, musste er sich am Automaten ein Ticket kaufen. Er wollte ja kein ›Schwarzfahrer‹ sein, dachte er und griente. Abgesehen davon, dass sich die Türen ohne gültige Fahrkarte eh nicht öffneten.
Er steckte seinen ePass hinein, denn jeder Bürger bekam ein Konto, von dem man Dinge wie Bus- oder Zugfahrten bezahlen konnte. Das ging auf die Initiative eines Verkehrsministers aus eine der Vorgängerregierungen zurück, der damit die Mobilität im Land reformieren wollte, um so die gefährlichen Einflüsse des Individualverkehrs auf das Klima zu mildern. Er vergaß dabei, dass man dann auch das Schienennetzwerk verbessern und die Anzahl der Busse und Züge erhöhen musste, wenn man wollte, dass die Leute die Angebote auch nutzen. Nach der gesetzlich festgeschriebenen Einführung von Elektromotoren für Personalkraftwagen, für das Gesetz hatte sich besonders EDISON stark gemacht, war die Reform sowieso wieder Geschichte.
Das spielte jetzt aber alles keine Rolle, denn statt einer Fahrkarte spuckte der Automat nur eine Fehlermeldung aus: »Personalausweis nicht gültig. Kein Zugriff auf das Konto. Bitte einen gültigen Personalausweis einführen.«
»Was ist denn heute los?«, fragte sich Thomas. Er zog seinen Ausweis raus und steckte ihn erneut rein, wieder die Fehlermeldung. Er drehte das Stück Plastik um und versuchte es erneut, doch leider kein Ergebnis und damit keine Fahrkarte.
»Scheißtechnik. Nichts funktioniert heute«, fluchte er und trat gegen den Automaten, der sofort ein schrilles Alarmgeräusch von sich gab.
»Warnung! Versuchte Beschädigung von Staatseigentum! Warnung! Bei erneuter rechtswidriger Handlung werden die örtlichen Sicherheitsdienste und/oder Polizeikräfte alarmiert! Warnung«, sprach eine weibliche Maschinenstimme. Thomas ergriff sofort die Flucht.
Na gut, dann hieß es wohl die sechs Kilometer laufen. Zu allem Überfluss fing es dann auch noch an zu regnen und natürlich hatte Thomas seinen Regenschirm heute nicht dabei.
Nach einer Stunde stand er völlig durchnässt vor seinem Wohnblock. Entkräftet holte er seinen Personalausweis hervor und legte ihn auf den Kartenscanner. Er wollte diesen miesen Tag jetzt endlich hinter sich lassen. Ab diesem Punkt war einem bestimmt schon klar, was jetzt kam: eine Fehlermeldung. Der Zugriff zu seiner Wohnung wurde ihm verwehrt.
»Kann dieser Tag noch schlimmer werden?«, rief er laut gen Himmel.
Sofort vibrierte sein Smartphone, natürlich auch das neueste Modell. Er holte es hervor und las die Mitteilung: »Liebe:r Kund:in, mit sofortiger Wirkung wird Ihr Konto bei uns aufgelöst. Es sind ab diesem Zeitpunkt keine Transaktionen mehr möglich. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an unseren technischen Service. Vielen Dank und einen schönen Tag noch!«
Thomas war den Tränen nah, als plötzlich seine Sicht sich deutlich verschlechterte. Ein Pop-up erschien in seinem Blickfeld: »Aufgrund einer fehlenden gültigen Bankkontoverbindung sahen wir uns gezwungen, Ihr Premium-Abonnement für unsere augmentierten Augen (Modell Eye7) zu kündigen. Bitte fügen Sie eine gültige Bankkontoverbindung hinzu, um weiterhin unser Produkt nutzen zu können. Danke!«

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