Matthew Matters

Wenn es ein Wort gab, das Matthew perfekt beschrieb, dann war es: simpel. Oder auch schlicht, einfach, bescheiden, durchschnittlich.
Es gab an seinem Äußeren nichts markantes, nichts, was ihn aus der Menge hervorstechen ließ. Er hatte platt gedrückte, fast schon gebügelt wirkende, kurze, braune Haare. Seine Kopfform befand sich in der perfekten Schnittstelle zwischen rund und schlank. Seine Nase war nicht wirklich groß und auch nicht wirklich klein, eher mittel. Seine Augen hatten die Farbe einer Pfütze, die nach einem Sommerschauer übriggeblieben war.
Matthew war genau ein Meter und fünfundsiebzig Zentimeter groß, damit hatte er die perfekte Durchschnittsgröße eines weißen, europäischen Mannes. Er war weder fett noch magersüchtig, sein BMI-Wert war … wahrscheinlich errät es schon der eine oder andere Leser bereits … durchschnittlich.
In seiner Freizeit beschäftigte er sich mit seiner Briefmarkensammlung, traf sich mit seinen Nachbarn zum gemeinschaftlichen Grillen, aß das organisch gezüchtete Fleisch und das genetisch verbesserte Obst und Gemüse, schaute in seiner Freizeit gerne seichte romantische Komödien, schaltete die Staatsnachrichten pünktlich um zwanzig Uhr ein und las nur Bücher, die auf der Bestsellerliste standen, die von der ›Kommission für tadellose Unterhaltungskultur‹ herausgegeben wurde.
Wie alle lieben Bürger, beteiligte sich auch Matthew am demokratischen Prozess und ging fleißig am Wahltag, die Partei wählen, die auch alle anderen guten Menschen wählten. War er sich einmal nicht sicher, so erinnerte er sich an den Merksatz: »Wer die anderen Parteien wählt, ist ein schlechter Mensch.« Und warum sollte er auch eine andere Partei wählen, wenn doch die Partei, die von allen anderen gewählt wurde, so einen guten Job machte?
Matthews Arbeitsplatz war auch nicht unbedingt etwas Außergewöhnliches, er arbeitete von sieben bis achtzehn Uhr, von Montag bis Samstag bei der Black Crown Corporation, dem größten Arbeitgeber des Kontinents. Die BCC war ein gewaltiger, global agierender Megakonzern, dessen innere Mechanismen Matthew nie vollends verstand. Aber das war nicht schlimm, kaum einer überblickte das große Ganze dieses riesigen Unternehmens. Niemand wusste, was der Konzern eigentlich herstellte, was sein Zweck oder seine Agenda war, aber die Gehälter wurden immer pünktlich zum ersten Tag des Monats auf das Bankkonto der Mitarbeiter überwiesen, deswegen beschwerte sich auch niemand. Und wie hieß es doch so schön? Curiosity killed the cat.
Matthew arbeitete auf der ersten Etage des Hauptgebäudes der BCC. Es war nicht die unterste Etage, nur Gott allein wusste wahrscheinlich, wie tief der Keller eigentlich war. Matthew war auch sehr zufrieden mit seiner Stelle, er konnte sich nicht beschweren. Sein Gehalt war ordentlich und es kam pünktlich. Was wollte man mehr?
Zu seinen Aufgaben gehörten das Kopieren von Dokumenten, das Abheften dieser Dokumente, das Wegstellen dieser abgehefteten Dokumente in einen nie enden wollenden Irrgarten aus Archivschränken und das Kochen von Kaffee.
Das Leben war einfach, das Leben war gut. Doch manchmal dachte Matthew an die höheren Etagen des Konzerns. Was spielte sich dort wohl ab? Was passierte dort? Wie sahen sie aus? Er hatte keine Chance, diese brennenden Fragen zu beantworten, denn der Zugang zu den höheren Etagen war ihm versagt. Nur mit einem speziellen Ausweis oder einer Erlaubnis durfte man diese mystischen Orte betreten.
Eines Tages erhielt Matthew, der gerade an seinen Schreibtisch saß und Dokumente abheftete, auf denen ›STRENG GEHEIM‹ stand, eine Nachricht. Er, und nur er, sollte ein wichtiges Papier zur Chefetage bringen. Matthew konnte es kaum glauben. Er kniff sich in den Arm, um zu vergewissern, dass er sich nicht in einem Traum befand. Seit seinem ersten Arbeitstag schwärmte er schon von den höheren Etagen, und nun hatte er die Gelegenheit dazu, nicht nur ein Blick in die höheren Etagen zu werfen, nein, er durfte sogar direkt in die höchste, in die Chefetage.
Er nahm den Hefter, worin sich das unglaublich wichtige Papier befand, an sich und marschierte grinsend zum Fahrstuhl. Der Wachmann ließ ihn passieren, die schweren Metalltüren öffneten sich und er ging freudestrahlend hinein.
Sein Körper zitterte vor Aufregung, die Spannung war für ihn kaum noch auszuhalten. Mit festem Blick starrte er auf die Anzeige des Fahrstuhls. Langsam wurde die Zahl höher und höher und höher.
Nach einer gefühlten (vielleicht auch realen?) Stunde war er in der obersten Etage angekommen. Matthew schwitzte am gesamten Körper, er hielt den Hefter fest umklammert. Er war aufgeregt. Er richtete seine schwarze Krawatte und steckte sich das weiße Hemd ordentlich in die graue Hose.
Endlich öffneten sich die Türen, gleißendes Licht durchflutete die kleine Kabine. Matthew betrat zuerst einen gewaltigen Vorraum, der, so fand er, sehr exotisch ausgestattet war. Überall standen Vitrinen mit kostbaren Relikten. Statuen, die seltsame Wesen, Chimären aus furchtbaren Alpträumen darstellten. Goldene Masken und Waffen aus Elfenbein. Skelette von unbeschreiblichen, fantastischen Kreaturen. Matthew konnte sich gar nicht sattsehen, doch er rief sich seinen wichtigen Auftrag ins Gedächtnis.
Er öffnete die schweren, schwarzen Eichenholztüren und betrat einen weiteren Raum, der komplett von Fensterglas umgeben war. Matthew konnte nichts erkennen, denn draußen herrschte die Dunkelheit. Nur vereinzelt ließen sich Sterne blicken.
Am anderen Ende stand sein Chef und schaute hinaus. Er trug einen maßgeschneiderten, gelben Anzug, wahrscheinlich unvorstellbar teuer. Er stützte sich auf einen elfenbeinfarbenen Gehstock ab. Über ihn hing das Logo des Konzerns, eine stilistische schwarze Krone, die über einen zweidimensionalen Globus schwebte.
Matthew trat an seinen Chef heran, der wahrlich eine imposante Gestalt war. Er überragte ihn deutlich um mehrere Köpfe. Da der Konzernführer ihn den Rücken zuwandte, konnte er dessen Gesicht nicht erkennen. Genaugenommen sah er aufgrund der Dunkelheit nicht einmal den Kopf seines Chefes.
»Ah. Ich habe Sie bereits erwartet«, bebte plötzlich eine tiefe Stimme durch den Raum. Matthew erschrak sich ein wenig und trat einen Schritt zurück. »Sagen Sie mir, Matthew, und seien Sie ehrlich, träumen Sie von höheren Zielen?«
Matthew schluckte, er hatte nicht mit dieser Frage gerechnet. Deshalb antwortete er einfach geradeaus und ohne groß nachzudenken: »Ja, Sir.«
Sein Chef gab ein tiefes, kehliges Lachen von sich. »Die Sterne stehen günstig.«
Matthew wusste nicht so wirklich, was er daraus machen sollte, er legte den Hefter auf den großen Schreibtisch ab (sein Blick fiel noch auf ein seltsames, braunes Buch), verabschiedete sich höflich und ging sehr schnell wieder zum Fahrstuhl zurück.
Am nächsten Morgen fand er eine Notiz, die irgendjemand auf seinen Schreibtisch abgelegt hatte, darauf stand:

»Der Angestellte Matthew ist es würdig, erblickt zu werden. Eine baldige Beförderung halte ich wegen seines ergiebigen Engagements für mehr als nur angemessen.«

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